36

»Wie schön, dass Sie mich noch einmal besuchen. Wieder gemeinsam frühstücken?« Ich mochte den Kommissar, er hatte es im Laufe der letzten Tage geschafft, mein Herz zu erobern – soweit das bei mir möglich war. Ich saß vor der dritten Tasse Kaffee und stand nicht auf, sondern beschränkte mich auf ein Lächeln. »Setzen Sie sich doch. Gibt es etwas Neues?«

Er blieb einen Moment, für meinen Geschmack zu lange, stehen und betrachtete mich. Sein Blick blieb an meinem Fuß hängen, dem rechten. »Das fällt gar nicht auf, wenn Sie Turnschuhe tragen.«

»Das ist Absicht. Aber Pumps oder andere hochhackige Schuhe gehen nicht. Dafür bin ich eh nicht der Typ.«

Er setzte sich. Ich lehnte mich zurück, um mehr Abstand zu schaffen. Was wusste er? Staufenberg winkte der Kellnerin und bestellte sich einen Tee. Kamille.

»Sind Sie krank? Ist es wegen der Tabletten, die Sie ständig schlucken?«

»Nichts Ernstes, nur etwas Schonung. Zur Vorbereitung, damit ich meinen Ruhestand in ein paar Tagen auch genießen kann. Ich muss mich ja nicht absichtlich schwächen. Woher kommt die Behinderung?«

»Sie meinen den Klumpfuß? Sie können ihn ruhig so nennen. Bei Mädchen ist es relativ selten, Jungs kommen häufiger mit dieser Fehlstellung zur Welt. Warum, weiß keiner so genau, aber es gibt einige Vermutungen. Eine ungünstige Lage in der Gebärmutter ist eine davon.«

Ich biss in meine Brötchenhälfte, die dick mit Erdbeermarmelade bestrichen war. Dabei tropfte ein Klecks auf den Teller. Ein roter Fleck auf weißem Grund. Der Kommissar stierte fasziniert darauf.

»Ich glaube, ich weiß, wer für Sauers Tod verantwortlich ist. Aber es wird schwierig zu beweisen sein. Eigentlich kann ich nur auf ein Geständnis hoffen.«

Ich leckte die über den Rand quellende Marmelade mit der Zunge rund um das Brötchen ab, bevor ich erneut hineinbiss. Ich ließ mir Zeit. Offenbar erwartete der Kommissar keine Antwort von mir. Und mit vollem Mund spricht man ohnehin nicht.

»Es scheint so, als ob der Kollege von Dr. Sauer, dieser Hille, früher die Sportler mit Anabolika und Amphetaminen gedopt hat. Ob ohne oder mit ihrem Wissen, kann heute nicht mehr ermittelt werden. In Zeiten der DDR gab es für Doping aber sogar einen Staatsauftrag. Das hatte natürlich mit der Wende ein Ende.« Er lächelte. »Das reimt sich sogar.«

Ich beschäftigte mich immer noch akribisch mit meinem Brötchen. Der Kommissar sprach weiter, während er in kleinen Schlucken seinen Kamillentee trank.

»Wir haben herausgefunden, dass das Mädchen, das sich vom Völkerschlachtdenkmal gestürzt hat, ein Schützling von ihm war. Elke Schönherr. Sie haben ihre Freundin kennengelernt, nicht wahr? Sie hatte schwere gesundheitliche Beschwerden, bis hin zu Depressionen. Letztendlich waren die für ihren Selbstmord verantwortlich.«

»Es ist tragisch, wofür die Kinder missbraucht wurden. Unglaublich, dass es dafür sogar einen Auftrag von ganz oben gab«, erwiderte ich.

»Na ja, sportliche Erfolge waren das Aushängeschild für den Sozialismus. Schlimm sind die Folgen dieses Hormon- und Medikamentenmissbrauchs. Und die Spätfolgen für nachkommende Generationen sind noch gar nicht abzusehen. Man nimmt an, dass Doping für eine Reihe von Geburtsfehlern verantwortlich ist.«

»Aha. Sie möchten mir damit durch die Blume mitteilen, dass meine Mutter gedopt war und ich deshalb mit Klumpfuß zur Welt kam?«

»Es ist eine mögliche Erklärung. Ich weiß nicht, ob der alte Herr Brand tatsächlich die Geschichte Ihrer Mutter erzählt hat, aber es hat sich vermutlich so ähnlich abgespielt. Sie ist in das Heim Sonnenblick gekommen, wo ihr sportliches Talent entdeckt wurde. Ihr Vater war ihr Trainer. Sie war gut, aber nicht gut genug für die ganz großen Medaillen. Meiner Meinung nach hat sie es vorgezogen, in den Westen zu flüchten, statt abserviert zu werden. Aber wir haben keine Hinweise auf Herrn Sauer oder Ihren Vater gefunden. Wir wissen nicht, wer er ist. Es tut mir sehr leid, das müssen Sie mir glauben.«

Ich schluckte einen großen Bissen hinunter, bevor ich antwortete. »Spricht etwas dagegen, wenn ich nach Hause fahre?« Dann fluchte ich. Ich hatte mir auf die Lippe gebissen.

»Nein, überhaupt nicht. Sie bluten am Mund. Darf ich?«

Er tupfte vorsichtig mit der Serviette an meiner Lippe herum. Er kam mir sehr nah. Ich mochte seinen Geruch.

»Hat es Ihnen bei uns denn gefallen?«, fragte er.

»Sehr. Ich habe viele nette Menschen kennengelernt. Und Tanja kommt mich demnächst am Niederrhein besuchen. Wir verstehen uns gut. Es war ein schöner Trip.« Ich nahm die Serviette, wischte mir den Mund ab und erhob mich. »Vielleicht sehen wir uns auch noch mal? Würde mich sehr freuen.«

»Wissen Sie schon, wann Sie fahren wollen?«

»Ich habe für den 25. April ein Ticket gebucht. Morgens, ganz früh.«

»Vielleicht steh ich am Bahnhof und winke Ihnen zu«, sagte er lächelnd.

Als ich mich noch einmal umschaute, bemerkte ich, dass die Serviette auf dem Tisch fehlte.