Bettina starrt auf den Boden und studiert die Fuge zu ihren Füßen. Die hellgraue Füllung zwischen den dunkelgrauen Platten ist an der einen Stelle breiter als an der anderen. Dort, wo sie zu schmal ist, hat sich Schmutz angesammelt. Brauner Schmutz im Zwischenraum. Zwischen dunkelgrauen Platten.
Warum ist sie die Drinks holen gegangen? Die Frage dreht Runden in ihrem Kopf. Hätte Petra die Drinks geholt, wäre sie nicht getroffen worden.
Brauner Schmutz im Zwischenraum. Auch die anderen Fugen sind nicht regelmäßig verarbeitet.
Warum nur ist sie die Drinks holen gegangen?
Die Linien verschwimmen vor Bettinas Augen. Weit weg hört sie das Geräusch von Schritten. Gummisohlen. Turnschuhe auf Plattenboden. Dunkelgraue Platten mit Schmutz in den Fugen.
Wäre sie die Drinks nicht ausgerechnet in dem Moment holen gegangen, wäre sie bei Petra gewesen und hätte reagieren können.
Die Schritte nähern sich, an der Ecke des Flurs biegen sie ab und werden wieder leiser.
Wenn sie sich nicht kurz mit Sonja unterhalten hätte, wäre sie rechtzeitig zurück gewesen. Wäre sie früher zurück gewesen, hätte sie sich auf Petra gestürzt, hätte sie mit sich zu Boden reißen und sich über sie legen können. Hätte sie schützen können. Sie retten können.
Wie kommt es, dass die Fugen schmutzig sind? In einem Spital, in dem es klinisch rein sein sollte.
Warum ist sie genau in dem Moment zur Bar gegangen? Warum hat sie so lange gebraucht? Warum?
Die Tür zur Notfallstation öffnet sich mit einem schleifenden Geräusch. Bettina schnellt herum, sieht einen Mann in grünem Kittel, eine knallbunte Operationsmütze auf dem Kopf, Brille auf der Nase. Sie sucht hinter den dicken Gläsern nach Augenkontakt und steht hastig auf.
»Petra, Petra Schmitz, wird sie es schaffen?«
Den Blick des Arztes kann Bettina nicht lesen. Mitleid?
»Es tut mir leid, ich kann Ihnen keine Auskunft geben. Ich behandle eine andere Patientin. Der zuständige Arzt wird sich bei Ihnen melden.«
Er wendet sich ab und lässt Bettina mit ihrer Verzweiflung allein zurück. Noch nie hat sie sich so hilflos gefühlt. Sie kann nichts Weiteres tun, als auf diesem Stuhl zu sitzen, den Boden anzustarren und damit zu hadern, dass sie nicht da war, als ihre Freundin, ihre Partnerin, ihre Liebe im falschen Moment am falschen Ort stand.
Petra darf nicht sterben.
Bettina hat vor Kurzem schon einmal einen Partner verloren, im Job. Ramon. Auch er starb im Kugelhagel. Auch damals war sie unmittelbar dabei gewesen.
Doch dieses Mal ist alles anders. Dieses Mal geht es um Petra. Bettina würde alles dafür geben, wenn sie mit ihr tauschen könnte, wenn jetzt sie da drinnen im Operationssaal liegen und ums Leben kämpfen würde, statt hier zu sitzen, unverletzt, ohne die kleinste Schramme. Wie ungerecht das Leben ist. Der Tod holt sich immer die Falschen.
Ein schriller Ton lässt Bettina zusammenfahren. Wie in Trance greift sie nach ihrem Telefon. Es ist Sandro, ihr Chef. Sie steckt das Handy weg. Auch ihr Pager vibriert. Sie beachtet ihn nicht. Schon klar, dass sie jetzt gebraucht wird. Doch sie geht hier nicht weg, nicht bis sie weiß, ob Petra leben wird. Bettina fühlt sich auf einmal schrecklich einsam. Wenn es ums Existenzielle geht, ist man am Ende immer allein.
Während Bettina im graugekachelten Flur des Universitätsspitals sitzt und zum ersten Mal in ihrem Erwachsenendasein ein Gebet spricht, in dem sie um das Leben ihrer Geliebten bittet, flucht Milla leise vor sich hin. Warum muss sie hier alles allein machen? Wo bleibt das Kamerateam? Ist sie tatsächlich die einzige Journalistin des Schweizer Fernsehens, die ausgerückt und vor Ort ist? Sie hat mit der Handykamera einige gute Bilder einfangen können, hat mit ein paar Frauen gesprochen, die dem Anschlag völlig geschockt entkommen sind, dennoch ist fraglich, ob sich ihr Material zu einem stimmigen Beitrag zusammenschneiden lässt. Auch zu zweit, mit einem Kameramann an ihrer Seite, wäre die Arbeit hier schwierig. Allein ist sie kaum zu bewältigen. Milla will gerade die gedrehten Clips auf ihrem Handy durchgehen, da beginnt Patti Smith zu singen. Ein Anruf. Wolfgang.
»Milla, bist du dort? Es soll Tote gegeben haben!«, ruft ihr Chef aufgeregt ins Telefon.
»Ich weiß. Ich bin vor Ort. Aber ich bin allein hier, ich kann nur mit dem Handy filmen. Ich schicke dir gleich alle Aufnahmen, die ich habe. Ich brauche aber noch ein offizielles Statement der Polizei, das werde ich nachliefern.«
»Wann?«
Milla verdreht die Augen. »Sobald ich es habe.«
»Wir müssen sofort damit raus.«
»Ich schicke es ja gleich.«
Milla beendet das Gespräch ohne ein weiteres Wort. Manchmal kann ihr Chef ein gefühlskalter Mistkerl sein. Klebt im geheizten Büro mit seinem Arsch an seinem Stuhl fest und schert sich keinen Deut darum, mit was für einer Situation sie draußen konfrontiert ist und was sie gerade durchmacht. Hauptsache, die Bilder kommen rein, und zwar pronto, alles andere scheint ihm egal zu sein. Milla schiebt den Ärger weg, sie hat jetzt weder Zeit noch Energie dafür, und begibt sich zum improvisierten Medienzentrum, das aus dem Pressesprecher Emilio Livingstone besteht. Er versucht unter einem aufgestellten Zeltdach, die Journalisten mit Informationen zu versorgen, obwohl es kaum welche gibt. Als sich Milla zu ihm stellt, hält ihm bereits eine Reporterin des Lokalradios das Mikrofon unter die Nase, und einige Zeitungsjournalisten notieren das Gesagte mit. Milla hört zu, realisiert, dass er in etwa so viel weiß wie sie selbst; dass geschossen worden ist, dass es Tote gegeben hat, dass völlig unklar ist, wer dafür verantwortlich ist. Während er spricht, erkennt er Milla, nickt ihr zu, was bedeutet, dass er sich gleich für sie Zeit nehmen wird. Das ist der Vorteil, wenn man fürs Schweizer Fernsehen arbeitet; man wird sofort als wichtig erachtet – aber nur, weil sich jeder selbst wichtig nimmt, wenn sein Gesicht im landesweiten Fernsehen erscheint.
»Mehr kann ich im Moment noch nicht sagen«, schließt Livingstone. »Bitte entschuldigen Sie mich, das Schweizer Fernsehen wartet auf eine Aufnahme.« Damit wendet er sich von den anderen Journalisten ab.
»Frau Nova, Sie brauchen ein Statement?« Es ist eine rhetorische Frage, Milla hält ihre Handykamera bereits auf den Pressesprecher gerichtet. »Ohne Kameramann?«
»Es ist noch keiner da.« Milla zuckt mit den Schultern. »Und das hier muss schnell raus, online und dann in die Tagesschau Nacht. Es wird eine Sondersendung geben. Sind Sie bereit?«
Livingstone nickt.
»Herr Livingstone, was ist hier heute passiert?«
Milla fragt, Livingstone gibt einige vage Antworten, doch viel holt sie nicht aus ihm heraus, um nicht zu sagen: gar nichts Neues. Dennoch hat sie, was sie braucht: Ein offizielles Statement, ganz egal, wie mager es ausgefallen ist.
Milla setzt sich auf eine Mauer, um ihrem Chef Wolfgang alle Clips zu senden, da tippt ihr jemand auf die Schulter. Sie dreht sich um.
Ivan Ivanovic. Ihr Lieblings-Kameramann, den alle Ivan nennen, obwohl er gar nicht Ivan heißt.
»Jetzt kommst du …« Milla rollt mit den Augen, doch die Erleichterung ist ihr anzusehen.
»Ging nicht schneller, ich war in Zürich, fangen wir an?«
Obwohl Milla genug gesehen hat, genug gehört hat, nur noch wegmöchte von diesem Ort des Schreckens, lässt sie sich von Ivan ein Mikrofon in die Hand drücken, während er die Kamera schultert. Diese Geschichte wird groß werden. Milla weiß, dass sie noch viel mehr Material brauchen, als sie bis jetzt zusammen hat; für die Sondersendung und all die Hintergrundbeiträge, die noch folgen werden. Sie klickt auf dem Handy rasch die letzten Clips an und drückt auf Senden . Dann gibt sie sich einen Ruck und macht sich auf, um gemeinsam mit Ivan möglichst viele Bilder und Stimmen einzuholen zu dem Unfassbaren, das sich diesen Abend zugetragen hat und die Stadt für immer verändern wird.
Zur gleichen Zeit sitzt Sandro Bandini nur wenige Meter von Milla und Ivan entfernt im Polizeilastwagen und versucht, den Großeinsatz zu koordinieren – und gleichzeitig jemanden auf den anderen Fall anzusetzen; die Leiche an der Militärstraße im Breitenrainquartier.
»Verflucht!«
Ein Klicken kündigt Sandro an, dass er erneut nur mit der Mailbox von Bettina verbunden ist statt mit ihr selbst. Ausgerechnet jetzt kriegt er sie nicht an die Strippe, Bettina, die sonst immer als Erste am Einsatzort ist. Sandro kann sich nicht erinnern, dass Bettina auch nur ein einziges Mal nicht erreichbar gewesen ist, in all den Jahren, in denen sie zusammenarbeiten. Wo steckt sie bloß? Sie ist doch nicht etwa …?
Der Gedanke trifft Sandro wie ein Blitz: Ist es denkbar, dass Bettina da drin war? Dass sie sich unter den Opfern befindet? Bettina, die aus ihrer Beziehung zu einer Frau nie ein Geheimnis gemacht hat. Hielt sie sich während des Attentats in der Frauendisco auf? Nein, unmöglich. Sandro schüttelt den Gedanken ab. Bettina in der Reitschule, als Polizistin, das passt nicht zusammen. Da ginge sie nicht hin.
»Malou?«
»Ja?«
»Ich kann Bettina nicht erreichen – könntest du …«
»Der Tote im Breitenrain?«
»Ja.«
»Ich fahre hin.«
»Danke.«
Hinter Sandro öffnet jemand die Wagentür. Die Geräusche, die vorher nur dumpf bis zu ihm vorgedrungen sind, die Sirenen, die Befehle, die gerufen werden, das Klagen und das Weinen, sind auf einen Schlag wieder laut und verstörend. Die kleine Distanz, die sich Sandro schaffen konnte, um einen Schritt zurückzutreten und aus der Einsatzzentrale heraus alles zu koordinieren, ist weg. Sofort ist er wieder mittendrin.
»Wir können rein«, ruft Christian Tschabold.
»In Ordnung.«
Sandro steht vom Stuhl auf. Er muss sich überwinden. Sein ganzer Körper fühlt sich auf einmal erschöpft an. Selbst mit normalen Tatorten tut Sandro sich schwer, auch nach all den Jahren noch. Aber das hier? Das ist eine andere Liga. Das hier will er nicht sehen. Doch er hat keine Wahl.
Unbewusst geht er zwei Schritte hinter Christian Tschabold her, als sie dicht der Mauer entlang zum hinteren Teil des Gebäudes vordringen. Über die Treppe gelangen sie in die Räumlichkeiten der Discothek. Sandro tritt in den hohen Raum unter dem Dachgiebel und weicht unwillkürlich wieder einen Schritt zurück. Der Anblick ist furchtbar.
Die mit weißen Planen zugedeckten Toten liegen durcheinander, elf oder zwölf müssen es sein, alle befinden sich nahe der Notausgangstür, die in den Hof hinausführt und durch die der Täter eingetreten sein muss. Auf bizarre Weise erinnern die Körper unter den Planen, die mal schräg, mal quer zur Tür und auch mal fast aufeinanderliegen, an eine groteske Kunstinstallation. Nichts wirkt echt in diesem Raum. Es ist die makabre Inszenierung eines Täters, von dem sie nicht wissen, wer er ist.
»Wie viele sind es?«, fragt Sandro.
»Dreizehn Tote, zwölf Frauen, ein Mann«, antwortet Christian Tschabold. »Zwei Schwerverletzte in kritischem Zustand. Achtzehn weitere Verletzte.«
Hinten im Raum erblickt Sandro Irena Jundt, die Rechtsmedizinerin, die sich in Schutzkleidung über einen der toten Körper beugt. Sie richtet sich wieder auf, diskutiert mit zwei Männern, die Sandro nicht kennt, das müssen die forensischen Ärzte vom DVI -Team sein. Es ist das erste Mal in seiner Karriere, dass Sandro das Disaster Victim Identification Team hat aufbieten müssen, und er hofft inständig, dass es auch das letzte Mal gewesen ist. Irena schaut zu ihm her, er winkt sie zu sich.
»Wir lassen die große Leichenhalle herrichten«, sagt Irena anstelle einer Begrüßung. »In einer Stunde sollten wir so weit sein, dann können wir die Opfer dorthin bringen.«
Erst jetzt fällt Sandro wieder ein, dass die Parkgarage unter dem Rechtsmedizinischen Institut im Notfall zu einer Obduktionshalle umfunktioniert werden kann, falls die zwei Obduktionstische im Haus nicht ausreichen. Irena will sich gerade wieder der Arbeit zuwenden, als Sandro sie zurückhält.
»Irena, wir haben noch einen weiteren Fall …«
»Das darf nicht wahr sein!«
»Ein Toter, sieht nicht gut aus, so wie der gefunden wurde …«
»Ich kümmere mich darum.«
»Kannst du denn hier weg?«
»Ja, das DVI -Team ist gut aufgestellt. Die Aufgaben sind verteilt. Im Moment steht die Identifikation der Opfer im Vordergrund – die Todesursache ist hier ja offensichtlich. Ich kann an den neuen Tatort fahren, mir den Toten ansehen und danach hierher zurückkehren.«
»Danke.«
Sandro leitet Irena die Nachricht mit der Adresse des Opfers und den Angaben zu dessen Fundsituation weiter. Er schrickt zusammen, als just in dem Moment unter einem weißen Tuch ein Handy zu läuten beginnt. Neben einer anderen Leiche setzt ein weiterer Klingelton ein. Als das erste Handy verstummt, beginnen ein drittes und ein viertes zu klingeln. Schon ist auch der erste Klingelton wieder zu hören. Es sind die Anrufe von Angehörigen, die vom Attentat erfahren haben, die fürchten, dass ihre Freundin, ihre Schwester, ihre Tochter sich in der Reitschule aufhielt, die hoffen, dass nicht ihre Lieben getroffen worden sind. Eine Hoffnung, die mit jedem unbeantworteten Anruf kleiner wird und irgendwann, spätestens wenn ein Polizist vor der Tür steht, der traurigen Gewissheit weicht. Weitere Telefone beginnen zu klingeln, jedes Mal zuckt Sandro zusammen.
Vielleicht wird er den Anblick der vielen Toten irgendwann aus seinem Kopf verdrängen können. Doch Sandro ahnt, dass der Klang der Handys und ihre Kakofonie des Todes für immer in seiner Erinnerung haften bleiben werden.