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Der Kommissar holte mich im Hotel ab. Ich hatte gerade gefrühstückt: Kaffee und ein halbes Brötchen, mit Käse belegt. Bereits nach dem Aufstehen hatte ich ausgecheckt, direkt nach meinem Abschiedsspaziergang in der Stadt, die ich lieb gewonnen hatte. Leipzig – ich würde wiederkommen. Das hatte ich auch dem Angestellten an der Rezeption gesagt.
Die Sonne schien, es versprach ein wunderschöner Frühlingstag zu werden. Staufenberg – ganz Gentleman – zog meinen Rollkoffer, der laut über den Asphalt polterte. Seinen Blick nach vorn gerichtet, zielstrebig, so hatte ich ihn kennengelernt. Ein netter Mann. Ihn hätte ich gern als Vater gehabt. Ich ging an seiner rechten Seite und musste mich ranhalten, um mit ihm Schritt zu halten. Immer wieder blickte ich auf sein Profil. Es wirkte aristokratisch. Edel. Ebenso hätte er ins vorletzte Jahrhundert gepasst, als Großgrundbesitzer mit edlem Reitpferd und einem Rudel Hunde, die ihn auf der Jagd begleiteten. Und ich als kleine Madame auf einem Pony hinter ihm her. So schön konnten Träume sein.
Wir überquerten die Kreuzung und traten durch den Westeingang in den Bahnhof. Mit seiner sonoren Stimme erzählte mir Staufenberg die Geschichte des größten europäischen Kopfbahnhofs und vermied es, mich dabei anzusehen.
Abschied nehmen ist nicht jedermanns Sache. Ich wusste, er mochte mich. Sein Leben würde sich nun ändern. Ruhestand. Ein schreckliches Wort. Zusammengesetzt aus Begriffen, die beide nicht zu Staufenberg passen wollten. Ruhe und Stehen, Stillstand. Er hatte erzählt, dass er sich um seinen Schrebergarten, seine Laube kümmern wolle. Irgendwie glaubte ich ihm das nicht.
Staufenberg blieb stehen und verglich die Zeit seiner Armbanduhr mit der auf der großen an der Wand. Ich hatte noch fünf Minuten. Meine Hand berührte seinen Arm.
»Ich muss los.«
»Welches Gleis?«
»Fünfzehn. Um neun Uhr einundfünfzig geht der ICE 1196. Wenn er pünktlich ist.«
»Um diese Uhrzeit sind sie meistens pünktlich. Wann sind Sie da?«
»In Berlin-Spandau habe ich vierzig Minuten Zeit zum Umsteigen. Gegen sechzehn Uhr fünf bin ich in Düsseldorf.«
»Wie immer ganz akkurat.«
»Ich kann nicht anders«, erwiderte ich. Nach einer kurzen Pause sagte ich: »Auf Wiedersehen.«
»Besser nicht.«
Ich sah ihn mit großen Augen an. In den zwei Worten schwang ein Unterton mit, den ich nicht von ihm kannte. Wusste er etwas? Was bedeutete das? Er mochte mich, das bildete ich mir nicht ein.
»Wie ist das gemeint? Ich komme auf jeden Fall noch einmal nach Leipzig. Ich habe gar nicht alles gesehen. Mir fehlt die russische Kirche. Tanja möchte mir alles zeigen. Außerdem möchte ich Ihre Laube sehen, die Obststräucher und Bäume, wenn ich darf.«
»Die russische Kirche haben Sie nicht gesehen? Sie ist in der Nähe des Völkerschlachtdenkmals.«
»Sie war zu, und das Denkmal kenne ich nur aus der Ferne.«
Er ging nicht weiter darauf ein. »Es ist viel geschehen. Manchmal weicht Gerechtigkeit von den Buchstaben des Gesetzes ab.«
Ich nickte, verstand jedoch nicht den Zusammenhang. »Wie meinen Sie das? Philosophisch? So im Allgemeinen?«
Er antwortete nicht.
»Gehört das zu Ihrer Abschlussrede? Es wird eine Feier geben, oder? Sie haben Ihren letzten Fall gelöst, einen Todesengel überführt. Das bringt Ihnen viel Renommee.«
Der Zug stand zum Einsteigen bereit.
»Machen Sie es gut.«
Er gab mir einen Kuss auf die Wange. Keinen angedeuteten. Seine Lippen berührten meine Haut. Ich schloss die Augen.
»Ich wünsche Ihnen viel Glück.« Dann gab er mir eine seiner Tüten, die er schon die ganze Zeit mit sich herumtrug, mit den Worten: »Etwas zu lesen, für die lange Fahrt.«
Etwas verwundert nahm ich die Tüte und bedankte mich. Er blieb stehen und beobachtete mich, als ob er sichergehen wollte, dass ich tatsächlich abfuhr.
Ich stieg ein, suchte meinen Platz und verstaute Koffer und Jacke im Gepäckfach. Ein letzter Blick auf den Bahnsteig. Der Kommissar stand noch da und winkte mir zu. Auch ich hob meinen Arm. Pünktlich setzte sich der Zug in Bewegung, und ich schaute aus dem Fenster. Landschaften zogen an mir vorüber. Der Flughafen Halle/Leipzig. Er wirkte winzig, kein Vergleich zu dem riesigen Komplex des Düsseldorfer Airports. Bäume, Felder, Wiesen. Idylle pur. Ich fühlte mich gut. Trotz Staufenbergs seltsamem Abschied.
Ich schaute in die Plastiktüte und nahm einen Stapel Zeitschriften heraus. Erdbeeren pflanzen? Der perfekte Gemüsegarten? Selbstversorger? Was sollte denn das? Glaubte Staufenberg, ich könnte mich für Gartenarbeit interessieren? Ich schüttelte den Kopf. Es interessierte mich nicht, ich steckte die Prospekte zurück in die Tüte und dachte nicht weiter darüber nach.
Stattdessen wanderten meine Gedanken zu Sauers Beerdigung. Sie war ganz anders gewesen als die meiner Mutter. Enrico und Rosalia Sauer hatten um die Wette geheult. Franco hatte steif und unnahbar etwas abseits gestanden und ins Leere gestarrt. Stoisch hatte er die Beileidsbekundungen von Nachbarn, Freunden und Kollegen entgegengenommen. Ich blieb ein paar Meter entfernt, hatte alles beobachtet und an das Gespräch mit Sauer gedacht.
Das Abendessen bei seiner Familie hatte mich mehr aufgeregt, als ich zugeben wollte. Der Taxifahrer setzte mich am Hotel ab, aber auch das Gespräch mit Gerda beruhigte mich nicht. Ganz im Gegenteil. Gerda hatte getrunken. Sie war keine Hilfe. Ich beschloss, spazieren zu gehen. Ohne konkretes Ziel vor Augen genoss ich die Luft, die mir half, klarer denken zu können. Plötzlich stand ich vor dem Krankenhaus. Es lag im Dunkeln, nur vereinzelte Lichter brannten. Ich sah, wie jemand mit einem Kind auf dem Arm in die Notaufnahme eilte, und ging hinterher. Das Kind blutete aus einer Wunde am Kopf, eine Schwester kam aus einem der hinteren Räume geeilt. Sie verschwanden gemeinsam hinter einer Milchglasscheibentür, ohne mich zu beachten. Ich ging weiter geradeaus. Den Entschluss fasste ich spontan, vielleicht geriet deshalb alles aus den Fugen. Normalerweise plante ich, wog Für und Wider ab.
Ich befand mich im Treppenhaus und ging die Stufen zum ersten Stock hinauf. Niemand kam mir entgegen, ich war mutterseelenallein. Die Tür in den ersten Stock ging ohne Geräusche auf, und wieder begegnete mir niemand. Ein paar Meter von mir entfernt befand sich ein Wagen, der mit Einmalhandschuhen, Füßlingen, Mundschutz und Kitteln bestückt war. An der dahinterliegenden Zimmertür informierte ein Schild, dass der Patient aufgrund seiner Krankheit isoliert in diesem Zimmer lag und Besucher und Personal deshalb die Schutzkleidung anlegen sollten.
Zimmer 112 befand sich drei Meter entfernt, schräg gegenüber. Ich legte einen Kittel, Handschuhe und das Häubchen an, um nicht aufzufallen, falls mich doch jemand sehen würde. Das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, verflog nicht. Doch was sollte passieren? Wenn er schlief, würde ich direkt wieder gehen. Wenn nicht – mal sehen. Ich drückte die Klinke hinunter, steckte meinen Kopf durch den schmalen Spalt und war überrascht.
»Komm herein.«
Ich folgte der Aufforderung, stand vor dem Mann, der mir etwas über meinen Vater sagen konnte, der Antworten hatte.
»Es tut mir leid wegen heute Nachmittag. Ich sollte mich noch schonen und schlafen. Die Schwester hat es wohl zu gut mit mir gemeint und mir zu viel Beruhigungsmittel gegeben.«
Er lächelte. Es machte ihn mir nicht sympathischer. Den Gedanken hatte ich bereits vorhin gehabt, doch jetzt verfestigte er sich.
»Du bist also Jessica. Christines Tochter.«
Ich nickte. »Ich weiß nicht viel über die Vergangenheit meiner Mutter, fast nichts über meinen Vater. Sie ist gestorben, ohne mir etwas zu sagen.«
»Wann ist sie gestorben und woran?«, fragte er ohne Mitgefühl in der Stimme. Keine Herzlichkeit oder Empathie.
»Krebs, vor knapp zwei Wochen.«
Ich blieb neben dem Bett stehen, er bat mich nicht, Platz zu nehmen.
»Reden durfte sie nicht, man hatte es ihr verboten. Die sind nie zimperlich gewesen.«
»Wovon reden Sie? Wer sind ›die‹?«
»Na, die Staatssicherheit. Ging um das Wohl der Republik. Da haben die keinen Spaß verstanden.«
»Was ist mit meinem Vater, Erich Kummerer, passiert?«
Er schaute mich lange an. »Du hast keine Ahnung, oder? Er ist im Gefängnis gestorben.« Er lachte leise. »Erich Kummerer ist im Gefängnis gestorben und als Ewald Sauer wiederauferstanden«, wiederholte er und kicherte.
In meinen Ohren rauschte das Blut. Jetzt setzte ich mich auf den Besucherstuhl, auch ohne seine Aufforderung.
»Christine hat mir gefallen. Sie war anders. Ich wollte sie besitzen, sie zähmen. Sie sah zu mir auf. Ihr Talent war nicht der Rede wert, trotzdem habe ich sie im Team gehalten. Ich konnte es gegenüber den Verantwortlichen rechtfertigen. Wir brauchten schließlich jemanden, an dem wir die Mittel testen konnten.«
Sollte dieser kehlige Laut ein Lachen sein?
»Als sie mir mitteilte, dass sie schwanger war, war das ein Problem. Das musste vertuscht werden. Sie war schon weit, wollte auf keinen Fall abtreiben. Auch wenn wir das hätten regeln können, egal wie weit sie war. Aber Christine hatte sich etwas anderes in den Kopf gesetzt. Mit dem Vorschlag, in den Westen abzuhauen, konnte ich mich arrangieren. Im Westen hatte sie die Chance auf einen Neuanfang. Das war das Beste, was ihr passieren konnte. Außerdem wusste ich nicht, was mit dem Kind werden würde. Es gab noch keine Erfahrungswerte mit Anabolika in der Schwangerschaft. War sowieso ein Wunder, dass sie schwanger wurde.«
Das Kind – damit war ich gemeint. Dieser Mann, der vor mir in diesem Bett lag, der behauptete, mein Vater zu sein, hatte Angst gehabt, ein behindertes Kind zu bekommen. Am Ende vielleicht sogar dafür aufkommen zu müssen.
»Man war sich sogar einig, dass es ein toller Schachzug sei, um der Bundesrepublik zu schaden. Sollten sich doch die westlichen Behörden um den Bastard kümmern.«
Er hatte keine Angst vor mir. Er lag da, grinste, beweihräucherte sich selbst. Und nannte mich einen Bastard.
»War doch die richtige Entscheidung. Du bist gesund, ein Prachtmädel, wie es aussieht. Waren die Medikamente doch harmlos, haben weder deiner Mutter noch dir geschadet.«
Mir wurde übel. Ein unglaublich heftiger Schmerz schoss in meinen Fuß. Ich dachte an Mutters Krankheiten, an meinen Klumpfuß und die vielen Operationen, die ich als Kind hatte ertragen müssen.
»Wie habt ihr das gemacht?«
»Na ja, ist alles verjährt. Ich bin untergetaucht, offiziell war ich im Gefängnis, der Fluchthilfe angeklagt. Inoffiziell befand ich mich in Russland an einem Forschungsinstitut für Doping. Man überlegte, wie ich zurückkommen könnte, und fand Sauer, der mir von der Statur her sehr ähnlich sah. Einen Mediziner. Er war kränklich, und als er im Gefängnis starb, habe ich seinen Platz eingenommen. Er wurde unter meinem Namen beerdigt, ich unter seinem entlassen. Plötzlich war ich Doktor, ohne je eine Vorlesung in Medizin besucht zu haben. Das war alles möglich damals. Deine Mutter bekam die Todesnachricht, und damit war das Thema erledigt.«
Was konnte man dazu sagen? Mir fiel nichts ein. Ich dachte nur an die Traurigkeit meiner Mutter und an ihre Schuldgefühle.
In mir ging eine Verwandlung vonstatten. Und ein Gedanke ergriff von mir Besitz: Ich trug seine Gene in mir.
Er lag da und lachte. »Ohne die Zeit und die Erfahrungen in Russland hätte ich nie das Institut in Leutsch aufbauen können. Was glaubst du, warum die vielen Manager kommen? Ich gebe Ihnen die Mittel, die sie brauchen, um fast ohne Schlaf Höchstleistungen zu bringen. Hirndoping – und das wird gut bezahlt.«
Das Kissen lag in Reichweite. Schicksal, Fügung? Ich nahm es in die Hände und spielte damit. Jonglierte es von links nach rechts. Ich war stark, er geschwächt durch die Operation. Dann sah ich in seinen Augen eine Veränderung. Den Wandel von Selbstgefälligkeit zu Furcht. Er wusste, was ich dachte, was ich vorhatte.
Seine Gene. Er verstand es erst, als ich mich mit dem Kissen auf ihn zubewegte und es ihm langsam auf sein Gesicht legte. Es ging schnell. Wer sollte mich verdächtigen? Es gab keinen Grund. Ich armer Mensch hatte gerade meine Mutter verloren, war nach Leipzig gekommen, um mehr über die Vergangenheit zu erfahren.
Ich hinterließ keine Spuren. Unbeobachtet war ich ins Zimmer gelangt, niemand sah mich hinausgehen. Die Schutzkleidung versteckte ich in meiner Handtasche und entsorgte sie auf dem Weg ins Hotel in einem öffentlichen Abfalleimer.
Staufenberg sagte mir später, dass es keine Spuren gab. Nur ein Geständnis würde ihm den Mörder liefern. Das hatte Elkes Tante getan. Sie war der Todesengel – Sauer ein weiteres Opfer. Sie hatte alles gestanden. Sogar den Mord an dem versnobten Arzt. Warum auch immer. Vielleicht wollte sie nicht noch ein junges Leben zerstören. Bei ihr kam es sowieso nicht mehr darauf an.
Ob der Kommissar etwas ahnte? Er war der einzige Mensch, dem ich zutraute, dass er der Wahrheit sehr nahekäme. Er war ein guter Kommissar. Er hatte von Schuld gesprochen. Und von Gerechtigkeit. Und auch davon, dass der Arm des Gesetzes manchmal nicht lang genug sei. Zumindest hatte ich es so verstanden.
Ich fühlte mich gut, nickte zustimmend. Was auch sonst.