Kapitel 11
Massimo P. Cinis Alabasterwerkstatt lag nur einen Steinwurf vom Römischen Theater entfernt. Wer den Panoramaweg oberhalb der Ruinen entlangspazierte und dann in die Gassen der Altstadt eintauchte, kam zwangsläufig am Atelier des Bildhauers vorbei. Entsprechend gut besucht war seine Arbeitsstätte. Diesen Effekt förderte Massimo noch dadurch, dass er die doppelflügelige Tür zur Werkstatt stets offen hielt und den Passanten einen neugierigen Blick in seine weiße Welt ermöglichte. Der genügte meist, um aus ihnen Besucher zu machen.
Sergio war zu Fuß den Borgo San Giusto hinaufgeeilt und hatte dann die steilen Stufen entlang der Stadtmauer erklommen, um schnell hierherzugelangen. Ein bisschen Atem hatte er noch für ein Telefonat mit Alessandro verbraucht. Der Kollege hatte vermutet, dass Sergio noch mit Giulia herumtändelte. Sergio hatte ihm kurz berichtet, dass sein Vater zum Verhör nach Pisa gebracht worden sei. Statt vom geplanten Besuch in der Alabasterwerkstatt zu erzählen, war er vage geblieben: Er habe noch etwas zu tun und werde danach in die Wache zurückkehren.
Eine Gruppe Touristen kam Sergio entgegen, als er die Werkstatt betrat. Die Senioren, die das Atelier im Entenmarsch verließen, trugen bunte T-Shirts und darüber Warnwesten. Hinter ihnen schlenderte ein junger Mann mit dunklem Hemd und verspiegelter Sonnenbrille her. In der Hand hielt er eine abgebrochene Autoantenne, an der ein Stofftaschentuch befestigt war.
»Ciao, Carlo«, grüßte Sergio den Stadtführer. »Was bedeuten die Westen? Müssen sich deine Kunden jetzt warm anziehen, oder gibt es hier ein neues Sicherheitskonzept, von dem ich noch nichts weiß?«
Carlo grinste so breit, dass seine Brille ein bisschen verrutschte. »Das sind Niederländer«, erklärte er und wedelte dabei mit der Antenne. »Wegen des Fußball-Länderspiels ihrer Landsleute gegen Frankreich heute Abend wollten sie ihre Nationalfarbe tragen, und einer von ihnen hatte diese Idee mit den orangefarbenen Westen.« Er zuckte mit den Schultern und eilte hinter der Gruppe her.
Im Eingangsbereich türmten sich Alabasterbrocken. Aus dem hellen Geröllhaufen ragten Skulpturen, als würden sie einfach so aus dem Werkstoff wachsen: ein männlicher Torso, die Büste einer Frau, eine hohe Vase mit Blumenornamenten. Es roch nach dem heißen Metall einer jüngst benutzten Schleifmaschine und nach kaltem Staub. Der Steinboden und die grob gemauerten Wände mit den alten Fotos hatten ebenso die Farbe des Alabasters angenommen wie die niedrige, gewölbte Ziegeldecke, die Regale, Paletten und Schemel. Die Umgebung sah aus wie eingefroren.
Die Werkstatt erstreckte sich über drei höhlenartige, gepuderte Räume. Im hinteren traf Sergio auf Massimo P. Cini.
Der Bildhauer sah in seinem weißen T-Shirt und der gleichfarbigen Hose wie ein Bäcker aus, der gerade einen Teig knetet. Seine Hände wirkten lang gezogen, als würde man sie durch einen Zerrspiegel betrachten, und umschlossen eine grazile steinerne Arbeit, deren Form nicht genau zu erkennen war. Massimo war schlank, beinahe dünn, aber muskulös. Er trug sein silbergraues Haar recht lang für einen Mann über sechzig und einen eleganten Schnauzbart. Als er Sergio sah, verhüllte er sein Werk mit einem zerschlissenen Tuch, legte seine Arbeitsbrille auf einem Schemel ab und musterte sein Gegenüber.
»Buona sera, Signore. Gibt es einen Alabasternotfall? Oder warum kommt die Polizei hierher?«
»Etwas in der Art, Signor Cini«, antwortete Sergio.
Er schaute sich um. Er wollte vermeiden, sofort seinen Namen zu nennen, lieber erst einmal mit dem Künstler ins Gespräch kommen. Vor einer Wand lag in einem meterhohen Durcheinander ein Haufen Steine. Darüber hing ein Bild, die verblichene Schwarz-Weiß-Fotografie einer Werkstattszene mit der Aufschrift Volterra – Hauptstadt des Alabasters.
Sergio deutete darauf. »Farbfilme in der Kamera haben sich hier wohl noch nie gelohnt.«
»Das ist ein Irrtum«, entgegnete der Bildhauer. »Der Alabaster aus den Gruben in unserer schönen Umgebung hat mehr als drei Dutzend Farben. Deshalb ist er ja auch einzigartig auf der Welt.«
Er griff in ein Regal neben sich und reichte Sergio zwei längliche, grob bearbeitete Stücke Stein. Dann lotste er ihn in einen Nebenraum.
»Dort ist mehr Licht, mehr Erkenntnis«, sagte Massimo, ließ Sergio vorgehen und zog einen Vorhang hinter sich zu. In dem Raum stand in einer Ecke eine Werkbank unter zwei Strahlern. »Die Alabasterkunst ist halb Handwerk, halb Zauberei.«
Sergio drehte die beiden Lehrstücke in dem grellen Licht. Einige Stellen waren glatt und glänzend, andere stumpf und körnig, hier waren Spuren von Rot und Grau zu erkennen, dort eine Art Durchsichtigkeit.
»Den Stein bearbeitet man nicht nur, man verwandelt ihn auch«, sprach Massimo weiter. »Deshalb kann ich damit ebenso eine Wand verkleiden wie eine nackte Schönheit erschaffen.«
»Können Sie sie auch zum Leben erwecken?«
»Hätten Sie sich meine Arbeiten genau angesehen, würden Sie eine solche Frage nicht stellen.« Massimo ließ sich auf einem Schemel neben der Werkbank nieder und zeigte auf einen Hocker mit einem verstaubten Sitzkissen darauf. »Nehmen Sie Platz, Signor Panda, und sagen Sie mir, was Sie wirklich hier wollen.«
Sergio legte das Kissen beiseite und setzte sich. Der Bildhauer wusste, wer er war?
Als hätte er Sergios Gedanken gelesen, erklärte Massimo: »Ich bin ein Bewunderer Ihrer Fotografien, Signore. Sehnsüchtig erwarte ich schon die nächste Ausstellung des Fotoklubs.«
Jetzt wollte Sergio ebenfalls die Plauderei beenden. Er musste zur Sache kommen.
»Sie kennen meinen Vater.«
Massimo lächelte seine Hände an. »Das müsste zwar eigentlich strafbar sein, ist es aber – soweit ich weiß – nicht. Noch nicht.«
»Und Sie kannten Stella Aurora.«
Massimos Blick haftete an seinen Händen. »La bella Stella … wer kannte sie nicht?«
Dieser Künstler formte das Gespräch wie einen Brocken Alabaster. Aber Sergio würde ihm schon den Meißel aus der Hand nehmen.
»Sie haben Stella vorgestern getroffen.«
»Da ist Ihr Signor Vater mir wohl zuvorgekommen, wie man hört. Manche Dinge ändern sich nie.«
»War sie hier, in Ihrem Atelier?«, fragte Sergio beharrlich weiter.
Der Bildhauer erhob sich von der Bank und rieb sich die Hände, dass es staubte. Ohne Sergio anzusehen, sagte er: »Nein, war sie nicht. Ich habe jetzt zu arbeiten, Signor Panda. Wenn Sie mich entschuldigen wollen? Das ehrbare Handwerk ruht nicht gern.«
Nachdenklich verließ Sergio die Werkstatt. Massimo P. Cini war nicht gerade auskunftsfreudig gewesen. Gab es unter dem weißen Staub mehr zu entdecken, als auf den ersten Blick erkennbar war? Vor der Ateliertür blieb Sergio stehen, nahm die Dienstmütze ab und kratzte sich im Nacken. Von hier aus war die Mauer über dem Römischen Theater zu sehen. Sergio legte den Weg dorthin in einer halben Minute zurück. An dieser Stelle war Stella zu Tode gekommen. Vermutlich war sie von ihrem Mörder in die Tiefe gestoßen worden.
Sergio drehte sich um und schaute in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Die Entfernung zu Massimos Atelier war so gering, dass er das Schild neben der Tür lesen konnte. Polvere stand darauf. Staub. Das war der Titel von Massimos Initiative zur Rettung des Alabasterhandwerks.
Das Römische Theater. Die Werkstatt. Gab es eine Verbindung zwischen den beiden Orten?
Nachdenklich stützte Sergio die Hände auf die hüfthohe Mauer und schaute zu den Ruinen hinab. Der Zugang war nach wie vor geschlossen. Das Nachmittagslicht strahlte die Reste der Bühne aus wie ein gewaltiger Scheinwerfer. Aber es war niemand da, den es zu beleuchten galt. Das Theater selbst war der Hauptdarsteller.
Sergio hatte diesen Ort immer geliebt. Er zeigte ihm, dass die Stadt, in der er lebte, Menschen schon seit Tausenden von Jahren am Herzen lag. Während er den Blick über die von Gras überwucherten Sitzplätze schweifen ließ, stellte er sich vor, welche Geräusche hier einmal zu hören gewesen waren: Beifall, Begeisterungsrufe, Beleidigungen. Das Leben war in diesem Theater zu Hause gewesen. Aber nicht auf der Bühne. Da war es nur nachgestellt worden. Die echten Gefühle hatte es auf den Rängen gegeben.
Weiter hinten auf dem Gelände waren Grundmauern im verdorrten Gras zu erkennen. Dort hatten Archäologen die Reste eines antiken Badehauses gefunden. Die Säulen, die zusammengestürzt im Boden gelegen hatten, waren wieder aufgestellt worden. Mit etwas Fantasie konnte man sich vorstellen, wo damals die Badebecken gelegen hatten, wo man unter Säulengängen herumspaziert war und einen Tag in guter Gesellschaft genossen hatte.
Um eine der Säulen hatte der Wind eine Plastikplane gewickelt. Das war alles, was von Stella Auroras Unglück an diesem Ort übrig geblieben war. Und auch die Plane würde in den nächsten Tagen entfernt werden. Dann wäre alles wie zuvor. Und doch würde es das nie wieder sein.
So viele Eindrücke! Sergio spürte, wie die Gedanken über seinem Geist zusammenschlugen. Stellas Körper. Dasselbe geblümte Sommerkleid, das sie getragen hatte, als sein Vater sie ausgeführt hatte. Der Alabaster auf ihrem Gesicht, ihren Beinen, ihren Schuhen.
Sergio stutzte. Eine Erinnerung stieg aus der Tiefe seines Bewusstseins auf. Aber sie schaffte es nicht bis an die Oberfläche. Er klopfte mit lockerer Faust auf die Mauer. Was war da gewesen? Noch einmal rief er sich ins Gedächtnis, wie er bei Stella Wache gehalten und darauf gewartet hatte, dass die Kollegen aus Pisa anrückten. Die Hitze. Seine Uniformjacke, die er über Stella ausgebreitet hatte. Die Menschen, die von der Mauer über den Rängen zu ihm heruntergeschaut hatten. Sie hatten genau da gestanden, wo er sich jetzt befand. War Stellas Mörder unter ihnen gewesen? Sergio kannte den Mythos, der besagte, dass ein Verbrecher immer zum Tatort zurückkehrte. Aber das gab es nur in Krimis. Er betrachtete den Boden vor der Mauer. Bis auf ein paar Ölflecken war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Einige Besucher kamen sogar mit dem Motorroller hierher, weil ihnen der Aufstieg zu Fuß zu beschwerlich war.
Stella war zu Fuß unterwegs gewesen.
Im Teatro hatte einem ihrer Schuhe der Absatz gefehlt. Sie mochte ihn bei ihrem Sturz verloren haben.
Sergio beugte sich über die Mauer und schaute hinab. Die Sonne stand schon tief, und das Rund der antiken Sitzreihen lag jetzt im Schatten. Auf den Steinen wucherte Kriechmispel. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten das Theater bestimmt gründlich untersucht. Wenn Stellas Schuhabsatz dort unten gelegen hätte, dann hätten sie ihn gefunden. In den Berichten aus Pisa hatte nichts darüber gestanden.
Wenn sie ihn aber schon vor ihrem Sturz verloren hatte? Sergio rieb sich die Wange. Die Stoppeln seines Dreitagebarts kratzten über seine Hand. Auch hier oben werden sich die Kriminaltechniker umgesehen haben, überlegte er. Trotzdem zwickte ihn etwas an der Sache. Noch einmal schaute er zu Massimos Atelier hinüber. Langsam, als wäre er von seinen Zweifeln an die Theatermauer gekettet, ging Sergio den Weg zur Werkstatt zurück. Er streckte eine Hand aus und strich über eine weiß verputzte Hauswand. Vor einem Fenster war ein Eisengitter angebracht. Darüber war eine Laterne in die Fassade montiert. Sergio schaute nach unten. Der Straßenbelag war schadhaft. Zwar hatte man ihn an einer teppichgroßen Stelle ausgebessert, sonst zeigte er aber Risse. Die Spalten liefen ein Stück weit auf das Atelier zu und verschwanden dann unter einem parkenden Auto.
Sergio schaute zwischen die Eisenstangen eines Gullis, tastete hinter einem Blumenkübel herum und schob einen Müllcontainer zur Seite. Wieder fielen ihm die Risse im Asphalt auf. Sie liefen durch den Bodenbelag wie Krampfadern durch die graue Haut von Greisen, bis sie unter einem am Rand der Gasse abgestellten feuerblauen Ford verschwanden.
Sergio kniete sich hin und spähte unter den Wagen. Etwa unterhalb der Ölwanne war etwas zu sehen. Er streckte den Arm aus, erreichte das Ding aber nicht. Er legte sich flach auf den Boden, presste die Wange gegen den warmen Asphalt und versuchte es noch einmal. Die Nähte seines Hemdes spannten bedenklich, als er versuchte, das Objekt mit den Fingerspitzen zu erreichen. Doch der Wagen war zu breit. Gerade hatte er sich entschlossen, unter den Ford zu kriechen, als sein Telefon klingelte. Es steckte in einer Seitentasche seiner Uniformjacke. Sergio warf seiner Entdeckung einen letzten sehnsuchtsvollen Blick zu. Dann stand er auf und zog das Telefon hervor. Es war die Wache.
»Sergio hier«, sagte er. Diesmal hatte er daran gedacht, das Gerät über Nacht aufzuladen.
»Du musst sofort zur Piazza kommen«, sagte Alessandro in der Geschwindigkeit, mit der er für gewöhnlich auf die Tastatur seines Computers einhämmerte. »Die Theaterschauspieler und die Teilnehmer des Palio geraten sich hier in die Haare.«
Sergio ging noch einmal in die Knie, während er sich das Telefon ans Ohr presste. »Muss das jetzt sein?«, fragte er. Er hörte Menschen durcheinanderrufen, dann kehrte Alessandros Stimme zurück. »Ich muss jetzt zurück in die Wache. Du kommst besser her, oder wir werden Verstärkung aus der Nachbarstadt rufen müssen.«
Sergio legte auf und lief los.