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Die Tür ging auf. Ein schlanker Mann mit Nickelbrille und Glatze betrat den Raum. »Ha, hier ist unser eingebildeter Kranker.« Er reichte Staufenberg die Hand, schaute ihn aber nicht an. »Guten Tag, Herr Staufenberg, und Glückwunsch! Es ist alles in Ordnung. Sie sind kerngesund. Alles Einbildung, Ihr Beruf ist sicher belastend.«

Staufenberg blieb stumm.

»Aber Sie gehen ja bald in Rente. Oder Pension, ich denke, die Bezeichnung ist korrekt. Jaja, als Kommissar haben Sie sicher viele schwierige Situationen erlebt, und der Körper vergisst nichts. In Ihrem Fall reagiert er mit Schmerzen in der Magengegend. Aber die Ergebnisse liegen mir vor: ohne Befund! Reduzieren Sie fette Speisen und alkoholische Getränke. Dann geht es Ihnen besser. Suchen Sie sich ein beruhigendes Hobby. Angeln zum Beispiel besänftigt die Seele. Oder meinetwegen auch Briefmarken sammeln. Retro ist ja wieder in.«

Er lachte laut. Zu laut, wie Staufenberg fand. Er verstand auch nicht, was an der Bemerkung lustig war. Der Arzt vermied es noch immer, ihn anzuschauen, blickte abwechselnd auf seine Notizen und den Computerbildschirm.

»Ich kann Ihnen ein allgemeines Stärkungsmittel verschreiben. Die Symptome sollten in ein, zwei Wochen verschwinden. Falls nicht, suchen Sie bitte psychologische Hilfe auf. Ich kann mir vorstellen, dass Sie in Ihrer beruflichen Laufbahn so einiges gesehen haben, was Sie nicht verarbeitet haben. Meist reichen vier, fünf Sitzungen. Dazu Entspannungstechniken wie Yoga oder autogenes Training. Hier haben Sie die Adresse eines Kollegen, ganz hervorragender Mann. Vielleicht sollten Sie ihn schon mal kontaktieren, dann hätten Sie in sechs Monaten einen Termin. Guter Mann, wie gesagt, der hat lange Wartezeiten.« Er lachte wieder laut auf.

»Ich könnte im Park diesen japanischen Sport mit den langsamen Bewegungen machen. In der Gruppe macht so etwas bestimmt Spaß.«

Staufenbergs Einwand brachte Dr. Richter aus dem Konzept. Er hob irritiert den Kopf, blickte ihn einen kurzen Moment an, bevor er weitersprach.

»Ja, auch eine gute Idee. Sicher. Tai-Chi meinen Sie, das soll sehr gut sein. Leider habe ich damit keine Erfahrung.«

»Ich könnte mich auch einer Esoterikgruppe anschließen und es mit Heilsteinen versuchen.« Staufenbergs Stimme klang ganz normal.

Der Arzt begann zu stottern. »Das ist … nun, ein sehr, wie soll ich sagen, unkonventioneller Weg. Das muss jeder für sich entscheiden.«

Staufenberg unterbrach ihn. »Ich könnte auch …«

Weiter kam er nicht.

»Herr Staufenberg, Sie sind gesund, genießen Sie Ihren Ruhestand und lassen Sie es sich gut gehen. Ich schicke die Ergebnisse Ihrem Hausarzt zu. Auf Wiedersehen.«

Dr. Richters rechte Hand schnellte in Staufenbergs Richtung, ohne zuzugreifen. Er nickte noch einmal kurz und verschwand aus dem Raum.

Staufenberg lächelte. Klara hätte Spaß an dieser Vorstellung gehabt. Er erhob sich, zog sein Jackett an und ging an die Rezeption. Das blonde Mädchen, ›Heike‹ stand auf ihrem Namensschild, fragte freundlich, ob sie noch etwas für ihn tun könne.

»Brauch ich noch irgendetwas von Ihnen?«, fragte er.

Heike verneinte und lächelte ihn an. »Machen Sie es gut, Herr Staufenberg. Auf Wiedersehen.«

»Besser nicht, Fräulein Heike.«

Eine altmodische Formulierung, dieses ›Fräulein‹, doch wie sollte er einen fremden Menschen ansprechen, wenn er nur den Vornamen kannte? Die neumodische Sitte, fremde Menschen zu siezen und mit Vornamen anzusprechen, gefiel ihm nicht.

Auf der Straße überlegte er, ob er zu Fuß gehen oder sich zur Feier des Tages ein Taxi gönnen sollte. Es war eine gute Nachricht, auch wenn ihn die herablassende Art des Arztes genervt hatte. Was bildete sich dieser Mensch eigentlich ein? Kannte seinen Patienten nicht, empfahl ein bisschen Entspannung und einen Psychologen. Idiot. Er war wie dieser Kurpfuscher damals, der Klara behandelt hatte. Ohne wirkliches Mitleid hatte er nur ihren Körper untersucht und sie, den Menschen, außer Acht gelassen.

Seinem Hausarzt hätte er von seinen Plänen erzählt. Der Laube und den Obstbäumen. Vielleicht einem kleinen Teich. Er hatte noch mehr Prospekte angefordert. Kois gefielen ihm, und es wäre nett, ihnen beim Schwimmen zuzusehen. Aber diesem Dr. Richter konnte er nichts davon sagen. Es wäre ihm wie ein Verrat an Klara vorgekommen.

Er ging zu Fuß weiter und bog in die Universitätsstraße ab. Einen Kaffee könnte er jetzt gebrauchen. In der Moritzbastei gab es das »Café Barbakane«. Von Camilla hatte er gehört, dass es nett sein sollte. Eine Studentenkneipe. Das war im Moment genau das Richtige. Er war gesund, auch wenn er sich nicht so fühlte, und wollte sich mit jungen Menschen umgeben. Menschen, die noch Pläne hatten, so wie er.

Die Idee mit den Koikarpfen ist gut, dachte er und bestellte einen Kaffee bei der jungen Bedienung. Sie wirkte unerfahren, bewegte sich noch unsicher und notierte akribisch die Bestellung auf dem Notizzettel.

»Was haben Sie denn heute zum Mittagessen im Angebot?«, fragte er.

Sie schaute an die Decke und sprudelte los: »Möhren-Orangensüppchen, dazu Baguette für zwei fünfzig oder die große Portion für drei neunzig. Frischen Blumenkohl mit Sauce hollandaise und Kartoffeln für vier zwanzig. An Fleischgerichten gibt es Kalbsgeschnetzeltes mit Champignons und Rösti für vier achtzig oder unser berühmtes Jägerschnitzel in Tomatensoße mit Nudeln, auch für vier achtzig.«

Sie holte tief Luft und war sichtlich zufrieden mit ihrer Leistung. Warum sie es auswendig gelernt hatte, war Staufenberg ein Rätsel. Sie hätte es einfacher haben und ihm die Karte geben können. Aber vielleicht war es ihr persönlicher Ehrgeiz, die Gerichte aufzählen zu können. Er dachte daran, dass es sein Magengeschwür gar nicht gab, überlegte kurz, ob Sauce hollandaise angemessen war, und entschied sich doch für das Geschnetzelte.

Sein Telefon klingelte.

»Hallo Lorenz, Karl hier. Zu achtundfünfzig Prozent positiv, mehr war nicht drin.«

»Danke, es reicht.«

Die Kellnerin war stehen geblieben. Als er auflegte, wiederholte sie noch einmal die Bestellung inklusive Kaffee und ging schüchtern lächelnd davon.

Sie erinnerte Staufenberg an Jessica. Die war auch eine seltsame Persönlichkeit. Sie handelte selten so, wie man es erwartete. Wirkte abgeklärt, schnörkellos. Ihre Sätze bestachen durch Präzision, keine Floskeln, das Gesagte war immer auf den Punkt gebracht. Ein Mensch, bei dem man wusste, woran man war. Sie machte kein Aufsehen um ihre Behinderung, nahm Dinge hin, die man nicht ändern konnte.

Staufenberg dachte auch mehr, als dass er sprach. Das Reden war nur noch die Quintessenz des Denkens. Es barg viele Gefahren, denn die meisten Zuhörer vermissten etwas. Sie konnten nicht verstehen, wie man auf einen Satz, eine Aussage gekommen war, weil diese Hinführung nur im Geiste stattgefunden hatte. Jessicas ausgeprägter Gerechtigkeitssinn war dem seinen sehr ähnlich. Trotzdem unterschieden sie sich in einem ganz wichtigen Punkt. Und darüber musste er nachdenken. Bis heute Abend wollte er die Entscheidung gefällt haben.