Sie glaubt ihr.
Sie erkennt es in ihren Augen: Die Frau glaubt ihr, obwohl sie eine miserable Zeugin in eigener Sache ist.
Ihre Schilderung ist lückenhaft, Erinnerungsfetzen wie verstreute Bruchstücke, die nicht zusammenpassen. Sie weiß nicht mehr, was zuerst war und was danach und was dazwischen. Sie weiß nur noch, dass sie sich wegdachte, als es unerträglich wurde. Sich abspaltete von ihrem Körper. Plötzlich passierte es nicht mehr ihr, sondern einer anderen, mit der sie nichts zu tun hatte. Er konnte ihr nicht mehr wehtun, weil sie weit weg war von ihrem Körper oder vielleicht auch ganz tief in ihm drin, damit er nicht an ihre Seele rankam. Sie hörte die Schreie dieser anderen Frau, ihr Ringen nach Luft, und obwohl etwas in ihr ahnte, dass sie selbst diese unmenschlichen Geräusche ausstieß, ging es sie doch nichts an. Weil es nicht sein durfte. Weil es zu schrecklich war. Ihr Kopf ließ nicht zu, dass ihr das hier und jetzt passierte. Dass jemand ihr das antat.
Doch dann kam der Moment, in dem sie begriff, dass es aus war. Dass sie im nächsten Augenblick sterben würde, obwohl sie ihr Leben erst noch leben wollte. Wie konnte es vorbei sein, wo es doch gerade erst richtig begonnen hatte? Auf einen Schlag war sie wieder da, sie war wieder sie selbst, steckte in ihrem Körper und spürte den brennenden Schmerz im Hals, schmeckte Eisen und Blut und bekam keine Luft. Luft, bitte! Sie brauchte Luft, Luft zum Atmen! Es kam nichts. Alles zu. Zu stark der Druck. Und diese Schmerzen; ein furchtbares Blitzgewitter in den grässlichsten Farben.
So sieht also mein Sterben aus , dachte sie in einer nüchternen Klarheit. Nur das, nur dieser eine Gedanke: So sieht also mein Sterben aus. Das ist mein Tod .
Die Blitze hinter ihren Augenlidern verblassten. In einer unerträglichen Langsamkeit tauchte sie ab in einen unendlich tiefen, dunklen Schlund.
Die Ohnmacht war eine Erlösung und vielleicht auch ihre Rettung. Mehr weiß sie nicht. Nur, dass das Erwachen danach schrecklich war.
Das alles berichtet sie der Frau, sie sieht das Entsetzen in ihren Augen. Schweigend hat sie ihr zugehört, und schweigen tut sie auch jetzt noch, als sie nichts mehr zu erzählen weiß. Die Stille legt sich schwer und zäh zwischen die beiden Frauen. Sie würde weinen, hätte sie noch Tränen übrig. Sie spürt Mitleid, obwohl die fremde Frau versucht, die professionelle Distanz zu wahren.
Einen Moment lang stellt sie sich vor, sie sei nicht die junge Frau mit dem zerschlagenen Gesicht und dem geschändeten Körper, hier auf diesem Stuhl – sondern die kleine Spinne in der oberen Zimmerecke in ihrem Netz, die auf sie beide herunterstarrt. Wie sie sich hier gegenübersitzen, sie und die Polizistin, am grauen Bürotisch mit der spiegelglatten Fläche, in diesem kargen Zimmer. Zwischen ihnen das Aufnahmegerät, das die Sekunden zählt, auch wenn keine Worte fallen. Der Kugelschreiber in der rechten Hand, mit dem sich die Polizistin Notizen macht, innehält, ihn weglegt, ihn wieder zur Hand nimmt. Ein kariertes Heft. Die Polizistin ist nicht viel älter als sie selbst, fünf oder zehn Jahre vielleicht. Womöglich denkt sie, sie habe Glück gehabt, dass er nicht sie erwischt hat.
»Sie sagen, er hat Sie gewürgt, während er Sie vergewaltigte?«
»Ja.« Ihre Stimme zittert noch immer.
»Wie stark hat er Sie gewürgt?«
»Ich weiß nicht, was soll ich sagen?«
»Brannte es in Ihrem Hals, wurde Ihnen schwarz vor Augen?«
»Ja. Ich meine, ich bin ohnmächtig geworden. Ich dachte, ich sterbe. Ich bin erst wieder aufgewacht, als er weg war.«
Noch nie hat sie sich so allein und klein gefühlt wie in jenem Augenblick, als sie merkte, dass ihr Körper zwar noch am Leben, ihre Seele aber zerstört war.
»Es ist gut, dass Sie zu uns gekommen sind. Ich weiß, wie schwierig das für Sie sein muss.«
Einen Scheiß weiß sie.
»Es ist wichtig, dass Sie eine Personenbeschreibung machen können.«
Sie denkt nach. Er hatte kein Gesicht, nur diese schwarze Maske. Die Augen, sie sah die Augen, aber sie erinnert sich nicht.
»Er war groß, kräftig, hatte Haare an den Armen.«
»Dunkle?«
»Ja, nein, ich weiß nicht. Es war dunkel.«
»Sie sagen, er sei in Ihre Wohnung eingedrungen, stand plötzlich vor Ihrem Bett, hat Sie sofort überwältigt.«
»Ja.«
»Das Fenster stand offen?«
»Ja.«
»Sind Sie sicher, dass es ein Fremder war? Könnte es jemand gewesen sein, den Sie kannten?«
Jemand, den sie kannte? Sie kennt keine Menschen, die so etwas tun würden. Niemals.
»Nein.«
»Es tut mir sehr leid, dass Ihnen das zugestoßen ist.«
»Werden Sie ihn kriegen?«
»Wir werden alles versuchen.«
Sie hört den Zweifel in der Stimme der Polizistin. Sie ahnt, dass sie ihn nie fassen werden. Und falls sie ihn doch fassen sollten, dass man es ihm nicht wird nachweisen können.
Es war falsch hierherzukommen. Die ärztliche Untersuchung; beschämend. Die vielen Fragen; eine Tortur. Das Ganze wieder und wieder zu durchleben … sie kann nicht mehr.
Sie will nie mehr an die Sache denken, nichts mehr damit zu tun haben, es ist nie passiert. Es ist nicht ihr passiert. Nicht ihr. Wenn sie sich nur stark genug einbildet, dass es jemand anderes war, der durch diese Hölle musste, dann wird es sein, als ob es nie geschehen wäre.
Die Polizistin sagt, sie könne gehen. Endlich. Sie verlässt das Gebäude, das wie ein altes Schulhaus riecht. Die Frau am Empfang lässt sie raus, die Glasschiebetür schließt sich lautlos hinter ihr, so wie sie dieses Kapitel in ihrem Leben schließt und gleichzeitig streicht. Gelöscht. Für immer. Es geht sie nichts mehr an. Es ist nicht ihr passiert.
Als sie draußen auf die Straße tritt, blendet sie die Sonne, viel zu hell, als wolle sie die Menschen glauben machen, es sei ein guter Tag. Was für eine Lügnerin. Und doch: In diesem Moment denkt sie, es ist vorbei. Aufstehen, Krone richten, weitergehen. Sie lässt es hinter sich, und es bleibt nichts zurück.
Sie ahnt nicht, wie sehr sie sich irrt. Es werden Wochen vergehen, bis sie realisiert, dass er mehr hinterlassen hat als die körperlichen und seelischen Verletzungen. Etwas, das für immer da sein und sie stets an ihn erinnern wird.
Sein Kind.
Ihr Kind.
Das Kind ihres Vergewaltigers.