Kapitel 21

Giulia hatte gewartet, bis die beiden Männer aus der Werkstatt verschwunden waren. Dann hatte sie sich wie eine neugierige Kundin verhalten, war hier und da vor einem fertigen Werk stehen geblieben und hatte mit den Fingern Linien in den Staub auf einer Arbeitsplatte gestrichen. Als sie sicher sein konnte, dass Sergio den Bildhauer ins Freie gelockt und ihn in ein Gespräch verwickelt hatte, sah sie sich genauer im Atelier um.

Schon in den ersten Minuten war ihr das Durcheinander im Reich des Künstlers aufgefallen. Eine mannshohe Schleifmaschine beherrschte den Raum. Sie war umringt von schneeweißen Statuen. Eine stellte den heiligen Antonius mit dem Kind im Arm dar. Jemand hatte Antonius eine grüne Schirmmütze aufgesetzt. Daneben lag ein adrett zusammengefalteter Wollpullover, der so stark mit Alabasterstaub überzogen war, dass seine ursprüngliche Farbe darunter verschwunden war. Giulia strich darüber und stellte überrascht fest, dass es sich um eine Alabasterarbeit handelte. Massimo P. Cini bildete nicht nur Menschen naturgetreu ab.

Weiter! Sie war schließlich nicht in dieser Werkstatt, um tausend kleine Wunder zu bestaunen, sondern um etwas zu suchen. Etwas, das mit dem Tod Stella Auroras in Verbindung stehen konnte. Die Diva war zuletzt bei Massimo gewesen und von dort zum Römischen Theater gerannt. Der Grund für ihre Eile – und vielleicht für ihren Tod – konnte in diesen Räumen zu finden sein.

Milchiges Licht fiel durch ein verstaubtes Fenster herein. Man würde von draußen nicht sehen können, was sie hier trieb. Und selbst wenn! Sie tat nichts Verbotenes, sah sich nur in einer Werkstatt um.

Trotzdem schlug ihr Herz schneller.

Giulia drehte sich langsam im Kreis. Dieses Durcheinander! Wenn es hier etwas zu entdecken gab, so lag es nicht offen herum.

Die Werkbank hatte drei Schubladen, von denen zwei zur Hälfte offen standen. Giulia lugte in die oberste. Braune Plastikteile lagen darin, die zu einem elektronischen Apparat zu gehören schienen, mehr war durch den Spalt nicht zu sehen.

Sie zog die Schublade ganz auf. Das Holz klemmte auf den Führungsschienen, und Giulia riss an dem Griff. Unter Klappern und Rasseln gab die Schublade ihren Inhalt preis. Giulia wühlte durch die braunen Plastikabdeckungen. Darunter kamen Kartons aus Pappe zum Vorschein, die Sicherungen enthielten. Auch in der zweiten Schublade fand sich nichts Verdächtiges.

Die untere war verschlossen.

Lag der Schlüssel hier irgendwo herum? Auf der Arbeitsplatte war er nicht. Ebenso wenig in der kleinen Schale mit dem Schleifpapier.

Giulia ging in die Knie und spähte unter den Schreibtisch. Sie suchte auch unter der Werkbank und schaute noch einmal in den Schubladen nach, die sich hatten öffnen lassen. Einen Schlüssel fand sie nicht.

Aber einen Meißel. Das Werkzeug lag auf einer Arbeitsplatte, neben anderen seiner Art. Die Meißel waren parallel aufgereiht und nach Größe geordnet. Das passte so wenig in die Unordnung, die im Atelier herrschte, dass Giulia nervös auflachte.

Sie griff nach dem breitesten Meißel. Irgendwann einmal war der Stahl mit einer blauen Lackschicht überzogen gewesen, von der jetzt nur noch Spuren erkennbar waren. Das Metall lag schwer und kalt in ihrer Hand. So kühl, wie sie jetzt handeln musste.

Sie stemmte das flache Ende des Meißels in den Spalt der verschlossenen Schublade und lehnte sich darauf. Giulia brachte zwar nur achtundfünfzig Kilo auf die Waage, aber Schreibtisch und Schublade zählten mindestens ebenso viele Jahre.

Es krachte. Das Schloss ging entzwei.

In der Schublade lagen Papiere. Als Giulia den Stapel herausnahm, rieselte Staub zwischen den Seiten hervor. Obenauf lagen Rechnungen. Es folgten Skizzen von Skulpturen, Büsten, Händen, Gesichtern. Entwürfe offenbar. Giulia suchte weiter. Unter den letzten losen Seiten fand sich ein kleines Heft, wie es Schulkinder im Mathematikunterricht verwenden. Sie zog es hervor und schlug es auf.

Stella Aurora schaute ihr entgegen.

Die Filmdiva war mit schnellen Bleistiftstrichen festgehalten. Der Zeichner hatte sie gut getroffen. Die kleine Nase. Den eleganten Schwung der Augenbrauen. Die glänzenden Wangen. Den Schmollmund. So hatte Stella in ihrer Jugend ausgesehen. So konnte man sie in ihren Filmen immer noch bewundern.

Giulia blätterte durch das Heft. Es enthielt ein gutes Dutzend Porträts der Schauspielerin. Einige zeigten sie von vorn, andere im Halbprofil. Auf einem war der Kopf von hinten zu sehen. Das waren nicht einfach nur Bilder eines Bewunderers. Das waren Arbeitsvorlagen.

Hatte Massimo P. Cini eine Stella aus Alabaster geschaffen? Oder war es bei den Skizzen geblieben?

Giulia ließ den Blick über die in Alabaster erstarrten Figuren schweifen. Ungerührt stand der heilige Antonius neben der Schleifmaschine, die grüne Mütze schief auf dem Kopf. Das Kind in seinem Arm lächelte zu ihm auf. Es schien, als lache der Knabe den Heiligen wegen seiner unpassenden Kopfbedeckung aus.

Unter den Statuen waren auch einige Frauen. Ihre Gesichter waren ausdrucksstark und lebensecht aus dem Stein hervorgeholt. Aber keine ähnelte Stella.

Giulia überlegte. Wie viel Zeit blieb ihr noch? Wenn der Bildhauer jetzt zurückkäme, würde er sofort sehen, dass sie seine Unterlagen durchsucht hatte.

Draußen hörte sie Sergio sprechen. Giulia lächelte. Er hatte Courage, Geist und das Herz am rechten Fleck. Sie hatte es schlagen gespürt, als sie ihm die Hand auf die Brust gelegt hatte, gestern Abend in der Trattoria. Er war ein reizvoller Mann. Wenn er sich nur nicht in den schönsten Momenten in einen Polizisten verwandeln würde!

Giulia sah wieder auf die Zeichnungen. Sie musste die Büste finden, die zu den Bildern von Stella gehörte. So gut es ging, brachte sie die Schubladen wieder in die ursprünglichen Positionen. Das Heft mit den Skizzen behielt sie.

So langsam, wie es ihre angespannten Nerven zuließen, schritt sie die drei Räume des Ateliers ab. In der mittleren Werkstatt entdeckte sie eine alte Holztür hinter einigen Blöcken unbehauenen Alabasters. Während sie noch überlegte, wie sie die schweren Brocken beiseiteschaffen könnte, um die Tür zu öffnen, fiel ihr auf, dass diese zu keinem Durchgang gehörte. Auch sie war aus Stein gefertigt, eine Sinnestäuschung, wie so vieles in Massimos Zauberwelt.

Schließlich kehrte Giulia dorthin zurück, wo der Torso mit der Schlange im Nabel stand. Sie hob eine Staubdecke hoch, unter der eine halb fertige Statue zum Vorschein kam: eine Nymphe, die sich Wasser aus einem Krug über den Kopf goss. Ihr Oberkörper war nackt. Ihr Unterleib war noch von einem unbehauenen Stück Alabaster umkleidet. Auch sie war keine Stella.

Ein Haufen Steinblöcke war an der Südwand des Ateliers aufgeschichtet. Darüber hingen eine schwarz-weiße Fotografie und ein Schränkchen aus hellem Holz. Das war der einzige Ort, an dem Giulia noch nicht nachgesehen hatte.

Sie erstarrte. War da ein Geräusch im vorderen Raum zu hören? Kam der Bildhauer zurück? Nein. Sie hörte noch immer Sergios Stimme. Er rief etwas.

Giulia legte das Heft mit den Skizzen ab und stieg auf die Steinblöcke. Mit ihren eleganten Schuhen fand sie nur unsicheren Halt auf den Quadern. In den Oberflächen des Gesteins waren Riefen erkennbar, die vermutlich vom Abbau des Alabasters herrührten. Sie boten Giulias Händen Halt, während sie vorsichtig weiterkletterte, auf das Schränkchen zu.

Dann rutschte sie ab.

Ihr rechter Fuß geriet in eine Lücke zwischen den Steinen. Schmerz fuhr in ihren Knöchel. Fast hätte sie aufgeschrien. Der Fuß steckte fest.

Sie versuchte, das Bein zu befreien. Es protestierte bei jeder Bewegung. Giulia griff nach einem der Steine und räumte ihn beiseite. So war es besser. Ihr Fuß klemmte zwar immer noch fest, aber der Schmerz hatte ein wenig nachgelassen. Der nächste Stein folgte. Dann noch einer. Giulia streckte sich und schöpfte Atem.

Als sie sich wieder den Steinen zuwenden wollte, sah sie die Büste.

Sie lag unter dem Steinhaufen und trug Stellas Gesicht. Es war bleich wie das einer Leiche. Im ersten Augenblick hatte Giulia den Eindruck, die tote Stella läge unter dem Alabaster begraben. Vor Schreck hielt sie sich eine Hand vor den Mund, um einen kleinen Schrei einzufangen.

Obwohl die Züge der Schauspielerin gut erkennbar waren, schien das Werk unvollendet zu sein. Die Oberfläche war nur grob behauen, den Haaren fehlten Details, den Augen die Pupillen. Scheinbar blind schaute Stellas Abbild zu Giulia empor. Auch das trug zu dem Eindruck bei, eine Tote läge unter den Steinen verborgen.

Giulia atmete tief durch. Sie hatte eine Spur in der Werkstatt gefunden, war ihr gefolgt und hatte das Geheimnis des Bildhauers entdeckt. Massimo P. Cini hatte eine Büste von Stella Aurora angefertigt und sie dann unter seinem Rohmaterial verborgen gehalten.

War er deshalb ein Mörder?

Das würde sie mit Sergio besprechen. Sie holte ihr Telefonino hervor und fotografierte Stellas weißes Gesicht.

»Signora! Was machen Sie denn da?« Die Stimme Massimos ließ sie zusammenfahren. Sie wollte zurückweichen, aber ihr Fuß steckte noch immer fest.

Giulia schrie auf.

Als Nächstes sah sie, wie sich der Bildhauer hektisch in seinem Atelier umschaute. »Sie!«, rief er, als er die aufgebrochene Schublade entdeckte. »Sie wollten mich bestehlen.« Dann sah er das Loch, aus dem Stellas Antlitz hervorschaute. Eine Veränderung schien mit ihm vorzugehen. Ein Zittern befiel ihn. Er schlang die Arme um den Leib und schüttelte den Kopf. In stummer Zwiesprache mit sich selbst bewegten sich seine Lippen.

Giulia versuchte noch einmal, ihren Fuß zu befreien. Vergeblich.

Sie keuchte.

Massimo schaute zu ihr herüber. Dann kam er mit schleppenden Schritten auf sie zu.