»Kamera läuft.«
Milla räuspert sich. Sie steht neben Ivan, der die Kamera geschultert hat, und hält einer Frau das Mikrofon hin, die zwar gefasst wirkt, deren Hände aber so sehr zittern, dass sie mit der einen die andere festhalten muss.
»Sie waren in der Reitschule. Können Sie uns erzählen, was dort geschehen ist?«
Die Frau könnte ihre Schwester sein, denkt Milla. Ähnliche grüne Augen, ebenfalls schwarze Locken, allerdings kürzer geschnitten, auch sie ist circa Anfang vierzig.
»Zunächst habe ich nicht realisiert, was passiert. Doch als die Ersten zu Boden gingen, war klar, dass da geschossen wird. Ich dachte, dass wir alle sterben würden.«
Was, wenn es umgekehrt wäre?, fragt sich Milla. Wenn die andere Frau die Reporterin und sie selbst das Opfer wäre? Warum hat es die Frau getroffen und nicht sie selbst? Glück oder Schicksal oder Zufall? Milla schiebt den Gedanken weg, um sich wieder auf das Interview zu konzentrieren.
»Wie sind Sie entkommen?«
»Gar nicht. Der Ausgang über die Treppe ins Freie war blockiert, ich wurde umgestoßen, jemand ist auf mich drauf getreten, es herrschte ein furchtbares Chaos.«
»Aber Sie haben überlebt.«
»Ja. Plötzlich war Schluss. Die Musik ging aus. Die Schüsse hörten auf. Ich habe mich umgeschaut und hinter mir all die Toten und die Verletzten gesehen. Es war grauenhaft.«
Bis jetzt hat die Frau mit fester Stimme gesprochen, doch nun fließen Tränen über ihre Wangen, sie versucht, noch etwas zu sagen, winkt aber ab und dreht das Gesicht zur Seite. Milla legt die Hand auf Ivans Arm, um ihm anzuzeigen, dass er nicht länger mit der Kamera draufhalten soll.
»Danke für das kurze Interview«, sagt sie zu der weinenden Frau. »Ich habe gesehen, dass Care-Teams im Einsatz sind. Sie sollten eines der Zelte aufsuchen.«
Die Frau schüttelt den Kopf. »Ich will nur noch nach Hause.«
Ich auch, denkt Milla. Sie fühlt sich unendlich müde und traurig. All die schlimmen Geschichten, die schrecklichen Bilder, das unsagbare Leid. Sie hat mit einem Mann gesprochen, dessen Schwester wahrscheinlich drinnen unter den Toten liegt – dem bisher aber niemand Gewissheit geben konnte, weil die Leichen noch nicht identifiziert sind. Sie haben von Weitem gefilmt, wie Verletzte abtransportiert worden sind. Eine noch sehr junge Frau hat vor Schmerzen geschrien. Sie haben Aufnahmen von den Leichenwagen gemacht, von den Rettungsfahrzeugen, die ankamen und wegfuhren und wieder ankamen und wieder wegfuhren, es schien kein Ende zu nehmen; vom Helikopter, der mit grellem Scheinwerfer über der Szenerie kreiste und ein Loch in die Dunkelheit fraß, auf der Suche nach einem Täter, von dem niemand weiß, wer er ist und wo er sich aufhält. Milla hat erneut ein Statement von Pressesprecher Livingstone eingeholt und dieses Mal erste Zahlen erhalten. Nach aktuellem Stand wurden bei dem Anschlag auf die Reitschule dreizehn Menschen getötet und rund zwanzig verletzt. Über Motiv und Täter gibt die Polizei weiterhin nichts bekannt, die einzige Information hierzu lautet, dass es eher nach einem Einzeltäter aussieht. Mehr hat Milla aus Livingstone nicht rausgekriegt.
Sie haben genug Material beisammen. Milla möchte gehen. Aber Ivan findet immer noch eine weitere Einstellung, von der er glaubt, dass er sie unbedingt haben muss, dabei ist Mitternacht längst vorbei. Das Ausmaß des Schreckens, was in den letzten Stunden in Bern geschehen ist, wird der breiten Bevölkerung erst beim Frühstück klar werden. Auch, dass der Täter noch irgendwo da draußen rumläuft, und zwar schwer bewaffnet. Frohes Erwachen, denkt Milla sarkastisch.
»Ivan, ich will nach Hause, ich brauche etwas Schlaf, ich muss das morgen alles zusammenschneiden, und wir werden bestimmt auch erneut drehen müssen.«
»Ich komm gleich!«
Schon wieder scheint Ivan etwas gesehen zu haben, das er noch filmen will. Milla lehnt sich an eine Hauswand und lässt sich mit dem Rücken daran zu Boden gleiten. Sie legt das Gesicht in die offenen Hände, ihr Kopf fühlt sich tonnenschwer an.
»Bist du Journalistin?«, fragt plötzlich eine Stimme von oben herab.
Milla blickt auf. Vor ihr steht ein Mann in Jeans und schwarzer Lederjacke. Er ist unrasiert, sein Haar sieht aus, als wäre es schon länger nicht gewaschen und schon gar nicht geschnitten worden, es steht wirr in alle Himmelsrichtungen ab. Die Wangen an seinem blassen Gesicht sind eingefallen, die Kieferknochen stehen hervor. Obwohl er viel älter wirkt, ist er wahrscheinlich keine dreißig Jahre alt. Sein Blick ist fahrig, die Hände zittern. Sie sind leer, registriert Milla erleichtert. Keine Waffe.
»Ja, ich arbeite fürs Schweizer Fernsehen.«
»Ich weiß, wer das war.« Mit einer unbestimmten Handbewegung weist der Mann auf die Reitschule.
»Sie wissen, wer der Täter ist?«
»Ja. Ich kenne diesen Typen.«
»Sie haben ihn gesehen?«
»Hier spaziert nicht jeden Tag einer mit einer geladenen Kalaschnikow vorbei.«
Milla schaut den Mann skeptisch an. Sie glaubt von sich, dass sie über eine gute Menschenkenntnis verfügt. Jetzt aber gelingt es ihr nicht, ihr Gegenüber einzuschätzen.
»Wie heißt der Täter?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich ihn schon gesehen habe. Er ist in den letzten Tagen hier herumgeschlichen.«
»Sie müssen das der Polizei erzählen.«
»Spinnst du? Mit den Bullen rede ich nicht!«
Der Mann wendet sich ab und geht zügigen Schrittes davon, als habe Milla ihm gerade die Polizei auf den Hals gehetzt. Sie überlegt kurz, ob sie ihm nachrennen soll. Aber was würde das bringen? Kaum hat sie sich aufgerappelt, steht Ivan neben ihr.
»Hast du den Kerl gesehen?«, fragt Milla.
»Welchen Kerl?«
»Der hier bei mir stand, gerade eben!«
»Ich hab niemanden gesehen. Komm, wir sind fertig, fahren wir nach Hause.«
Milla schüttelt den Kopf und fragt sich, ob sie sich die Begegnung mit dem fragwürdigen Zeugen womöglich nur eingebildet hat.
Während Milla Ivan dabei hilft, die Filmausrüstung im weißen Kastenwagen zu verstauen, sitzt Bettina noch immer auf dem gleichen Stuhl vor derselben Notaufnahme mit dem panischen Gefühl von Verlust im Bauch. Sie wippt mit den Füßen, starrt auf die Bodenplatten, mittlerweile hat sie begonnen, sie zu zählen. Der Gang ist acht Bodenplatten breit und bis zur nächsten Ecke dreiundfünfzig oder neunundvierzig oder achtundvierzig Bodenplatten lang, so lang, dass sie sich immer wieder verzählt und erneut von vorne beginnen muss.
Die Flügeltür zur Notaufnahme öffnet sich, Schritte nähern sich, Bettina blickt auf. Den Arzt, der auf sie zukommt, hat sie noch nie gesehen, und er bleibt tatsächlich vor ihr stehen.
»Mein Name ist Martin Fischer. Sind Sie die Lebenspartnerin von Petra Schmitz?«
Bettina schnellt hoch.
»Ja, sie lebt, oder? Sie lebt?«
»Sie ist derzeit stabil. Wir müssen aber abwarten, bevor wir eine Prognose machen können.«
»Gott sei Dank, sie lebt! Kann ich zu ihr?«
»Wir haben sie ins künstliche Koma versetzt. Ich kann Sie jetzt nicht zu ihr lassen, das ist ein Bienenstock da drin, wir haben alle Hände voll zu tun. Gehen Sie nach Hause, gönnen Sie sich Ruhe, in ein paar Stunden können Sie Petra besuchen, da werden wir sie auf die Intensivstation verlegt haben.«
Während der Arzt spricht, mustert er Bettina. Sie blickt an sich herab, sieht das Blut an ihrer Kleidung, es ist überall, es ist Petras Blut.
»Sie waren mit ihr da drin«, stellt der Arzt fest.
Bettina nickt und spürt, dass sich ihre Augen mit Tränen füllen. Sie war mit ihr da drin und hat sie doch nicht schützen können.
»Sind Sie verletzt? Hat Sie jemand untersucht?«
»Danke, ich bin in Ordnung. Das ist Petras Blut. Ich bin Polizistin.«
Sofort verändert sich etwas in der Art und Weise, wie der Arzt sie ansieht. Er nickt wissend.
»Fahren Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus.«
»Das werde ich tun.«
Die Lüge geht Bettina leicht über die Lippen. Sie wird zwar tatsächlich nach Hause fahren, sich duschen und die Kleidung wechseln. Doch ausruhen wird sie sich nicht. Sie wird zur Einsatzzentrale fahren. Sie will wissen, wer auf ihre Partnerin geschossen hat. Und falls der Täter noch nicht gefasst ist, dann will sie ihn kriegen. Dieser Teufel darf nicht damit davonkommen. Sie greift zum Telefon, um sich bei ihrem Chef nach dem Stand der Dinge zu erkundigen.
Sandro vernimmt ein leises Klopfen im Hörer. Er schaut auf das Display, das ihm einen eingehenden Anruf von Bettina anzeigt. Endlich, denkt er erleichtert. Aber er kann jetzt nicht, er wird sie zurückrufen, er hat gerade Malou in der Leitung. Er hört ihr schweigend zu, hin und wieder gibt er ein zustimmendes Murmeln von sich, obwohl ihm ganz und gar nicht gefällt, was er zu hören kriegt. Er weiß vom ersten Moment an, wovon sie spricht, als sie die Fotos mit den Stöckelschuhen erwähnt. Er erinnert sich, dass er schon damals ein ungutes Gefühl hatte, als er den ersten Schuh mit dem aufgespießten Foto in der Hand hielt – der Absatz steckte zielgenau im Gesicht der abgelichteten Person. Doch der forensisch-psychiatrische Dienst gab Entwarnung, und es ist ja zunächst auch nichts passiert – bis heute, bis zu dieser fatalen Nacht.
»Ich fürchte, der Täter hat noch andere Opfer im Visier. Ich wäre nicht überrascht, wenn er weiter tötet«, hört Sandro Malou sagen.
»Oder sie, vielleicht ist es eine Täterin«, korrigiert er sie automatisch.
»Ich weiß nicht, einer Frau traue ich eine solche Tat nicht zu.«
»Frauen ist immer alles zuzutrauen.«
»Auf jeden Fall müssen wir die anderen Männer warnen, die ebenfalls einen Schuh erhalten haben.«
»Kannst du das übernehmen?«
»Klar. Jetzt gleich oder warten wir bis morgen früh?«
»Warte bis morgen früh.« Sandro blickt auf die Uhr und stellt fest, dass fast schon morgen früh ist. »Wir wollen sie nicht in Panik versetzen. Aber Vorsicht ist bestimmt angebracht.«
»Wie läuft es bei euch?«
»Nichts Neues, wir sind dabei, die Aufnahmen aller Überwachungskameras in der Gegend zu sichern und zu sichten, doch bis jetzt haben wir noch kein Bild eines möglichen Täters.«
Weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn, fügt Sandro in Gedanken an. »Wir halten morgen um acht auf dem Präsidium eine Lagebesprechung ab.«
»Ich werde da sein.«
In dem Moment klatscht hinter Sandro jemand in die Hände.
»Ich habe was!«, ruft Florence Chatelat, die zwei Stühle weiter rechts im Einsatzwagen sitzt.
»Ich muss aufhören, bis später.« Sandro klickt den Anruf weg. »Was ist?«, fragt er Florence. Sie ist die IT -Spürnase im Team, die sich als Hackerin längst ein Vermögen hätte verdienen können. Für Sandro ist es ein Glück, dass sie sich trotz des geringeren Lohns für die legale Seite entschieden hat.
Jetzt sitzt ein zufriedenes Grinsen in ihrem Gesicht.
»Ich glaube, ich habe ihn gefunden.«