Kapitel 10
Massimo P. Cini? Sergio konnte es nicht glauben. Er kannte den kantigen Volterraner – aber nicht als Rivalen seines Vaters. Und auch nicht als ehemaligen Verehrer seiner Mutter.
Sondern als Meister des Alabasterhandwerks.
Auf dem Rückweg vom Busparkplatz blieb Sergio vor dem Stadttor Porta a Selci stehen. Der wuchtige Stein des Durchgangs passte zum spröden Äußeren Volterras. Einen Blick in die Seele des Städtchens und seiner Bewohner erlaubte er nicht. Da verriet der zarte, rätselhaft durchsichtige Alabaster schon mehr. Er war mehr Pulver als Stein. Schon die Kinder wussten, dass Alabaster eine Sonderform von Gips war. Der Bodenschatz aus der Umgebung hatte in den zweitausend Jahren, die er hier nun schon verarbeitet wurde, die Geschichte Volterras geprägt.
Massimo war für die Qualität seiner Bildhauerarbeiten über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Er gehörte zu den wenigen Meistern des Handwerks, die noch eine Alabasterwerkstatt betrieben und nicht nur industriell gefertigten Plunder für die Touristen in die Verkaufsregale stellten. Die Zeitung berichtete ständig über seine Anstrengungen, die örtliche Handwerkstradition ebenso am Leben zu erhalten wie den künstlerischen Austausch mit Bildhauern aus aller Welt. Unter dem Titel Polvere, Staub, organisierte er Aktionen gegen die Abwanderung junger Menschen und die Vergreisung der Stadt. Sein Credo lautete: »Wir sollten lieber etwas aus dem Staub unserer Geschichte machen, als uns aus dem Staub zu machen.« Er lehrte an Volterras Kunstschule, führte Touristen durch seine Werkstatt und veranstaltete einmal jährlich ein Alabaster-Symposium für junge Künstler.
Sergio hatte noch nie von der Feindschaft zwischen seinem Vater und Massimo gehört. Und genau das bereitete ihm Kopfzerbrechen. Es war nicht schwierig, mit Angelo in Streit zu geraten. Wer wusste das besser als Sergio? Reibereien waren für seinen Vater so selbstverständlich wie der Zucker im Espresso. Und so belebend. Doch wenn Angelos Mundwerk auch groß war: Sein Herz war größer.
Was also war das für eine Geschichte?
Statt in die Wache zurückzukehren, schlug Sergio den Weg nach San Giusto ein. Er musste mit seinem Vater reden. Und zwar sofort.
Die Türglocke war die Einzige, die ihn im Il Gusto fröhlich begrüßte. Die Mittagsgäste waren nach dem Essen aus der Trattoria verschwunden. Bis auf Zitadelle, und auch dieser Fels von einem Mann zog sich bei Sergios Anblick schnell zu Matteo in die Küche zurück. Etwas schepperte.
»Wir haben geschlossen«, krächzte es unter der Theke hervor. Angelo tauchte dahinter auf, in der knochigen Hand eine Kehrschaufel voller Scherben.
»Das trifft sich gut, ich muss mit dir reden«, sagte Sergio. »Falls deine Kiefer wieder geöffnet sind«, setzte er hinzu. Sein Vater konnte schmollen wie ein beleidigter Sechsjähriger.
»Nur für guten Rotwein und Freunde des Hauses.« Angelo feuerte einen stechenden Blick aus seinen blauen Augen ab.
Sergio seufzte. So ging es nicht weiter. »Wieso hast du mir nie etwas von Massimo P. Cini erzählt?«
Sein Vater stutzte und rüttelte leicht die Kehrschaufel. Oder zitterte er? Die Scherben klirrten leise. »Über den steht doch ständig was in der Zeitung.«
»Nicht, was du mit ihm zu schaffen hattest. Und wie Stella Aurora da hineingehörte.«
»Das ist kalter Cappuccino. Interessiert keinen mehr.«
»Doch, mich«, sagte Sergio mit Ungeduld in der Stimme. »Das kann für die polizeilichen Ermittlungen wichtig sein. Wusstest du, dass Stellas Leiche mit Alabasterstaub bedeckt war?«
Angelo blickte auf die Kehrschaufel, als würde er in den Scherben etwas suchen.
»Das soll doch Kokain gewesen sein. An der Bocciabahn wollen sie jetzt alte Alabasterfiguren pulverisieren, um den Staub als Droge zu verkaufen. Hat Zitadelle vorhin erzählt.«
Immerhin hatten die Stammgäste der Trattoria ihren Spaß an der Geschichte.
»Seit wann führst du dich überhaupt auf wie ein Commissario?«, fragte Angelo.
»Seit in Volterra gemordet wird und mein Vater als Hauptverdächtiger gilt.« Sergio überlegte kurz. Dann deutete er mit dem Daumen auf die Wand hinter sich, wo über der Heizung eine Mulde im Putz zu sehen war. »Und außerdem interessiert mich dieser Teil unserer Familiengeschichte.«
Angelo starrte ihn an. Dann kippte er die Kehrschaufel aus, dass es knallte. Hoffentlich hatte er den Mülleimer hinter der Theke getroffen.
Die Türglocke klingelte. Baldi trat ein, gefolgt von Rossi. Die beiden Ermittler bauten sich neben Sergio auf.
Angelo pfiff durch die Zähne. »Ah, Verstärkung. Solltest du mich schon mal vorkochen, Sergio?«
»Signor Panda, es gibt neue Erkenntnisse im Todesfall Stella Aurora«, sagte Baldi.
Rossis Blick wanderte zu den Vorspeisen hinter der Glasscheibe der Theke.
»Wir müssen Sie bitten mitzukommen«, forderte Baldi Sergios Vater auf. »Zur Questura nach Pisa.«
Einige Sekunden lang zögerte Angelo, dann verstaute er die Kehrschaufel hinter der Theke, klopfte sich die Hände an seiner dunkelblauen Jeans ab und krempelte die Ärmel seines karierten Hemdes herunter. »Na dann, auf nach Pisa«, sagte er, ohne aufzublicken.
In diesem Moment kamen Zitadelle und Matteo aus der Küche herbeigeeilt und wollten sich vor Angelo aufbauen, doch er hielt sie mit einer Geste zurück. »Backt mir lieber einen Zitronenkuchen mit Ausbruchswerkzeug drin«, sagte er beschwichtigend. Seine Stimme klang noch heiserer als sonst. An Sergio gewandt verkündete er: »Bis ich wieder da bin, ist das dein Laden, Terremoto. Versuch, ihn nicht kaputt zu machen.«
War da ein winziges Lächeln im Gesicht seines Vaters, fragte sich Sergio. Er nickte heftig. »Ich kümmere mich um ALLES.« Auch um dich, sollte das heißen.
»Für heute Abend habe ich Stockfisch vorbereitet«, fügte Angelo noch hinzu, bevor er Baldi mit versteinerter Miene nach draußen folgte.
Rossi verließ das Il Gusto als Letzter. »Hoffentlich werden Sie mit dem Stockfisch fertig, Kollege«, schnaubte er. »Um die großen Fische kümmern wir uns ja eigentlich.«
Sergio kochte vor Wut. Am liebsten hätte er Rossi den Stockfisch kosten lassen, denn der getrocknete Kabeljau gab ein großartiges Wurfgeschoss ab. Aber diese Spezialität des Hauses war viel zu schade für den Banausen aus Pisa und außerdem jetzt schon weich. Angelo wässerte den Trockenfisch mehrere Tage, um ihn dann mit Matteos Hilfe im Ofen in eine zarte Köstlichkeit zu verwandeln.
Zusammen mit dem Koch pflegte der Wirt der Trattoria Mortale die kulinarische Merkwürdigkeit, einen Fisch aus dem Nordpolarmeer, der in Norwegen auf Holzgerüsten getrocknet und auf diese Weise konserviert wurde, in der traditionellen toskanischen Küche unterzubringen. Der Kabeljau aus dem Arktischen Ozean entfaltete beim Zusammentreffen mit Rosmarin und Tomaten aus Volterras sonnenverwöhnten Gärten eine magische Kraft. Das versicherten die beiden Männer stets mit heiligem Ernst. Als Mitglieder der Stockfisch-Akademie von Ancona betrieben sie ihre Kochstudien wie Wissenschaftler. Sie konnten stundenlang über den stoccafisso und die Finessen seiner Zubereitung diskutieren und jeden, der sich nicht heftig genug wehrte, über dessen Bedeutung in der Geschichte Italiens aufklären. Sergio hatte es tausendmal gehört: Im toskanischen Inland war man lange Zeit leichter an den haltbaren Fisch aus Nordeuropa gelangt als an frischen Fang aus dem Mittelmeer. Schon seit dem Mittelalter war es Christen untersagt, freitags und in der Fastenzeit Fleisch, Milch und Eier zu verzehren. Fisch durfte man hingegen weiterhin essen. Doch dessen Lagerung war in der Hitze der Sommermonate schwierig. Also kauften die Italiener Trockenfisch aus Nordeuropa.
All das ging Sergio durch den Kopf, als das himmelblaue Polizeiauto abfuhr und eine gleichfarbige Abgasfahne hinter sich herzog. Er stand im Eingang der Trattoria und sah dem Wagen seiner Kollegen nach, der über den Borgo San Giusto davonfuhr. Das weiße Stoppelhaar seines Vaters leuchtete hinter der Heckscheibe. Dieser Sturkopf! Der alte Panda ließ einfach nicht mit sich reden. Sergio war sicher: Baldi und Rossi würden auch in der Questura nichts aus seinem Vater herausbekommen, was der nicht preisgeben wollte. Aber was würde dann geschehen? Stella Aurora war ermordet worden und sein Vater bislang der einzige Verdächtige. Das Geheimnis, das er hütete, würde ihn vielleicht entlasten können.
Sergio musste dieses Geheimnis lüften.
Und dafür würde er Staub aufwirbeln müssen.
»Dann werde ich wohl hierbleiben und alles für heute Abend vorbereiten«, hörte er Matteo hinter sich sagen.
Der Koch war eine treue Seele. Die Pause, die er sonst zwischen Mittags- und Abendtisch einlegte, hatte er offenbar abgeschrieben, ohne dass Sergio ihn darum bitten musste. Aber allein konnte er den Laden unmöglich schmeißen, bis Sergio vom Dienst kam. Und eine Aushilfe war so schnell nicht zu bekommen.
Auch daran hatte Matteo wohl gedacht. »Zitadelle ist schon unterwegs in den Arci, um die anderen zu holen«, berichtete er.
Sergio schluckte. Die Geschicke des Il Gusto würden in den Händen von Matteo, Trommelfeuer, Kugelblitz und Zitadelle liegen. Es klang wie der Plan für einen Bankraub. Und ebenso riskant war es auch.
Der Koch klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Es lebe die Trattoria Mortale!«