Kapitel 39

Diese letzten Tage waren die schlimmsten meines Lebens«, sagte Ornella Cavalieri und sank in den Stuhl, den Alessandro ihr angeboten hatte.

Die Fenster in der Wache standen offen. Von der Piazza her waren Stimmen und das Scharren der Stühle zu hören, die beiseitegeräumt wurden, um den Platz für das Mittelalterfest freizumachen, das nun fortgesetzt werden würde.

Alessandro setzte sich der Maskenbildnerin gegenüber an den Schreibtisch. Sergio ließ sich auf dem Rand der Tischplatte nieder und wippte mit einem Bein. Am liebsten wäre er durch die Wache gelaufen, während Ornella befragt wurde.

»Was ist in der Nacht von Donnerstag auf Freitag geschehen, Signora Cavalieri?«, begann Sergio.

Die Maskenbildnerin drehte an ihren Armreifen.

»Werden Sie bedroht?«, fragte Alessandro. Das war das Vorgehen aus dem Lehrbuch der Polizeischule. Redete der Verdächtige nicht, so stellte man ihm Fragen, die sein Wohlbefinden betrafen. Darüber sprach jeder gern.

»Ja«, sagte Ornella. »Ich habe Angst. Vor Felice.«

»Vor Lontani?«, fragte Sergio. »Warum?«

Sie antwortete nicht.

»Sie sind bei uns in Sicherheit«, sagte Sergio. »Lontani kann Sie hier nicht hören.« Er beugte sich ein wenig zu ihr herab. »Wir sind von der Polizei.«

Ornella schaute ihn aus geröteten Augen an. »Das ist es ja gerade.«

Alessandro stand auf und ging zur Kaffeemaschine hinüber. Er goss Wasser hinein und gab das Pulver in den Filter. Dann stellte er das Gerät an. Während es gluckste und zischte, holte er drei Tassen aus dem kleinen Schrank, auf dem die Maschine stand. Der Duft frisch aufgebrühten Kaffees erfüllte den Raum.

»Sie wissen etwas über Stellas Tod, nicht wahr?«, hakte Sergio nach. »Etwas, das Sie der Polizei noch nicht gesagt haben. Ist es etwas, das Lontani betrifft?«

Sie nahm von Alessandro eine Tasse Kaffee entgegen und hielt sie mit beiden Händen umfasst. Als er ihr einen Zuckerstreuer reichen wollte, schüttelte sie den Kopf. Ihre langen, dunkel lackierten Fingernägel tickten gegen das Porzellan. Sie ließ den Blick durch die Wache wandern.

»Ich fürchte, ich bin ein rosa Einhorn«, sagte sie.

»Bitte, was?«, fragte Alessandro.

Sergio verstand, was Ornella meinte. Er deutete über die Schulter zu Morellis Schreibtisch. Dort hing seit Jahren das Poster eines rosafarbenen Einhorns aus Plüsch, das hinter dem Schriftzug Schuldig betreten aus den Knopfaugen schaute.

»Sie waren Donnerstagnacht am Römischen Theater«, versuchte es Sergio noch einmal. Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

Ornella nickte.

Joe Bonos hatte die Wahrheit gesagt.

»Was ist dort geschehen?«, wollte Sergio wissen.

Die Maskenbildnerin nippte an ihrem Kaffee, dann begann sie zu erzählen.

»An jenem Abend war ich mit Felice verabredet. Er hatte versprochen, dass er mir bei Nacht all die Orte in Volterra zeigen würde, an denen Stella ihren berühmten Film gedreht hatte. Le Ricordanze – Wenn es dunkel wird, suche die Sterne. Und mit dem Teatro wollten wir anfangen. Das hatte auch einen praktischen Grund. Unsere Elektra sollte in den alten Ruinen aufgeführt werden. Und Felice … Lontani … konnte es kaum erwarten, den Ort zu besuchen. Wir kamen also am Donnerstag in Volterra an. Und nachdem wir uns im Il Mulino eingerichtet hatten, bin ich schon mal losgegangen und durch die Stadt gestreift. Wissen Sie, wenn erst die Proben beginnen, haben wir Theaterleute nur wenig Zeit, uns umzusehen. Die Stadt gefiel mir. Es war ein warmer, stiller Abend. Ich lief umher, bis mir die Füße wehtaten. Nach Mitternacht bin ich zum Teatro Romano gegangen. Felice war noch nicht da, aber bald darauf trafen wir uns dann an der Mauer, die über der Anlage aufragt. Was für ein zauberhafter Ort, was für ein magischer Moment. Wir waren unter uns. Nur die Sterne waren da. Die Stadt und die Nacht gehörten uns. Felice und mir. Ich hatte lange darauf gewartet, endlich mit ihm allein sein zu können. Sie müssen wissen, dass ein Regisseur ständig von Menschen umgeben ist. Er hat niemals Ruhe. Es ist nicht schwer, ihn zu lieben, aber es ist schwer, es ihm zu zeigen. In jener Nacht hatten wir endlich Zeit dafür.«

Sie blickte zu Boden und schwieg eine Weile. Sergio konzentrierte sich darauf, nicht weiter mit dem Bein zu wippen.

»Aber selbst in solchen Momenten«, fuhr sie dann fort, »kann Felice seine Arbeit nicht völlig vergessen. Ich wollte ihn umarmen, aber er wich zurück, lehnte sich an die Mauer und starrte vor sich hin. Die Compagnia ist finanziell am Ende. Stellas Gage hat Felices Rücklagen verschlungen. Und in der letzten Spielzeit hatte sie dem Ensemble nicht den erhofften Erfolg eingebracht. Felice hätte den Vertrag mit ihr gern gekündigt. Aber der lief noch drei Jahre. Das Geld zerfloss ihm unter den Fingern. Der arme Felice! Er war verzweifelt.«

Tränen liefen ihr übers Gesicht. Alessandro reichte ihr ein Taschentuch.

»Aber nun war meine Gelegenheit gekommen, ihn zu trösten und ihm zu zeigen, dass ich auf seiner Seite stand. Ich versuchte noch mal, ihn zu umarmen. Ich hatte es mir so lange gewünscht. Felice und ich. Er legte seine Arme um mich. Dann hörten wir die Rufe. Es war Stella. Ich erkannte ihre Stimme sofort. Die größten Theater konnte sie damit ausfüllen. Sie rief um Hilfe. Es lag eine Not darin, wie sie nur eine sehr gute Schauspielerin hervorbringen kann. Oder ein Mensch in Todesangst. Da kam sie auch schon aus einer Gasse herbeigelaufen. Sie hinkte, schien sich am Bein verletzt zu haben. Hatte sie einen Unfall? Das war mein erster Gedanke. Dann sah ich, dass sie uns zuwinkte. War sie betrunken? Felice ließ mich los und wandte sich Stella zu. In diesem Moment ist etwas in mir zerbrochen. Ich weiß nicht mehr, was ich gedacht habe. Aber mir war mit einem Mal klar, dass ich ihn niemals für mich allein haben würde. Immer würde irgendetwas zu erledigen sein. Immer würde es irgendwo eine Stella Aurora geben, die dazwischenfunkte. Stella war außer Atem und kreidebleich. ›Felice!‹, rief sie und klammerte sich an meinen Geliebten. ›Hilf mir!‹ Auf mich achtete sie überhaupt nicht. Ich war Luft für sie … wie immer. Da war es mir auf einmal egal, ob sie wirklich in Not war. Ich packte sie und zerrte sie von Felice fort. Sie schlug nach mir. Als sie mir einen Tritt gegen das Schienbein versetzte, habe ich sie weggestoßen. Sie taumelte gegen die Mauer. Diese Mauer. Die ist ja nicht mal hüfthoch, wissen Sie? Stella drohte das Gleichgewicht zu verlieren und in den Abgrund zu stürzen. Ich konnte gerade noch einen ihrer Arme erwischen und hielt sie fest. Sie schaute mich mit aufgerissenen Augen an. In diesem Moment riss Felice mich zurück. Ich musste Stella loslassen und sie … sie … Mit einem Mal war sie verschwunden. Kurz darauf war da dieses entsetzliche Geräusch aus der Tiefe. O Gott! Ich kann es immer noch hören.«

Ornella vergrub das Gesicht in den Händen. Sergio nahm einen Schluck Kaffee und blickte zu Alessandro, der ihm kurz zunickte.

Die Maskenbildnerin sah auf. »Felice und ich, wir waren wie gelähmt. Erst nach einer Weile schaute er über die Mauer. Aber dort, wo Stella hingestürzt war, gab es keine Beleuchtung. Er könne sie nicht sehen, hat er gesagt. Ich wollte natürlich sofort die Polizei anrufen, damit sie einen Notarzt schickten. Aber Felice hat mir das Telefon abgenommen und gesagt, das dauere viel zu lange. Wir sollten selbst nachsehen, ob wir Stella helfen könnten. Dann lief er auch schon los, den Weg hinunter, der zum Eingang des Theaters führt.«

»Kam Ihnen das nicht komisch vor?«, fragte Sergio.

»Ob mir das komisch vorkam? Das habe ich mich seither wohl tausendmal gefragt. Aber aus irgendeinem Grund glaubte ich selbst zu diesem Zeitpunkt noch an Felices gute Absichten. Vielleicht hatte er ja verhindern wollen, dass Stella mich mit in den Abgrund riss? Und jetzt wollte er ihr so schnell wie möglich helfen. Das passte für mich zusammen. Wir sind also zum Haupteingang des Teatro gelaufen und über das Gittertor gestiegen. Und dann sahen wir sie. Stella lebte noch. Sie hatte sich vom Fuß der Mauer den Hang heruntergeschleppt. Jetzt lag sie zusammengekrümmt am unteren Ende der Sitzreihen. Ich rannte sofort los, Felice folgte mir. Als ich die Bühne erreicht hatte, fasste er mich am Handgelenk und hielt mich zurück. Ich wusste nicht, warum, und wollte mich losreißen. Aber sein Griff war zu fest. Schließlich standen wir am Rand der Bühne. Stella hatte uns offenbar wahrgenommen, denn sie hob den Kopf und sagte etwas, so leise, dass ich es nicht verstehen konnte. Aber ich bin sicher, dass sie uns bat, ihr zu helfen. Felice machte keine Anstalten, zu Stella zu gehen! Ich wehrte mich gegen ihn. Da packte er mich so fest, dass ich vor Schmerz aufschrie. Sehen Sie das hier, unter meinen Armreifen? Da sind noch die Blutergüsse zu sehen. ›Ornella‹, sagte er eindringlich, ›willst du ins Gefängnis?‹ Und dann erklärte er mir, dass schließlich ich es gewesen sei, die Stella in den Abgrund gestoßen habe. ›Aber wir müssen ihr helfen‹, rief ich. Felice legte mir eine Hand auf den Mund. ›Wir müssen vor allem still sein. Stella ist ein Problem. Für dich, weil du die Schuld an ihrem Unglück trägst, und für mich, weil sie mich ruiniert. Aber die meisten Probleme erledigen sich irgendwann von selbst. Wirst du jetzt still sein?‹ Und da habe ich genickt …«

Ornella schaute nicht mehr nach rechts oder links. Stattdessen schien ihr Blick nach innen gerichtet zu sein, ganz so, als ob sie sich einem unsichtbaren Ziel nähere.

»Ich habe ihm vertraut. Felice, der gerade erst mein Leben gerettet hatte, wollte bestimmt auch jetzt nur das Beste für mich. Das habe ich geglaubt. Was war ich für eine Idiotin! Also bin ich neben ihm vor der Bühne stehen geblieben und habe der Tragödie zugesehen, die sich vor uns abspielte. Stella lebte noch immer. Als sie sah, dass wir ihr nicht helfen würden, kam sie noch einmal hoch und schleppte sich auf uns zu. Doch nach zwei oder drei Schritten brach sie wieder zusammen. Dort blieb sie liegen, im Licht eines Scheinwerfers, und rührte sich nicht mehr. Felice ließ mich los, und ich lief zu Stella hinüber. Sie hatte es bis in das Halbrund der Orchestra geschafft. Da lag sie nun. Das Haar wie ein Fächer um den Kopf ausgebreitet, und sie war so merkwürdig bleich in dem künstlichen Licht. Da ahnte ich schon, dass sie tot war. Aber ich wollte, dass es nicht wahr wäre. ›Rufst du jetzt endlich die Polizei?‹, sagte ich zu Felice. Es war mir egal, ob ich an dem Unglück schuld war. Ich wollte nur irgendwas tun. In meiner Umhängetasche steckte eines der Kostüme für Elektra. Ich holte es hervor, weil ich es Stella unter den Kopf legen wollte. Irgendwann hatte ich einen Erste-Hilfe-Kurs belegt und dabei gelernt, dass der Kopf eines Verletzten hochgelagert werden soll. Doch kaum hatte ich die Toga hervorgeholt, riss Felice sie mir aus der Hand und schleuderte sie beiseite. ›Es ist zu spät‹, sagte er. Ob ich nicht sehen würde, dass Stella tot sei. Es wäre ein Wunder, dass sie es überhaupt noch bis in die Orchestra geschafft habe. Dann hat er mich überredet, das Teatro so schnell wie möglich zu verlassen. Seither lebe ich mit der Erinnerung an diese furchtbare Nacht in diesem furchtbaren Theater. Ich dachte, ich könne nie wieder für die Bühne arbeiten. Für die Proben und die Aufführung heute habe ich alle Kraft zusammengenommen. Doch als dann dort plötzlich Stellas Bildnis stand, dachte ich, ihr Geist sei gekommen, um mich anzuklagen.«

Ornella hatte ihren Bericht beendet. In der Polizeiwache war es still. Sergio schaute in seine leere Kaffeetasse. Er war zugleich bestürzt und erleichtert. Der Mord an Stella Aurora war aufgeklärt, auch wenn man sich Lontanis Version der Geschehnisse noch würde anhören müssen.

Die Umstände ihres Todes waren schrecklich. Es gab gewiss Kollegen, die angesichts solcher Ereignisse nicht mit der Wimper zuckten, aber Sergio gehörte nicht dazu.

»Warum sind Sie nicht früher zu uns gekommen?«, fragte Alessandro.

»Das wollte ich ja«, beteuerte Ornella, »aber Felice hat es mir verboten. ›Wenn die Polizei davon erfährt‹, hat er gesagt, ›gehen wir beide ins Gefängnis. Dann siehst du mich nie wieder. Willst du das?‹ Natürlich wollte ich das nicht. Wer will schon ins Gefängnis?« Sie sah die beiden Polizisten an. »Aber jetzt muss ich wohl doch dorthin, nicht wahr?«

In ihrem Blick lag ein Flehen, das Sergio zu Herzen ging. Verdammte Polizeiarbeit!

Er nahm ihr die leere Kaffeetasse aus der Hand.

»Was geschieht denn jetzt mit mir?«, fragte sie leise.

Sergio und Alessandro sahen sich an.

»Wir verständigen die Kollegen von der Questura«, erwiderte Alessandro. »Die werden sich um alles Weitere kümmern. Auch um Felice Lontani.«

»Bleib du mit Signora Cavalieri hier«, schlug Sergio vor. »Ich gehe nach unten und hole den Commissario. Ich habe ihn vorhin auf dem Platz gesehen.«

Ich muss nur noch seine Finger von der Kutte meines Vaters losbekommen, dachte er und machte sich auf den Weg.