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Staufenberg rief seinen Kollegen von der Rechtsmedizin an. Er verzichtete auf jegliche Höflichkeitsfloskeln und überfiel ihn direkt. »Karl, du bist mir einen Gefallen schuldig, den musst du einlösen. Sofort.«
»Hallo Lorenz, schön von dir zu hören, nett mit dir zu plaudern«, seufzte Karl am anderen Ende der Leitung. »Natürlich weiß ich, dass du noch etwas bei mir guthast. Was kann ich für dich tun?«
»Entschuldige, ich hab keine Zeit, ich brauche ganz schnell einen DNS-Abgleich. Blut auf einer Serviette. Ich muss wissen, ob der tote Sauer, der vor ein paar Tagen bei euch eingegangen ist, der Vater dieser Person ist. Am besten sofort, spätestens morgen. Schaffst du das?«
»Schwierig. Keine neunzig Prozent, das muss dir klar sein. Ist es denn keine offizielle Ermittlung? Ach, sag nichts. So genau will ich es gar nicht wissen. Ich halt mich ran. Bringst du die Probe vorbei? Dann mach ich mich direkt an die Arbeit.«
»Ich schick dir einen Boten. Hab keine Zeit, selbst vorbeizukommen. Und danke.«
Staufenberg packte die Serviette in eine Plastiktüte, rief einen Kollegen und bat ihn, das Paket schnellstmöglich in die Rechtsmedizin zu Karl Breuer zu bringen.
Camilla und Tom kamen ins Zimmer und schauten dem hinauseilenden Kollegen neugierig hinterher. Doch es blieb bei ihrem fragenden Blick. Die beiden kannten den Chef genug, um zu wissen, dass auf eine Frage nicht unbedingt eine Antwort folgte, wenn Staufenberg nicht wollte. Und er hatte beschlossen, sein Wissen für sich zu behalten. Erst einmal.
Er sah Camilla und Tom nacheinander ernst an und begann laut zu denken. »Gibt es einen Todesengel? Was meint ihr?« Er sah neugierig in die Runde. Niemand antwortete. »Es ist noch immer nicht bewiesen, aber ich behaupte einfach mal, Brand ist ermordet worden. Vielleicht mit einer Spritze mit einem blutdrucksenkenden Mittel. Die vermutlichen Opfer waren sehr krank und hatten keine Familie. Außerdem sind sie nach ihrem Tod allesamt verbrannt worden, sodass eine nachträgliche Exhumierung und Untersuchung der Leichname nicht mehr möglich ist. Sauer fällt ganz klar aus diesem Rahmen. Zufall? Absicht? Oder es ging dem Todesengel die ganze Zeit um Sauers Tod, und alle anderen Todesfälle sind um diesen einen herum arrangiert worden? Warum aber wurde er dann mit einem Kissen ermordet? Wir haben den Pflegern, Schwestern und Ärzte auf den Zahn gefühlt. Keiner kommt in Frage. Sie haben alle ein Alibi und sind definitiv nicht verdächtig. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sie alle unter einer Decke stecken und es im Kollektiv geplant haben. Aber ehrlich gesagt halte ich das für völlig an den Haaren herbeigezogen.«
Camilla und Tom blickten ihn an und nickten zustimmend. Camilla rührte in ihrer Kaffeetasse und starrte die sich im Kreis drehende Flüssigkeit an, während sie sprach. »Niemand in Sauers direktem Umfeld kommt als Täter in Betracht. Die ominösen Anrufe galten seinem Kollegen Hille und hatten nichts mit Sauer zu tun. Er lässt das übrigens auf sich beruhen und wird keine juristischen Schritte gegen die junge Frau einleiten. Gab sich ganz großzügig. Ansonsten hat er die Dopingvorwürfe nicht abgestritten. Was den Todesengel angeht, tippe ich auf den großen Unbekannten. Da hat jemand beschlossen, kranke Menschen von ihren Qualen zu erlösen. Sauer ist zufällig dazwischengeraten. Ein anderer Mörder. So weit meine Theorie. Bleibt nur die Frage, wer dieser zweite Mörder ist.« Gedankenverloren rührte sie weiter in ihrem Becher.
Tom dachte laut nach. »Es muss jemand sein, der, ohne Verdacht zu erregen, auf die Station kommen kann. Ein Fremder, der nicht auffällt. Wen haben wir vergessen?«
Staufenberg schaute auf Camillas Tasse. Das gleichtönige Geräusch erinnerte ihn an etwas. Doch er konnte es nicht greifen.
»Es ist auffallend, dass die verdächtigen Todesfälle nur auf der Station von Dr. Müller passiert sind«, gab Tom zu bedenken.
»Na ja, soweit wir wissen«, sagte Camilla. »Du kennst doch auch die geschätzten Zahlen der Tötungen in Krankenhäusern. Man kann ja nicht alle unter Generalverdacht stellen. Und jeden Todesfall zu untersuchen, geht ja nicht.«
»Camilla, woher hast du die Tasse?«, fragte Staufenberg plötzlich.
»Das ist ein Werbegeschenk. Diese Reinigungsfirma, Mc Wischnat. Blöder Name. Das sind die, die in unseren Büros putzen. Da hat einer die mal verteilt. Wieso?«
In Staufenberg arbeitete es. Gebäudereinigung. Mitarbeiter, die jeder sieht, die aber trotzdem unsichtbar blieben. Unauffällig in Kitteln.
»Frag doch mal bitte bei der Firma nach, ob eine Miriam Schönherr dort arbeitet, wenn ja, seit wann und was sie vorher gemacht hat. Und frag nach, ob das St.-Barbara-Krankenhaus Kunde bei der Reinigungsfirma ist.«
»Miriam Schönherr? Wer ist das? Wie kommst du auf diesen Namen?«, fragte Camilla verblüfft und stoppte das Rühren.
»Die Kaffeetasse«, erwiderte Staufenberg und erhob sich.
Camilla setzte sich an ihren Schreibtisch und ergriff den Telefonhörer, hielt dann jedoch einen Moment inne. »Schönherr, das ist doch der Name von der jungen Frau, die sich das Leben genommen hat, oder? Wie hängt das denn zusammen?«
Staufenberg sagte nichts, sondern wedelte nur mit den Armen als Zeichen, dass sie sich beeilen sollte. Als Camilla ein paar Minuten später das Telefonat beendete, blickte sie ihre Kollegen erstaunt an.
»Manchmal bist du mir unheimlich, Staufenberg. Miriam Schönherr arbeitet tatsächlich bei Mc Wischnat und ist als Springer unter anderem im St.-Barbara-Krankenhaus tätig. Und weißt du, wo sie vorher beschäftigt war? Sie ist gelernte Arzthelferin und hat zuletzt in einer psychologischen Praxis gearbeitet.«