4.

Sandro Bandini sitzt in der mobilen Einsatzzentrale im Innern eines Polizeilastwagens, einen Steinwurf von der Berner Reitschule entfernt. Kleine Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn, sein Körper ist angespannt, die Augen sind konzentriert auf die Bildschirme vor ihm gerichtet; einer zeigt einen Übersichtsplan des Areals, auf dem er sich befindet, andere übertragen Livebilder der winzigen Bodycams, die die Männer des Sondereinsatzkommandos auf sich tragen. Neben Sandro sitzt deren Chef Christian Tschabold, der seine Leute über Funk mit knappen Befehlen durch die Reitschule dirigiert. Die Liegenschaft besteht aus vielen verschachtelten Räumen, es ist schwierig, sich in der unübersichtlichen Situation ein klares Bild zu verschaffen; nebst der großen Reithalle gibt es ein Restaurant, ein Kino, einen Konzertsaal, mehrere Dachstöcke, die Discothek sowie etliche Nebenräume. Tschabold hat alles in Zonen eingeteilt, und nun wird eine Zone nach der anderen von den bewaffneten Polizisten in Schutzmontur gesichert. Nach den vorliegenden Informationen wurde im hinteren Gebäudeteil geschossen, aber der Täter kann überall sein. Die Mitglieder des Spezialkommandos dringen immer weiter ins Gebäude vor, gerade kommt ein neuer Funkspruch rein, dass der nächste Raum ebenfalls sauber ist. Was gleichsam bedeutet: Vom Täter fehlt nach wie vor jede Spur.

Es ist möglich, dass er sich unter die Flüchtenden gemischt hat; das wäre die Schlechteste aller schlechten Varianten, denkt Sandro. Oder aber er hat sich irgendwo verkrochen und sich selbst gerichtet – das wäre eines der besseren Szenarien; dann wäre zumindest die Gefahr gebannt. Wenigstens haben die Rettungssanitäter nun Zugang zum Tatort. Der Täter scheint ausschließlich im zweiten Dachstock um sich geschossen zu haben, dort wo heute die Frauendisco stattgefunden hat. Die Sanitäter korrigieren die Zahl der Opfer laufend nach oben, im Moment liegt sie bei sieben Toten und zehn Verletzten, einige in kritischem Zustand. Ob sich der Täter noch auf dem Areal befindet oder längst auf der Flucht ist, ist völlig offen.

»Wir geben eine Großfahndung raus«, informiert Sandro seine Kollegen. »Wir brauchen alle Einsatzkräfte, die verfügbar sind. Wir werden die ganze Stadt, wenn es sein muss, den gesamten Kanton durchkämmen, wir werden in jeden verfluchten Keller steigen, um den Täter oder die Täter aufzuspüren, die das hier angerichtet haben.« Der oder die – nicht einmal das ist klar; Sandro hat keine Ahnung, mit wie vielen Schützen sie es hier zu tun haben. Die Aussagen der Zeuginnen und Zeugen ergeben kein einheitliches Bild. Die einen wollen nicht einmal gemerkt haben, dass geschossen worden ist, und hielten das Ganze für eine Massenpanik. Andere berichteten von einem Mann, der mit einem Maschinengewehr in die Frauendisco eingedrungen sei und sofort losgeballert habe. Einige behaupteten, die Schüsse seien aus verschiedenen Richtungen gekommen, es müssten mindestens drei Personen geschossen haben. Dass Zeugenaussagen so weit auseinanderdriften, ist nichts Ungewöhnliches, es ist vielmehr menschlich – aber hilfreich ist es nicht.

»Verdammte Scheiße!«, sagt Sandro laut. Um ihn herum ertönt zustimmendes Gemurmel. Sie wissen nichts, außer, dass da eine oder mehrere Personen frei herumlaufen, die gerade ein blutiges Massaker angerichtet haben.

»Hat jemand der Zeugen den Schützen erkannt?«, fragt Sandro in die Runde.

»Negativ«, antwortet Malou Löwenberg. Sie sitzt in einem engen roten Kleid im Einsatzwagen; offensichtlich hat auch sie heute Abend nicht mit einem Notfall gerechnet.

»Hat ihn jemand gesehen, der ihn beschreiben kann? Seine Erscheinung? War es ein Neonazi?«

»Nein. Niemand hat etwas in der Richtung gesagt.«

Dass Sandro auf Anhieb einen Täter aus der rechtsextremen Szene in Betracht zieht, hat mit der Geschichte der Reitschule zu tun: Für Neonazis und Ultrarechte ist sie ein rotes Tuch, eine Trutzburg ihrer größten Feinde. Selbst bürgerliche Politiker bezeichnen den linksautonomen Kulturtempel seit Jahrzehnten als Schandfleck der Stadt: Alle paar Jahre fordern sie in politischen Vorstößen dessen Schließung – nicht zuletzt, weil sich die Antifaschisten nach ihren nicht selten in Zerstörungsorgien ausartenden Demonstrationszügen durch die Stadt oftmals in die Reithalle zurückziehen, sich unter die Gäste mischen und dort Schutz vor der Polizei finden. Dass auf dem Vorplatz der Reitschule mit Drogen gehandelt wird, ist ebenfalls kein Geheimnis und dem Ruf des Kulturzentrums nicht gerade förderlich.

Falls sie es hier also mit einem politisch motivierten Angriff zu tun haben, wäre es für Sandro keine Überraschung, wenn der Täter aus der rechtsextremen Szene stammen würde. Oder aber es war ein islamistischer Terroranschlag, der sich generell gegen die westliche Lebensweise richtet. Denkbar auch, dass es sich um einen Anschlag auf die Schwulen- und Lesbenszene handelt; allerdings sind bei LGBT -feindlichen Taten meist Männer die Opfer. Sandro schließt auch eine weitere Option nicht aus: Dass der Massenmord von einem fanatischen Einzeltäter ohne politischen Hintergrund begangen worden sein könnte – einzig, weil er Amokläufe geil findet und selbst mal einen lancieren wollte. Es wäre nicht das erste Mal, dass aus derart nichtigem Grund gemordet wurde.

Aber das Motiv des Täters hat derzeit nicht höchste Priorität. Die wichtigste Frage, die sich Sandro stellt, lautet viel mehr: Wo steckt der Täter? Oder wo stecken die Täter, falls es mehrere sind.

»Die Täterschaft ist weg«, stellt Christian Tschabold in dem Moment fest.

»Bist du sicher? Ihr habt nichts übersehen? Das Areal ist riesig …«, hakt Sandro nach.

»Meine Leute haben den hintersten Winkel durchsucht. Es ist keiner mehr drin.«

»Scheiße.«

Sandro denkt sofort an den Terroranschlag von Paris, als Islamisten unter anderem im Konzertlokal Bataclan fast neunzig Menschen töteten. Einer der Attentäter hatte seinen Sprengstoffgürtel nicht gezündet und befand sich tagelang auf der Flucht. In seiner Heimatstadt Brüssel wurde die höchste Terroralarmstufe ausgerufen, alle Läden im Zentrum wurden geschlossen, alle Restaurants und Kulturlokale dichtgemacht.

Ist es das, was er jetzt tun muss?, fragt sich Sandro. Die höchste Terroralarmstufe auslösen und die Stadt Bern in eine Art sofortigen Lockdown versetzen? Ist das die adäquate Reaktion auf den Anschlag – oder wäre es eine krasse Überreaktion?

»Was machen wir?«, fragt Tschabold.

Sandro räuspert sich, blickt auf die Uhr.

»Terroralarm?« Tschabold klingt drängender jetzt.

Sandro hebt abwehrend die Hand. Er muss nachdenken. Es ist Donnerstagabend, fast halb zehn. Heute ist Abendverkauf, die Läden schließen erst in einer halben Stunde. Obwohl schon fast Sommer ist, wird es abends immer noch kühl. Trotzdem sitzen etliche Menschen draußen in den Gassen an den Tischen. Sandro sieht die Bilder aus Paris vor sich; die zerschossenen Scheiben, die Gläser, die halb voll stehen geblieben waren, die Blutlachen unter den Tischen. Die vielen Toten.

»Wir … haben … keine … Zeit!« Tschabold spricht überlaut und setzt eine kleine Pause zwischen jedes Wort.

Sandro schaudert innerlich. Wenn der Täter weitermordet und noch mehr Menschen zu Tode kommen, nur weil er nicht gehandelt hat – er würde sich das nie verzeihen. »Wir können kein Risiko eingehen.« Sandro hört Christian Tschabold erleichtert ausatmen. »Gleichzeitig müssen wir jede Panik verhindern.«

»Das heißt konkret?«, hakt Tschabold nach.

»Höchste Terroralarmstufe. Die Läden, Bars, Restaurants, Kinos, Theater et cetera in der Stadt müssen sofort schließen. Die Bereitschaftspolizei muss raus, wir lancieren Aufrufe in Radio und Fernsehen und auf unseren Social-Media-Kanälen.« Sandro nimmt wahr, wie der Medienverantwortliche Emilio Livingstone aufspringt, zum Telefon greift und hinauseilt. »Wir informieren die Behörden, die Berufsverbände, jeden, den wir erreichen können; sie sollen dafür sorgen, dass alle Gaststätten und Kulturbetriebe geschlossen und die Gäste heimgeschickt werden. Die Streifenwagen sollen Patrouille fahren und die Leute mit Lautsprecherdurchsagen auffordern, nach Hause zu gehen.«

»Und da kommt keine Panik auf?« Malou Löwenberg klingt skeptisch.

»Wenn wir ruhig und sachlich bleiben, werden auch die Menschen ruhig bleiben.« Hoffentlich, schiebt Sandro in Gedanken nach.

»Und das Fußballspiel?«, wirft Christian Tschabold ein.

»Heute läuft ein Match?«

»Heimspiel gegen den FC Basel.«

»Verfluchter Mist!« Die Young Boys hatte Sandro völlig vergessen. »Wie lange dauert das Spiel noch?«

»Wohl noch etwa eine Viertelstunde.«

Sandro Bandini und Christian Tschabold schauen sich in die Augen und denken exakt dasselbe: Ein ausverkauftes Fußballstadion ist das perfekte Ziel für einen Terroranschlag – insbesondere nach dem Schlusspfiff, wenn alle nach draußen strömen und versuchen, sich in das erstbeste Tram zu quetschen.

»Das Match lassen wir laufen, das Risiko einer Massenpanik nach einem Spielabbruch ist zu groß. Aber wir instruieren sofort die Kollegen, die vor Ort im Einsatz sind, sie sollen insbesondere die Ausgänge und die Tramstation überwachen. Wir müssen Verstärkung hinschicken.«

»Wir haben nicht genug Leute, wenn wir gleichzeitig die Stadt sichern wollen«, wendet Tschabold ein.

»Wir bitten die Polizeikorps der Nachbarkantone um Hilfe.«

Tschabolds rechte Augenbraue schnellt in die Höhe, doch er nickt.

»Wie steht es um die Helikopter für die Suche nach dem Täter?«, fragt Sandro.

»Sind unterwegs.«

»Gut.«

Sandros Telefon klingelt. Er blickt auf das Display, sieht, dass es ein Anruf aus der Notrufzentrale ist, und geht ran. Einen kurzen Augenblick lang hofft er, dass ihm gleich mitgeteilt wird, der Täter habe sich gestellt. Doch das wahre Leben kennt in seinen Dramen selten solch glückliche Fügungen.

»Wir haben eine Leiche«, sagt der Kollege aus der Zentrale ohne Umschweife. »In der Militärstrasse, sieht nach einem Tötungsdelikt aus.«

Sandro schließt die Augen. Er fragt sich, warum in seinem Job immer alles gleichzeitig passieren muss.