Kapitel 17
Warum hast du mir nichts davon erzählt?«, brach es aus Sergio heraus.
»Was erwartest du?«, fragte Angelo. »Stella ist zu Massimo gegangen. Na und? Nach unserem Wiedersehen hat sie mit ihm vielleicht auch noch Erinnerungen aufgefrischt, wer weiß? Dafür verpfeife ich niemanden. Nicht mal diesen sogenannten Künstler und Möchtegerncasanova!«
Für einen Moment sah es so aus, als würde der Streit zwischen Vater und Sohn wieder ausbrechen. Da hielt Giulia ihren Grappa am ausgestreckten Arm zwischen die beiden Männer und rief: »Salute! Auf die Liebe!«
Sie tranken. Wärme breitete sich in Sergios Magen aus und strömte von dort durch alle Körperregionen. Dennoch ließ ihm der Gedanke keine Ruhe.
»Und wenn Massimo Stella ermordet hat?«
»Der? Der kann doch nicht mal Pasta kochen. Der bringt niemanden um. Schon gar nicht jemanden wie Stella.«
Sergio war sich da nicht so sicher. Sein Vater wusste nichts von dem Absatz, den Sergio bei Massimos Werkstatt gefunden hatte.
»Hinkte Stella, als sie die Gasse hinunterging?«, fragte Sergio.
»Du hast sie doch selbst gesehen, als sie hier in der Trattoria war. Sie hinkte nicht, sie ging nicht – sie schwebte.« Die Erinnerung brachte Angelos Augen zum Leuchten.
Sergio lächelte seinem Vater zu. In Gedanken war er jedoch nicht mit ihm und Giulia in der Küche des Il Gusto, sondern in der Gasse beim Römischen Theater. Wenn Stellas Schuhe noch in Ordnung gewesen waren, als sie Angelo verlassen hatte, dann musste sie den Absatz erst später verloren haben, nachdem sie Massimo P. Cini besucht hatte. Aber warum war sie dann noch einmal zum Theater gegangen?
»Du hast sie danach also nicht mehr gesehen? Du hast nicht am Theater auf sie gewartet?«, fragte Sergio weiter.
»Als ich sie in Massimos Atelier verschwinden sah, bin ich nach Hause gegangen«, antwortete Angelo. »Ich habe dich noch in der Trattoria aufräumen sehen, aber ich bin gleich nach oben gegangen. Gesellschaft hatte ich an diesem Abend genug. Mein Junge, deine Verhörtechniken sind schlimmer als die deiner Kollegen in Pisa.«
»Was hast du denen eigentlich erzählt?«
»Jedenfalls nichts von dem, was ich euch beiden gerade gesagt habe. Und ich erwarte, dass ihr das alles für euch behaltet. Weder die sbirri noch unsere Jungs hier im Viertel dürfen etwas davon erfahren. Die einen würden mich einsperren und die anderen für einen Waschlappen halten.«
Die Spülmaschine kam mit einem stotternden Geräusch zum Stillstand. Angelo riss die Klappe auf. Heißer Dampf stieg auf und hing für einen Moment wie Nebel in der Küche.
»Wenn das alles ist, Commissario Terremoto, würde ich jetzt gern gehen«, sagte er. »Mein Lokal ist ein Schlachtfeld und mein Herz ein Trümmerhaufen. Gönn deinem alten Vater etwas Ruhe. Jedenfalls für heute.« Er bedankte sich noch einmal bei Giulia und sagte, wenn sie sich bereit erkläre, ihn wieder aus Pisa abzuholen, würde er sich liebend gern wieder verhaften lassen.
Sergio versuchte noch, ihm zu erklären, dass es sich nicht um eine Verhaftung gehandelt hatte, doch da war Angelo schon zur Küchentür hinaus. Sergio hörte ihn noch im Lokal rumoren.
»Geh nach Hause, babbo. Ich kümmere mich schon ums Aufräumen«, rief Sergio, während er mit Giulia die Spülmaschine ausräumte.
Bald darauf verstummte das Geräusch von scharrenden Stuhlbeinen. Stille kehrte in die Trattoria ein.
Giulia faltete ein Geschirrtuch und hängte es über eine Stange. »Das wär’s dann. Jedenfalls hier in der Küche.«
»Grazie«, sagte Sergio. »Ohne dich wäre das hier eine Katastrophe geworden.«
»Unsinn!«, erwiderte Giulia. »Ich bin nur die Busfahrerin.«
Aber die schönste Busfahrerin, die ich kenne, wollte Sergio sagen. Im letzten Moment biss er sich auf die Lippen. War das überhaupt ein Kompliment? Er kannte nur männliche Busfahrer. Und die waren alles andere als Schönheiten.
»Schon gut«, sagte Giulia. »Du musst nichts sagen, was du nicht sagen willst. Komm mich mal wieder in der Pause besuchen und zeig mir neue Fotos. Wir sehen uns bald.«
Sie ging zur Tür der Küche.
»Warte!«, rief Sergio und streckte einen Arm nach ihr aus. Er bekam ihre Hand zu fassen und spürte ihr Armband aus Holzperlen unter seinen Fingern.
Giulia blieb stehen und drehte sich zu ihm um.
Sergio atmete tief durch. »Du bist die schönste Busfahrerin, die ich kenne«, sagte er. »Und ich würde dich gern so schnell wie möglich wiedersehen.«
Ein Lächeln erblühte auf ihrem Gesicht. Sie beugte sich vor und küsste Sergio auf die Wange. Er spürte, dass etwas von ihrem Lippenstift auf seiner Haut zurückblieb – und noch etwas anderes.
»Steig einfach morgen früh wieder in den Bus, dann siehst du mich«, sagte Giulia. »Aber bis dahin vergeht ja noch einige Zeit. Und wir haben noch jede Menge vor.«
Sergio stockte der Atem. Wollte sie etwa bei ihm übernachten? Er spürte Erregung in sich aufsteigen. Sein Mund wurde trocken.
»Denn wir räumen jetzt das Lokal auf«, fuhr Giulia fort. »Oder willst du deinem Vater morgen den Laden in diesem Zustand übergeben?« Sie deutete in die Gaststube.
Er versuchte, seine Erregung zu unterdrücken, und hoffte, dass seine Stimme normal klang. »Das Aufräumen erledige ich schon selbst.«
Doch Giulia war schon in der Gaststube verschwunden. »Oh!«, hörte er sie rufen. »Was ist denn hier passiert?«
Sergio lugte um die Ecke. Das Lokal sah noch immer aus wie nach einem Gelage. Essensreste klebten in trocknenden Pfützen verschütteter Limonade. Es roch nach Pizza, Erdbeerkaugummi und Kinderfüßen. Aber jetzt waren die schmutzigen Tische beiseitegeschoben, und mitten in dem Chaos war eine Lichtung entstanden. Darin stand ein einzelner Tisch, der für zwei Personen gedeckt war. Besteck, Teller und Weingläser glänzten im Licht zweier Kerzen. Im Dämmerschein wirkten die Seidenblumen auf der weißen Tischdecke beinahe echt.
Giulia ging um den Tisch herum und strich mit den Fingern über das Flechtwerk der Stuhllehnen. »Das war doch dein Vater?«
»Solche Gesten kenne ich gar nicht von ihm«, sagte Sergio. »Irgendwas muss in ihn gefahren sein.«
»Oder irgendjemand«, sagte Giulia.
Auf dem Tisch stand ein zu einem Dach gefaltetes Kärtchen, eines der Reserviert-Schilder des Hauses. Darauf hatte jemand mit flüchtiger Hand einige Worte gekritzelt.
»Ich räume morgen früh auf. Kümmert euch um das Himbeertiramisu im Kühlschrank der Cocktailbar, las Sergio laut vor. Eine Unterschrift fehlte. Aber die war auch nicht nötig.
Er schaute Giulia fragend an. »Noch Appetit?«
»Das kommt darauf an, ob du jetzt mein Tischgenosse oder mein Kellner bist«, sagte sie und griff nach der Karte, um sie selbst zu lesen.
»Immer eins nach dem anderen«, sagte Sergio und zog einen der Stühle zurück.
Giulia nahm Platz. Das Licht der Kerzen brachte ihre markanten Züge zur Geltung.
»Nur einen Augenblick.« Sergio verschwand in der Kammer hinter der Theke. Im Kühlschrank fand er die Platte mit dem Himbeertiramisu. Ein stattlicher Rest der rot-weißen Köstlichkeit war noch da. Daneben stand eine Flasche Vernaccia. Auf dem Etikett klebte ein weiterer Zettel. Keine Flecken auf die Sitze des Cinquecento, hatte sein Vater daraufgekritzelt. Sergio konnte förmlich hören, wie er dabei in die hohle Hand gelacht hatte.
Er knüllte den Zettel zusammen und ließ ihn in seiner Hosentasche verschwinden. Dann zog er das silberne Tablett mit den ziselierten Griffen aus dem Kühlschrank und stellte es auf die Arbeitsplatte. Mit einem Messer schnitt er zwei große Portionen Tiramisu ab und ließ sie vorsichtig in Schälchen gleiten. Er wischte noch einen Klecks fort, der sich an den Rand des Geschirrs verirrt hatte. Dann trug er den Wein und die Nachspeise in die Gaststube und stellte eine Schale vor Giulia und die andere an seinem Platz ab.
»Das war der Kellner«, verkündete Sergio und blickte streng, »und hier kommt der Tischgenosse.« Er drehte sich einmal im Kreis. Als er wieder an seinem Ausgangspunkt angekommen war, hatte sich seine ernste Miene in ein charmantes Lächeln verwandelt.
Giulia klatschte in die Hände. »Bravo. In dir steckt ja ein richtiger Schauspieler.«
»Vielleicht habe ich von der Compagnia etwas gelernt«, sagte Sergio und setzte sich ihr gegenüber. »Ich war heute bei den Theaterleuten.«
Er entkorkte den Wein und goss ihr ein wenig ins Glas. Sie kostete den Tropfen und nickte. Sergio schenkte nach und goss auch sich selbst ein. Sie prosteten sich zu.
»Ich muss gestehen, dass ich noch nie Tiramisu als Hauptgang hatte«, sagte Giulia.
»Eine Spezialität des Hauses«, erklärte Sergio. »Es ist Antipasto, erster Gang, zweiter Gang und Nachtisch in einem.«
»Klingt raffiniert.« Giulia betrachtete aufmerksam die Himbeeren auf der Mascarponecreme in ihrem Schälchen. »Und sehr ökonomisch.« Sie nahm einen kleinen Löffel und probierte. »Außerdem schmeckt es großartig. Da wünscht man sich gleich, noch mal zehn zu sein.«
»In den Biskuitboden mischen wir Schokolade statt Kaffee. Die Kinder lieben das.«
Sie genossen das kleine Gericht. Zwischendurch lehnte sich Giulia in ihrem Stuhl zurück und ließ den Blick durch die Trattoria schweifen. »Wo ist denn nun dieses Loch in der Wand, das Massimo hineingeschlagen haben soll?«
Sergio deutete auf den Heizkörper im vorderen Teil des Lokals. Darüber war die Mulde in der Wand zu sehen.
»Und diese Wildschweine?«, wollte Giulia als Nächstes wissen. »Hat dein Vater die alle selbst erlegt?« Sie zeigte auf eine Wand im hinteren Teil des Il Gusto. Mehrere Köpfe von Keilern hingen über den Tischen. An einer Stelle waren ausgestopfte Wildschweinklauen auf ein Brett montiert. Sie dienten als Garderobenhaken.
Sergio musste lachen, als er sich Angelo mit einem Gewehr vorstellte. »Mein Vater kann zwei Gläser Wein, drei Teller Suppe und vier Gläser Grappa zu Fuß bis hinauf zur Piazza bringen, und wenn er ankommt, ist das Essen noch warm und er hat keinen Tropfen Alkohol verschüttet. Aber wenn er jemals ein Gewehr in die Hand nehmen sollte, dann lauf weg, so schnell du kannst.«
Giulia lachte. »Aber woher kommen dann diese Wildschweinköpfe?«
»Ob du es glaubst oder nicht – die hat meine Mutter geschossen. Du weißt ja, dass die Jagd hier in der Region große Bedeutung hat. Als meine Mutter noch lebte, kamen jeden Samstag die Jäger zu uns in die Trattoria, stärkten sich für ihren Ausflug und zogen am nächsten Tag frühmorgens los. Jedes Mal versuchten sie, meinen Vater zum Mitkommen zu überreden. Aber er kann Schusswaffen nicht ausstehen. Seiner Meinung nach hat Gott dem Menschen Fäuste gegeben, um seine Meinung zu vertreten – nicht Gewehre.«
»Dein Vater scheint ein gläubiger Christ zu sein.« Giulias Löffel hing unbeweglich über dem Tiramisu. »Aber wieso hat deine Mutter Wildschweine geschossen?«
»Die Jäger gaben keine Ruhe. An einem dieser Samstage kam mamma aus der Küche gerauscht und hat ihnen gedroht, sie sollten Angelo endlich in Ruhe lassen oder verschwinden. Da hat Zitadelle gesagt, dass meine Mutter ja stattdessen auf die Jagd mitkommen könne, wenn ihr Mann die Hosen voll habe. Das war natürlich nur als Scherz gemeint, verstehst du?«
Giulia nickte.
»Aber mit meiner Mutter trieb man keine Scherze. Sie hat sich die Schürze losgebunden, die Jacke angezogen und sich in die Tür gestellt. ›Wann geht’s los?‹, hat sie gefragt. Tja, da konnten die Jungs nicht mehr zurück. Und als sie von der Jagd zurückkehrten, haben sie einen dieser Keiler in die Trattoria geschleppt. Mamma hatte ihn erlegt. Mit einem einzigen Schuss.«
»Ist das einer von denen da?« Giulia deutete auf die Wildschweinköpfe. Die Augen aus Glasmurmeln funkelten im Kerzenschein. Die Tiere schienen sie anzublicken.
»Der linke dort drüben«, sagte Sergio. »Die anderen sind auch von ihr, weil die Jäger danach nicht mehr ohne sie losziehen wollten. Sie haben sie jedes Wochenende hier abgeholt. Sie wurde so etwas wie der gute Geist der Gruppe.«
Giulia zählte die Trophäen mit ausgestrecktem Finger. »Und nach fünf Treffern hat sie dann aufgehört? Vermutlich war dein Vater eifersüchtig.«
»Sie ist krank geworden. Das Herz. Sie vertrug die Aufregung nicht mehr. Es ging ihr aber noch lange Zeit gut. Erst viele Jahre später ist sie daran gestorben.«
Giulia legte eine Hand auf Sergios Finger.
Er sah zu den Wildschweinköpfen hinüber. »Manchmal denke ich, sie schaut von da oben auf die Gaststube herab und sieht nach, ob alles in Ordnung ist.«
»Nach einem Abend wie diesem müssten diese Köpfe anfangen zu lächeln«, sagte Giulia.
Als die Weinflasche geleert war, stand Giulia auf. »Danke für den wunderbaren Abend.«
Auch Sergio schob seinen Stuhl zurück. Er begleitete sie zur Tür. Bevor sie in die Nacht verschwinden konnte, hielt er sie fest und küsste sie. Ihr Parfum vertrieb den Geruch der Trattoria aus seiner Nase. Giulia legte die Hände an seinen Rücken, ließ sie hinabgleiten und verharrte an der Hosentasche.
»Trägst du immer eine Pistole, wenn du Frauen küsst?«, fragte sie.
»Man kann nie wissen«, sagte Sergio. Dann erst fiel ihm ein, was Giulia meinte.
Sie knöpfte Sergios Gesäßtasche auf, holte den Absatz hervor und musterte das Fundstück. »Das ist wohl ein Andenken an ein besonders stürmisches Rendezvous.«
Sergio hatte eigentlich nicht vorgehabt, Giulia in seine Nachforschungen zu Stellas Tod einzuweihen. Aber wenn er ihr die Herkunft des Absatzes jetzt nicht erklärte, würde sie vielleicht wirklich denken, es gebe noch eine andere Frau. Oder sogar mehrere.
»Also, das ist jetzt vielleicht unpassend«, begann er.
Giulia ließ den Absatz sinken. In ihrem Blick breitete sich Enttäuschung aus.
»Aber das ist womöglich ein Absatz von Stellas Schuh«, setzte er hinzu.
Beinahe hätte Giulia ihn fallen gelassen. Stattdessen hielt sie ihn mit zwei Fingern hoch. »Ist das ein Beweisstück?«
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Sergio. Die Atmosphäre, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, begann sich zu verflüchtigen. Er spürte, wie er sich vom eleganten Plauderer wieder in einen Polizisten verwandelte und schaute zu Boden. Im Lichtschein, den die Trattoria-Laterne durch das Türfenster warf, konnte er sehen, dass Giulia Sandaletten trug.
»Du hast ja auch Absätze«, entfuhr es ihm.
»Das fällt dir aber früh auf«, gab sie zurück.
Er überging die Bemerkung. »Dann kannst du mir bestimmt helfen.« Er nahm ihr den Absatz aus der Hand. »Den hier habe ich in der Nähe des Römischen Theaters gefunden. Ich glaube, dass er zu Stellas Schuh gehörte.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Giulia.
»Als sie im Römischen Theater gefunden wurde, fehlte der Absatz ihres linken Schuhs.«
»Also gut«, räumte Giulia ein. »Nehmen wir mal an, du hast recht. Was verrät dir das?«
»Das Ding steckte im Asphalt der Gasse, die vom Teatro Romano …«, er zögerte.
»… zu Massimos Werkstatt führt«, vollendete Giulia den Satz. »Deshalb hast du deinen Vater gefragt, ob ihm etwas an Stellas Gang aufgefallen sei. Du wolltest wissen, ob sie den Absatz schon verloren hatte, als sie zu Massimo ging, oder erst, als sie seine Werkstatt wieder verlassen hat.«
Sergio nickte. »Mein Vater hat ja gesagt, ihm sei nichts aufgefallen. Also muss Stella den Absatz nach ihrem Besuch bei Massimo verloren haben.«
Giulia drückte auf den Lichtschalter neben der Tür. Die Lampen flackerten und klickten. Dann ergoss sich strahlende Helligkeit in den Raum. Sergio und Giulia kniffen einen Moment lang die Augen zusammen. Als sie sich an den Lichtschein gewöhnt hatten, war die romantische Stimmung im Summen der Neonröhren verflogen.
Giulia pflückte Sergio den Absatz wieder aus den Fingern und betrachtete ihn von allen Seiten. »Klassisches Damenunglück«, sagte sie. »Der Schuh bleibt irgendwo stecken. Man merkt es zu spät und geht weiter. Knacks.«
»Steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man einen eingeklemmten Absatz verliert, wenn man schnell läuft?«, fragte Sergio.
»Natürlich«, antwortete Giulia. »Wenn du spazieren gehst und dein Schuh bleibt stecken, hast du Zeit genug zu reagieren. Vielleicht schaffst du es, rechtzeitig stehen zu bleiben und die Katastrophe abzuwenden.« Sie massierte ihre Stirn. »Du glaubst, Stella wäre schnell gelaufen, vielleicht vor jemandem geflohen, bevor sie von der Mauer gestürzt ist?«
»Glauben ist etwas für Priester«, erwiderte Sergio. »Ich versuche, eine Spur zu finden, der ich folgen kann. Nur mal angenommen: Stella geht die Gasse hinunter. Der Schuh bleibt stecken, und der Absatz bricht ab. Was würdest du in so einem Fall tun?«
»Entweder würde ich versuchen, das verfluchte Teil wieder einzusammeln, damit ein Schuster meine sündhaft teuren Schuhe reparieren kann. Oder, wenn das nicht funktioniert, gehe ich halt weiter«, erklärte Giulia.
»Ziehst du den anderen Schuh aus, oder behältst du ihn an?«
»Du bist doch bestimmt schon mal mit nur einem Schuh ein paar Schritte gelaufen«, sagte sie. »Das ist schon mit niedrigem Absatz etwas für Artisten. Mit nur einem Stöckelschuh läufst du Gefahr, umzuknicken und dir den Fuß zu verstauchen. Also zieht man in so einem Fall auch den zweiten Schuh aus.«
»Stella hatte aber beide Schuhe noch an, als sie aufgefunden wurde.«
»Dann muss sie es wirklich sehr eilig gehabt haben«, sagte Giulia. »So eilig, dass sie nicht stehen bleiben wollte, um ihre Schuhe auszuziehen. Glaubst du, sie wurde verfolgt? Von Massimo?«
Sergio hob die Hände in einer Geste der Ratlosigkeit. »Kann sein. Es kann aber auch sein, dass sie es sich anders überlegt und versucht hat, meinen Vater noch am Römischen Theater anzutreffen. Aber der war schon fort und hat davon nichts mitbekommen.«
»Nach dem, was er von der traurigen Szene zwischen den beiden erzählt hat, klingt das unwahrscheinlich«, sagte Giulia.
»Aber nicht unmöglich«, gab Sergio zurück.
»Ebenso gut könnte sie aus Massimos Werkstatt gekommen und mit einem Betrunkenen aneinandergeraten sein. Mit irgendjemandem, der gerade die Gasse entlangtaumelte.«
Sergio nickte. »Auch das kann sein. Allerdings ist das keine Spur, die wir verfolgen können.« Sergio fiel auf, dass er wir gesagt hatte. »Mein Vater hat uns alles erzählt, was er weiß. Bleibt nur einer übrig: Massimo. Des Rätsels Lösung hängt wohl davon ab, was sich in seiner Werkstatt abgespielt hat.«
»Dann finde es heraus«, forderte Giulia ihn auf.
»Hab ich schon versucht«, sagte Sergio. »Aber Massimo ist so schweigsam wie der Alabaster, den er in seinem Atelier bearbeitet.«
Giulia verstummte. Konzentriertes Schweigen legte sich über den Raum. Das Surren der Neonlichter klang jetzt lauter. Oder kam das Geräusch aus ihren Köpfen? Mit einem Mal fühlte Sergio sich Giulia verbunden. Er spürte die Gewissheit, die zwischen Menschen herrscht, die dasselbe denken.
»Wie wäre es, wenn ich diesem Bildhauer einen Besuch abstatte?«, fragte sie. Die Worten kamen so langsam hervor, dass Sergio erst gar nicht glauben konnte, was er hörte.
»Du? Aber du bist keine Polizistin. Und wenn Massimo Stella umgebracht hat? Wenn er ein Mörder ist, dann solltest du nicht allein in seinem Atelier herumschnüffeln.«
»Er kennt mich nicht. Ich gehe in seinen Laden und sage, ich suche ein Geschenk für meine Tante. Das ist nicht mal falsch. Sofia hat nächste Woche Geburtstag. Er wird ein Geschäft wittern und mich herumführen. Ich zeige mich interessiert und frage nach den kostspieligsten Stücken. Dann kommst du hinzu und lockst Massimo aus der Werkstatt. Ich werde sagen, ich schaue mich noch ein wenig um. Er wird sich das Geschäft nicht entgehen lassen wollen und mich im Atelier warten lassen. Es sei denn, er hat wirklich etwas zu verbergen. Dann wird er darauf bestehen, dass ich mit euch nach draußen gehe.«
»Und wenn du drinbleiben darfst?«, fragte Sergio.
»Dann beschäftigst du ihn draußen so lange wie möglich, und ich sehe nach, ob ich etwas Ungewöhnliches in seiner Werkstatt entdecke.«
Sergio stieß die Luft aus. »Du weißt ja nicht mal, wonach du suchen musst …«
»Wie schwer kann das sein? Spuren eines Kampfes? Lange graue Frauenhaare? Ungeschickt verwischte Fußspuren im Alabasterstaub, die von Stöckelschuhen stammen? Du könntest mir etwas mehr zutrauen, Agente.«
Giulia hatte recht. Sie war es, die zu Massimo gehen musste. Sergios offizieller Besuch als Polizist hatte nichts zutage gefördert. Und selbst wenn einer seiner Kollegen aus der Wache einen zweiten Versuch starten und bei Massimo anklopfen würde, wäre das Ergebnis dasselbe. Der Bildhauer würde Verdacht schöpfen und sich entsprechend zurückhaltend benehmen. Einer Kundin gegenüber wäre er vielleicht weniger misstrauisch. Blieb die Frage, wie Sergio ihn aus der Werkstatt locken könnte. Das würde er vor Ort entscheiden. Irgendetwas würde ihm schon einfallen. Und wenn es ein Erdbeben war.
»Also gut«, sagte Sergio. »Aber wenn dir irgendwas unheimlich vorkommt, verlässt du sofort das Atelier.«
»Oder ich rufe um Hilfe. Wann treffen wir uns?«
»Wie wäre es morgen um vier?«
Giulia nickte. »Das passt.« Sie zwinkerte Sergio zu. »Und dann werden wir ja sehen, ob wir deinen Vater entlasten können.«
Sie langte um Sergios Bauch herum und steckte den Absatz dorthin zurück, wo sie ihn gefunden hatte. »Dieses Beweisstück ist bei dir wohl am besten aufgehoben«, sagte sie. Als der Absatz in Sergios Gesäßtasche rutschte, knisterte es darin. Giulia schaute Sergio fragend an und zog einen zusammengeknüllten Zettel hervor.
Erst wusste Sergio nicht, um was es sich handelte. Dann fiel es ihm plötzlich wieder ein. Er griff danach. Zu spät! Giulia hatte das Papier bereits auseinandergefaltet und schaute auf die Worte, deren zerknitterte Buchstaben jetzt eine gewisse Ähnlichkeit mit Angelos Stirnfalten hatten.
»Keine Flecken auf die Sitze des Cinquecento«, las sie laut vor.
»Das ist von meinem Vater«, sagte Sergio schnell. »Er hat die Notiz beim Tiramisu hinterlassen.«
»Von deinem Vater also«, sagte Giulia. »Er wird wohl wissen, warum er dir so was schreibt. Sergio Panda, du scheinst wirklich kein Priester zu sein.« Sie warf ihm den Zettel gegen die Brust.
Bevor er das Papier zu fassen bekam, segelte es zu Boden. Er drehte sich um und hob es auf. Da hörte er, wie sich die Tür öffnete. Als er aufschaute, stand Giulia schon vor der Trattoria.
»Bis morgen, Pandolino«, sagte sie und verschwand in der Nacht. Ein leichter Regen setzte ein.