Leseprobe zu Sylke Tannhäuser, LEIPZIGER AFFÄREN:

 

 

EINS

Seit zwei Tagen regnete es ununterbrochen. Der Boden war aufgeweicht und zu einer Mischung aus Schlamm, Wasser und grobem Dreck geworden. Die Baugrube lag trostlos in der matten Morgendämmerung. Doch an einer Stelle wuselten Menschen umher, die meisten trugen weiße Overalls. Es waren Mitarbeiter des Erkennungsdienstes, die darauf spezialisiert waren, am Tatort alle möglichen Spuren zu sichern.

Kommissar Heinrich Heine, genannt Henne, kämpfte sich durch die Baugrube bis zu der Stelle, an der man die Leiche gefunden hatte. Die Kollegen hatten eine Zeltplane gespannt, damit der Regen keinen weiteren Schaden anrichten und Spuren wegspülen konnte.

»Optimisten«, knurrte Henne und beschleunigte seine Schritte.

Hagen Leonhardt, sein Assistent, stapfte nicht weniger trübsinnig hinter ihm drein. Erde und Lehm klebten in einer dicken Schicht an den Sohlen seiner hellen Wildlederslipper, die mittlerweile fleckig wie ein Tarnanzug waren.

Henne trat unter die Plane. Er kannte die meisten der Anwesenden. Der Chef der Spurensicherung, Harald Fischer, hatte Urlaub. Statt ihm war Günter Beuthe, der korpulente Leiter des Labors, gekommen. Gewöhnlich drückte Beuthe sich um Vor-Ort-Untersuchungen. Sein Metier war die Auswertung von Sachbeweisen, fern von Leichen oder dem, was von ihnen übrig geblieben war. Vermutlich hatte die Zentrale keinen anderen Ersatz für Fischer finden können, oder Beuthe musste ohnehin Bereitschaft schieben. Jetzt stand er am Rand der Gruppe. Sein missmutiger Gesichtsausdruck ließ nur eine Deutung zu: Das Szenario widerte ihn an.

Neben ihm standen zwei Männer, der eine groß und massig wie ein Walross, der andere klein und dürr und mit einem ausgebeulten Filzhut auf dem Kopf. Sie erinnerten Henne an Pat und Patachon, die Komiker aus seinen Jugendtagen, als er sich mit Vorliebe Slapstickfilme angeschaut hatte.

Henne gesellte sich zu den beiden, murmelte einen Gruß und zückte seinen Dienstausweis. »Oberkommissar Heinrich Heine. Wie der Dichter, aber ich halte es mit der Wahrheit. Und wer sind Sie?«

Er registrierte den Blick des Dicken, aus dem Abneigung pur sprach. Nichts Neues. Henne erlebte oft, dass die Leute spontan etwas gegen dunkelhäutige, knapp zwei Meter große Männer hatten. Im Falle dieses Zeugen konnte die spontane Abneigung allerdings nicht an Hennes Größe liegen. Vermutlich war es dann die Hautfarbe, das Erbteil von Hennes äthiopischem Vater.

»Wenn Sie glauben, wir haben König abgemurkst, liegen Sie falsch«, sagte das Walross.

»Immer schön langsam, ich habe nur nach Ihren Namen gefragt.« Henne tastete über die Narbe, die seine linke Gesichtshälfte teilte. Es war ein Andenken an einen Unfall, der schon lange zurücklag, doch er konnte die Tage zählen, an denen sie Ruhe gab. Auch heute brannte sie wie Feuer. Stressbedingt, hatte ihm Thomas Kienmann, sein Freund und der Polizeiarzt bei der Leipziger Kripo, eingeredet und ihm eine Salbe verordnet. Geholfen hatte sie bislang nicht.

»Manne Gerd Gordemitz, Bauleiter. Ich habe ihn gefunden. Das ist Manne, er geht mir zur Hand.« Der Dicke schob den Dürren vor.

»Manne wer?«

»Manfred Heiligenbrand«, ergänzte der Dürre eilig. »Ich habe wie immer meinen Rundgang gemacht und gar nichts bemerkt.«

Henne nickte. »Gibt es hier einen ruhigen Platz, an dem wir reden können?«

»Die Baubude.« Gordemitz klang wenig begeistert.

»Gehen Sie mit Kommissar Leonhardt voran, ich komme gleich.« Henne wollte zuerst noch den Fundort unter die Lupe nehmen.

>Viel gab es nicht zu sehen. Der Tote war bereits in das Rechtsmedizinische Institut gebracht worden. Die Spurensicherung hatte seinen Umriss mit kleinen Fähnchen abgesteckt, von denen die Hälfte im Matsch versunken war. Akribisch nahmen die Kollegen Bodenproben und steckten alles in Tüten, was sie im Umkreis von mehreren Metern fanden.

»Hast du ihn gesehen?«, fragte Henne Beuthe.

»Erinnere mich nicht daran. Jetzt kann ich wieder tagelang nichts essen.« Beuthes empfindlicher Magen gehörte zu seinen Lieblingsthemen. »Als ich kam, wurde er gerade weggebracht.«

»Was haben die Herren Bauleiter und Konsorten erzählt?«

»Der Tote soll ein gewisser Dankwart König sein.«

Henne pfiff durch die Zähne. »Der Baulöwe! In Leipzig stolpert man alle naselang über seine Häuser.«

»Deshalb kam mir der Name bekannt vor.« Beuthe zog am Reißverschluss seines Overalls.

»Der war oft genug in der Zeitung.«

»Hoch lebe die Presse. Ich weiß bis jetzt nur, dass er ein richtiges Schwein gewesen sein muss.«

»So, so.«

»Frag diesen Koloss von Gordemitz, der hat mir einiges geflüstert. Lohndumping und Überstunden waren an der Tagesordnung. Einen Sklaventreiber hat er den König genannt.«

»Hat das dieser Heiligenbrand bestätigt?«

»Das und eine ganze Menge mehr. Der Mann quatscht ohne Unterlass, eine wahre Fundgrube für dich.« Beuthe verzog den Mund.

»Dann will ich den Herren mal auf den Zahn fühlen.« Henne winkte Beuthe zum Abschied zu.

Er schlitterte durch den Matsch zu dem Anhänger, den Gordemitz wohlwollend als Baubude bezeichnet hatte. Dabei trat er in eine Pfütze und fluchte, als Wasser in seine Schuhe schwappte.

Heiligenbrand hatte Kaffee gekocht. Der Duft versöhnte Henne ein wenig. Unaufgefordert füllte der Dürre eine Tasse und schob sie ihm über den Tisch.

»Wo ist Gordemitz?«, fragte Henne.

»Er setzt den Rundgang fort, das muss sein. Bald kommen die ersten Handwerker, da muss alles seine Ordnung haben. Ihr Kollege begleitet ihn.«

Henne bezweifelte, dass an diesem Tag auf der Baustelle weitergebaut wurde, doch er nickte nur und nahm einen Schluck von dem heißen Kaffee. Um sie herum waren überall Baupläne zu sehen, auf dem Tisch, den Regalen, an den Wänden. Dazwischen hingen einige Fotos, alle stellten sie Dankwart König dar. Auf einem stand er in großer Pose neben dem Oberbürgermeister, auf einem anderen war er mit dem Landesvater zu sehen, dann wieder lachte er inmitten der wie Werbemänner für Zahnpasta strahlenden Fraktionsvorsitzenden verschiedener Parteien.

»Wohl dem, der einflussreiche Freunde hat«, sagte Henne.

»Ach was, König hat sich nur gern ins Rampenlicht geschoben. Eigentlich wollte niemand etwas von ihm wissen.« Heiligenbrand schaltete die Kaffeemaschine aus.

»Tatsächlich?«

»Er war ein Grünschnabel. Im Grunde hatte er keine Ahnung vom Bau. Er hat Verkäufer gelernt, für Unterwäsche. Das muss man sich mal vorstellen.« Heiligenbrand tippte sich an die Stirn. »So einer sattelt um und baut Häuser, Einkaufscenter, Tiefgaragen. Aber das Geld dazu hat er gehabt. Und das Know-how hat er eben gekauft.«

»Gab es einen zweiten Mann im Geschäft? Hatte er einen Partner?«

»Nee, da hätte er ja teilen müssen. König hat sich Leute genommen, die keine Alternative hatten. Leute wie mich, zu alt für den Arbeitsmarkt und die Tariflöhne. Ich will noch nicht zu Hause herumsitzen und auf die Rente warten. Mit fünfundfünfzig fühle ich mich jung.« Die Tränensäcke unter den blassblauen, rotgeränderten Augen und die Furchen auf der Stirn und um den Mund herum ließen Heiligenbrand viel älter als Mitte fünfzig erscheinen. Wahrscheinlich schlief er nie richtig und aß zu wenig.

»Hat er auch junge Leute beschäftigt?«, fragte Henne.

»Klar, Lehrlinge, die den Abschluss verkackt haben, Praktikanten, Ausländer. Alle, die die Klappe halten und nicht aufmucken aus Angst, sie könnten ihren Job verlieren.« Heiligenbrand kickte den Zigarettenstummel durch die halb geöffnete Tür. »Aber das ist jetzt ohnehin egal. Jetzt ist er tot, und mein Job ist auch weg.«

»Gordemitz hat gesagt, Sie gehen ihm zur Hand. Was hat er damit gemeint?«

»Mädchen für alles.« Heiligenbrand angelte eine neue Zigarette aus dem Päckchen. »Pläne, Aufsicht, Kontrolle, Abnahme, Kalkulation. Und die Dinge, die niemand gern macht: Kaffee kochen, abwaschen, aufräumen.«

»Auch Personalsachen und Arbeitsschutz?«

»Arbeitsschutz? Gestatten Sie, dass ich lache?« Tatsächlich entblößte Heiligenbrand eine Reihe gelblicher Beißerchen. Doch sein Lachen erstarb so schnell, wie es gekommen war. »Personal hat König eingestellt und gefeuert. Für die Lohnabrechnung gibt es ein windiges Büro. Ich hab noch keinen von denen hier auf der Baustelle gesehen. Ohnehin wurde der Lohn meistens bar auf die Hand gezahlt.«

Henne nahm sich vor, bei den Sozialträgern nachzuforschen. Renten-, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosenversicherung, eine Menge Anhaltspunkte. Das Lohnbüro konnte er gleich mit unter die Lupe nehmen. »Wissen Sie etwas von Freunden oder Familie?«

»Bleiben Sie mir bloß mit den Weibern vom Leib. Ich bin zweimal geschieden, hat mich jedes Mal ein Schweinegeld gekostet. Für mich ist das Mann-Frau-Ding durch.«

Henne hatte kein Bedürfnis, Heiligenbrands gestörtes Verhältnis zum weiblichen Geschlecht zu erörtern. »Königs Familie, meine ich.«

Heiligenbrand kratzte sich am Kopf. Gleichmütig betrachtete er das Büschel Haare, das zwischen seinen Fingern hängen blieb. »Da gibt es eine Angetraute, eine schöne, stolze. Wie ein Filmstar sieht die aus. Ich habe mich immer gefragt, was so eine an dem König findet. Schauen Sie sich die Fotos an. Da ist er noch gut getroffen. In Wahrheit hat er alt ausgesehen, mit einem gemeinen Zug um den Mund. Den hat er bis zum letzten Atemzug behalten.«

»Was meinen Sie mit: bis zum letzten Atemzug?«

»Na, ich hab ihn doch gesehen. Gordemitz und ich, wir sind oben entlanggelaufen.« Heiligenbrand zeigte durch das Fenster des Bauwagens in Richtung des Randes der Baugrube, der sich gut fünf Meter über dem Boden dahinzog. »Es war arschdunkel, das kann ich Ihnen sagen. Bei dem verdammten Regen war kaum etwas zu erkennen. Gordemitz hat ab und zu mit dem Handscheinwerfer geleuchtet, und auf einmal war da ein Mensch im Lichtkegel, mitten im Dreck. Wir sind sofort runtergerannt, da haben wir noch nicht mal gewusst, dass es der König war. Ich dachte erst, da wäre einer gestürzt oder so. Nee, der war mausetot.«

»Haben Sie eine Vermutung, wodurch er … ich meine, woran er gestorben ist?«

Heiligenbrand hob die Schultern. »Was weiß ich, tot eben. Vielleicht hatte er einen Herzinfarkt.«

Das würde die Obduktion ergeben. Henne zupfte nachdenklich an seinem Schnauzer herum.

»So eine Rotzbremse hatte ich früher auch«, sagte Heiligenbrand. »Macht nur Arbeit, dabei mögen die Weiber die Oberschenkelbürsten nicht einmal.« Er lachte.

Henne fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er war stolz auf seinen Kinnbart, der ihm das Aussehen eines Piraten verlieh. »Sehr witzig«, entgegnete er. »Ich möchte alles über Königs Geschäfte wissen.«

»Da sitzen wir morgen noch hier.«

»Umso eher sollten Sie beginnen.«

»Erstens wäre da das Einkaufscenter. Ein Riesending, Millionen hat er damit gescheffelt. Zweitens eine Passage, drittens das Unigebäude, die Kirchen, die Wohnhöfe in der Südvorstadt, das Altenheim in Kleinzschocher, die Plagwitzer Künstlerschmiede – ein Umbau übrigens –, das Museum, Bürohäuser, zwei Privatschulen …« Heiligenbrands Finger reichten nicht aus, um weitere Projekte aufzuzählen.

»In Ordnung«, sagte Henne. »Das werden wir in den nächsten Tagen untersuchen.«

»Warum der ganze Aufriss? Wenn er doch bloß einen Infarkt hatte.«

Eben noch hast du angegeben, du wüsstest nichts über die Todesursache deines Chefs, dachte Henne. Seine Narbe pulsierte wie ein schmerzender Zahn. »Routine. Sobald wir wissen, dass es ein natürlicher Tod war, wird alles eingestellt.«

Von draußen kamen Geräusche. Gordemitz trampelte mit Leonhardt im Schlepptau die Stufen des Bauwagens herauf.

»Gut, dass du kommst«, sagte Henne zu Leonhardt. »Bist du so weit?«

Leonhardt nickte. Er hatte Gordemitz wohl auf dem Rundgang befragt. Vorerst gab es hier nichts mehr für die Kommissare zu tun. Henne war froh, dem verräucherten Bauwagen zu entkommen. Er selbst hatte schon vor mehr als zehn Jahren mit dem Rauchen aufgehört.

Drei Stunden waren vergangen, seit die Kollegen vom Polizeirevier Süd den Todesfall gemeldet hatten. Mittlerweile war es acht Uhr durch, und Henne hatte nur eine einzige Tasse Kaffee intus. Zeit für Nachschub, denn ohne Kaffee konnte er schlecht denken.

Noch immer regnete es in Strömen. Der Himmel war von dickbäuchigen Wolken beherrscht, die jede Hoffnung auf besseres Wetter im Keim erstickten. Henne hatte seinen Schirm im Auto vergessen. Leonhardt hatte in der Hektik gar nicht erst daran gedacht, einen mitzunehmen.

Egal, sie waren ohnehin bereits durchnässt. Mit langen Schritten liefen sie zum Wagen und stiegen ein. Henne schaltete die Heizung ein und gab Gas. Die Wischerblätter zuckten wie verrückt über die Scheibe. Sie hatten Mühe, der Wassermassen Herr zu werden.

»Halt mal da vorn«, sagte Leonhardt.

Henne erkannte die Werbetafel vor der Bäckerei und legte eine Vollbremsung hin.

Leonhardt stieg aus und kam kurz darauf mit einer Tüte ofenfrischer Brötchen zurück. »Sie sind noch warm.«

Bis sie das Eingangsportal der ehrwürdigen Polizeidirektion erreicht hatten, war die Wärme der Brötchen allerdings verflogen. Auf dem Weg zur Treppe riskierte Henne einen Blick zu Gitta, die den Empfangsbereich managte. Ihre Lockenpracht leuchtete in einem satten Violett. Henne schluckte. Gitta liebte Kunsthaar in jeder Form. Ob Perücken, Strähnen, Zöpfe, Dutte – sie musste alles haben, was die Bestände ihres Händlers hergaben. Es war ein gewöhnungsbedürftiger Anblick auf dem alternden Frauenkopf.

Während die Kaffeemaschine blubberte, wippte Henne in seinem Bürosessel, die Beine auf den Papierkorb gelegt, die Hände im Genick verschränkt. Seine Schuhe trockneten derweil auf dem Heizkörper. Nebenbei verleibte er sich zwei Brötchen ein und sah Leonhardt beim Tippen des Erstberichts zu.

»Was hast du von Gordemitz erfahren?«, fragte er.

Leonhardt schaute von der Tastatur hoch. »König war nicht gerade beliebt. Gordemitz musste ständig damit rechnen, dass er gefeuert wird. Den anderen ging es ebenso.«

»Das hat Heiligenbrand auch gesagt.«

»Glaubt man Gordemitz, ist Heiligenbrand ein Spinner, ein Windhund, ein bequemer Sack, ein Möchtegern-Chef und dazu noch ein Alkoholiker. Letzteres hat sich wohl erst vor Kurzem herausgestellt.«

»Nette Beschreibung.«

»Es kommt noch besser. Heiligenbrand soll die Arbeiter ausspioniert haben.«

»In Königs Auftrag?«

»Oder um sie auf eigene Rechnung zu erpressen. Das wusste Gordemitz nicht. Jedenfalls haben der Dürre und König oft die Köpfe zusammengesteckt. Dabei ist nie was Gutes rausgekommen, sagt Gordemitz.«

»Und was meint ein Hagen Leonhardt dazu?«

»Nenn mich nicht Hagen, du weißt, wie sehr ich den Namen verabscheue.«

»Heiligenbrand und König«, sagte Henne. »Das passt irgendwie nicht zusammen.« Der Dürre hatte ziemlich abfällig über König geredet.

»Eine Hassliebe. Die haben oft auf ein Herz und eine Seele gemacht, genauso oft gab es aber auch Krach. Zuletzt am Montag.«

»Das war vor zwei Tagen.«

»Es ist um irgendwelche Betonpfeiler gegangen. Das glaubt zumindest Gordemitz.«

Henne malte in seinem Notizbuch ein dickes Fragezeichen hinter Heiligenbrands Namen. »Ist der Kaffee fertig?«

»Kommt sofort.«

Henne nahm Leonhardt den Pott ab und trank. Wie immer verbrannte er sich beim ersten Schluck die Zunge. »Muss der immer so heiß sein?«

Er pustete in die Tasse. Aus den Augenwinkeln sah er Leonhardt grinsen. Er ahnte, was seinem Assistenten durch den Kopf ging. Hagen Leonhardt hatte ihm einmal erzählt, was seine Großmutter zu antworten pflegte, wenn man sich über zu heißes Essen beschwerte: Kaltfeuer gibt es nicht. Henne griff nach dem Bericht. Er überflog ihn und setzte dann seinen Kringel darunter, unleserlich wie immer.

 

Henne hatte beschlossen, sich nicht auf den Postweg zu verlassen, sondern den Obduktionsbericht eigenhändig aus der Rechtsmedizin zu holen. Das Rechtsmedizinische Institut befand sich keine zwei Kilometer von der Polizeidirektion entfernt auf dem Gelände des Universitätsklinikums, eingebettet zwischen den Gebäuden der Virologie und Immunologie, der Medizinischen Mikrobiologie, der Liebigstraße und der Johannisallee.

Der Regen war in gleichmäßiges Nieseln übergegangen. Grund genug, fand Henne, um für die kurze Entfernung das Auto zu nehmen.

»Ich würde zu gerne wissen, wie viel Zeit Dr. Schemkeler diesmal braucht«, sagte Leonhardt, als Henne startete.

»Auf den lasse ich nichts kommen.« Schemkeler war der einzige obduzierende Arzt, den Henne leiden konnte.

Er parkte direkt vor der Tür der Rechtsmedizin im Halteverbot. Leonhardts beredte Blicke kümmerten ihn nicht. Stattdessen blickte er hoch zu der altdeutschen Inschrift über der Eingangstür, Überbleibsel aus der Gründungszeit anno 1900: »Institut für Gerichtliche Medizin«.

Im Innern des Gebäudes war es kühl. Fröstelnd schlug Henne den Kragen seiner Jacke hoch, und sie folgten der Ausschilderung zur Leichenaufbewahrungshalle.

Schemkeler erwartete sie bereits in dem nüchternen Raum, der von Edelstahl und Fliesen beherrscht wurde.

»Ich habe ihn wieder zusammengeflickt. Sie können ihn beruhigt betrachten.« Sein Ton war sachlich, weit entfernt von jeglicher Ironie.

Henne war dankbar, dass Schemkeler keine Anspielung auf die Übelkeit machte, die ihn gewöhnlich beim Anblick der nackten, starren Körper packte, denen noch die Spuren der Obduktion anzusehen waren. Das unterschied den Mediziner von seinen Kollegen, die keine Gelegenheit ausließen, dem unbequemen Oberkommissar eins auszuwischen.

Die spitze Nase des Toten auf dem Stahltisch stach aus seiner ungesunden Haut. Das war das Erste, was Henne auffiel. Dann der verzogene Mund. Heiligenbrand hatte recht, er wirkte tatsächlich gemein.

»Woran ist er gestorben?«, fragte Henne.

»Das zeige ich Ihnen gleich. Kommen Sie mit, wir müssen in die Toxikologie.« Schemkeler schloss den Leichensack und ging voran.

»Alle Achtung, Sie waren fleißig.«

Falls sich der Doktor über das Lob freute, sah man es ihm nicht an. Er zeigte kein Lächeln. »Meine Frau ist zur Kur. Zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf. Da bleibe ich lieber auch in den Nächten hier.«

Henne nickte. Auch ihn beherrschte die Arbeit. Deshalb hatte sich Erika von ihm scheiden lassen. Sie hatte es sattgehabt, nur an zweiter Stelle zu stehen. Mittlerweile war sie zwar zu ihm zurückgekommen, doch im Grunde hatte sich nichts geändert.

Das Büro der forensischen Toxikologie, in das Schemkeler Henne und Leonhardt führte, war erstaunlich übersichtlich. Ein Tisch mit Computer nebst Bildschirm und vergrauter Tastatur. An der Wand ein Telefon, daneben zwei Schränke und ein Gerät, das wer weiß wozu dienen mochte.

Schemkeler drückte einige Tasten. Der Drucker spuckte mehrere Blätter aus.

»Blutprobe«, entzifferte Henne. »Hypothermie, vermutlich Arrhythmie, analgesiert und sediert.«

»Starke Unterkühlung, unregelmäßiges Herzverhalten, gedämpfte Funktionen und dazu Entleerungsverzögerung«, übersetzte Schemkeler. »In Blut und Urin ist Amphetamin nachweisbar.«

»Sieh an, König hat geschnupft.«

»Im Interstitium, dem Zwischengewebe, und den Alveolen der Lunge habe ich Blut gefunden, ein klassisches Lungenödem. Dann habe ich die Pupillen untersucht. Ich zeige es Ihnen.«

Schemkeler startete die Videoaufzeichnung, die er bei der Obduktion gemacht hatte. Er spulte vor und stoppte, als Königs Augen groß im Bild waren. »Eine Mydriasis.«

Selbst Henne fiel auf, dass die Pupillen riesig waren. »Das bedeutet?«

»Tot durch Herzversagen, hervorgerufen durch ein Gift.«

»Fremdverschulden oder Selbstmord? Ein Unfall?«

»Das kann man nicht mit Gewissheit sagen. Zumindest hatte er jede Menge genetisches Material unter den Fingernägeln, das ich nicht zuordnen kann. Genaueres ergibt sich vielleicht nach der Untersuchung seiner Kleidung. Derzeit ist ungeklärt, ob er die Substanz freiwillig genommen hat oder ermordet wurde. Finden Sie es heraus, Herr Oberkommissar.«

»Moment noch, von welcher Substanz reden wir hier?«, fragte Leonhardt.

»Alles deutet auf Morphin. Sie finden es in jedem Analgetikum.«

»Eine Vergiftung mit Schmerztabletten?«

»Oder Tropfen, Kapseln, Zäpfchen, Pflaster. Eine Injektion schließe ich aus«, sagte Schemkeler.

»Was macht Sie so sicher?«

»Ich habe keine Einstiche entdeckt.«

Hennes Narbe meldete sich zurück. Er wollte weiß Gott nicht mit Schemkeler tauschen, doch er beneidete den Doktor darum, dass der eine eindeutige Aussage machen konnte. Für ihn selbst war der Fall alles andere als klar.

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