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Staufenberg blickte dem Zug hinterher. Er stand noch immer mit erhobenem Arm am Gleis, selbst als die Waggons lange aus seinem Sichtfeld verschwunden waren. Ob er noch einmal etwas von ihr hörte? Was sie wohl zu den Papieren sagte? Es war ihr gutes Recht, etwas über die Stasivergangenheit ihres Vaters zu erfahren. Zu lesen, was er getan hatte, würde ihr helfen, wenn sie irgendwann doch von Selbstzweifeln und schlechtem Gewissen geplagt werden sollte. Manchmal kamen die Zweifel erst viele Jahre später, meist in der Nacht, so wie bei ihm. Sie hinderten am Schlafen und sorgten für eingebildete Krankheiten.
Wenn die Laube fertig war und die Hölzer gepflanzt und er sich zurücklehnen konnte, um es zu genießen, durfte ihn Camilla besuchen. Vorher wollte er niemanden sehen. Dass Jessica Laumann kommen würde, glaubte er nicht. Sie war intelligent, sie würde vermuten, dass er ihr Geheimnis kannte. Wenn nicht jetzt, dann spätestens, wenn sie die Berichte gelesen hatte, die er ihr gegeben hatte. Sie würde sich nie wieder melden, sich schämen, nicht wissen, wie sie ihm gegenübertreten sollte. Selbst wenn er ihr persönlich versichern würde, dass er sie weder verraten noch verurteilen würde, wäre sein Wissen für sie unerträglich. Ihre Gedanken konnte er nachvollziehen, er würde ähnlich denken.
Jetzt war sie auf dem Weg nach Hause, nach Neuss. Er kannte die Stadt am Niederrhein nicht. Vielleicht würde er sie irgendwann besuchen? Wenn sein Garten fertig war und er sich in der unbekannten Rolle des Pensionärs zurechtgefunden hätte.
Er kam an einer Parkbank vorbei und setzte sich hin. Dieses Gefühl von Müdigkeit ging nicht vorbei. Vielleicht war alles etwas viel in den letzten Wochen gewesen. Er blickte auf die Uhr. Um zwei war die Verabschiedung angesetzt. Dann wäre ein großes Kapitel seines Lebens, sein Dienst bei der Polizei, zu Ende.
Die Plastiktüte, die er neben sich gelegt hatte, rutschte von der Bank und fiel zu Boden. Als er sie aufheben wollte, stockte ihm der Atem. Und dann begann er zu lachen. Erst gluckste er, versuchte den Drang zu unterdrücken, bis er es nicht mehr aushielt. Er warf den Kopf in den Nacken, lachte aus vollem Herzen, bis er nach Luft rang. Tränen liefen ihm über das Gesicht, die er immer wieder mit dem Sakkoärmel fortwischte. Ein Passant blieb stehen und fragte sorgenvoll, ob er ihm helfen könne. Staufenberg schüttelte den Kopf, unfähig zu antworten.
Er griff nach den Blättern, schob sie zurück in die Plastiktüte, während er ungläubig auf die vergilbten Zettel und angestaubten Pappordner blickte.
Wie hatte ihm das passieren können? Nach all den Jahren unterlief ihm solch ein Fehler. Andererseits – er glaubte an Schicksal. Es sollte nicht sein. Er sah erneut auf die Uhr. Die Zeit reichte. Er ging zur Tramhaltestelle, nahm die 7 und fuhr die paar Stationen bis zu seinem Garten.
Er schloss das Gartentörchen auf und lief auf den Steinplatten bis zur Holztür, ohne ein einziges Mal den Rasen zu berühren. Es war verboten, die Gartenabfälle zu verbrennen, so wie es sein Vater und Großvater noch getan hatten. Er ging hinter das Haus, nahm einen Grillanzünder und ein paar trockene Holzscheite. Er legte alles auf den Boden vor dem Haus und trug die Feuerschale dorthin. Es dauerte ein paar Minuten, bis das Feuer entfacht war. Er blickte in die auflodernden Flammen, dann entnahm er der Tüte den Papierstapel und legte ihn umgekehrt auf den Boden. Er wollte nicht ein Wort mehr lesen.
Das erste Blatt krümmte sich in der Hitze, bevor es im Feuer aufging. Blatt für Blatt legte Staufenberg in die Feuerschale und schaute zu, wie die Beweise eines unmenschlichen Handelns verbrannten.
Er hatte sich nicht immer korrekt verhalten. Es war schwer, in einem falschen Regime richtig zu handeln. Er hatte die Akten damals nicht vernichtet. Sein Ungehorsam war strafbar gewesen, ebenso strafbar war sein Handeln in diesem Moment. Er dachte wieder an Jessica. Auch wenn der Todesengel alle Morde inklusive dem an Ewald Sauer zugegeben hatte, wusste er, dass das nicht stimmte.
»Er hat es doch verdient, oder?«, hatte Miriam Schönherr gefragt, und er, der Kommissar, hatte genickt.