Nathaniel schlägt die Augen auf und sieht: nichts. Eine wehmütige Enttäuschung legt sich auf ihn. Gerade noch hat er geträumt, dass er wieder sehen konnte. So wie damals, als kleiner Bub, als er noch wie alle anderen war. Als er noch nicht blind war. Bevor er mit elf Jahren in einem Schusswechsel nicht nur seine Familie, sondern auch sein Augenlicht verlor. Wenn er davon träumt, ein Sehender zu sein, ist das Aufwachen als Blinder der Inbegriff von Traurigkeit. Dabei hat er sein Schicksal schon längst akzeptiert, hat sich eingerichtet in der schwarzen Welt, einer Welt, die sich für ihn so anders anfühlt als für die Menschen, deren Augen noch was taugen.
Er hat kein Gefühl für Tag und Nacht, für Morgen oder Abend, seine Jalousie ist immer unten, weil es für ihn keinen Unterschied macht. Er tastet mit dem linken Arm über die Matratze; er liegt allein im Bett. Also ist er bei sich zu Hause und nicht bei seiner Freundin Gundula. Er schläft mal bei ihr, mal daheim bei seiner Patchwork-Familie, sodass er sich manchmal nicht sicher ist, in welchem Bett er gerade liegt. Mit der anderen Hand tastet er nach seinem sprechenden Wecker, findet ihn und drückt auf die Taste in der Mitte.
»Es ist Freitagvormittag, sechs Uhr dreiunddreißig«, verkündet eine Frauenstimme.
Warum hat James ihn nicht geweckt? Nathaniel und sein neuer Blindenhund sind noch nicht das eingespielte Team, wie er und seine frühere Hündin Alisha es waren. Alisha hätte ihn längst mit einer Pfote auf seinem Gesicht aus dem Schlaf geholt, weil ihre Blase drückte. James hingegen wartet immer bis zur letzten Sekunde, bevor er sich bemerkbar macht, sodass sie es meist nicht mehr bis zum ersten Grünstreifen schaffen und er mitten auf dem Gehsteig eine Pfütze liegen lässt, oder etwas Größeres. Daran müssen sie noch arbeiten. Schließlich kann Nathaniel nicht mit James aufs Hundeklo joggen. In der Regel ist sechs Uhr früh James’ Gassi-Geh-Zeit, und Nathaniel wundert sich, dass er so lange stillgehalten hat. Manchmal vermisst er Alisha, die sieben Jahre lang an seiner Seite war. Die ihn nicht nur durchs Leben geführt, sondern ihm dieses Leben auch gerettet hat: Sie hat sich auf einen Mann gestürzt, der ihn mit einem Messer angegriffen hatte – und wurde dabei so schwer verletzt, dass sie nicht mehr als Blindenhündin infrage kommt. Nathaniel weiß, dass sie bei ihrer neuen Halterin Veronika gut aufgehoben ist, hin und wieder besucht er die beiden. Trotzdem hätte er sie lieber hier, bei sich. Doch das geht nicht. Er hat jetzt James.
»James?«, fragt Nathaniel in den Raum hinein.
Als Antwort erhält er ein Hecheln. Es scheint von unten zu kommen.
»James, bist du okay?«
In das Hecheln mischt sich ein leises Winseln.
»James, wo bist du?«
Ein kleiner Japser von unten, aber kein Hund an seinem Bett, keine nasse Schnauze an seinem Arm, keine Zunge, die sein Gesicht sucht.
Nathaniel setzt sich auf, will die Füße auf den Boden stellen, doch da ist etwas, unter seinem rechten Fuß zuckt etwas weg.
»James?«
Nathaniel beugt sich vor, tastet den Boden ab und findet vier Pfoten an vier Beinen, die unter dem Bett verschwinden. Er kann sich zunächst keinen Reim darauf machen. Erst als James erneut zu winseln beginnt, realisiert er, was passiert sein muss. James liegt flach auf der Seite unter dem Bett und hat es irgendwie zustande gebracht, sich so weit darunter zu schieben, dass er nun nicht mehr aufstehen respektive darunter hervorkommen kann, weil er mittlerweile zu groß dafür geworden ist. Nathaniel zieht an zwei der vier Pfoten und befreit seinen tollpatschigen Blindenhund aus der misslichen Lage. James dankt es ihm mit einem Freudentanz und schließlich doch noch mit einer nassen Zunge im Gesicht. Nathaniel fährt dem langhaarigen Schäferhund durchs Fell und stellt fest, dass er schon jetzt fast gleich groß ist wie Alisha – obwohl er noch lange nicht ausgewachsen ist.
Nathaniel steht auf, begibt sich zum Stuhl, auf dem er seine Kleidung abgelegt hat. Er, der als Kind immer alles überall verstreut liegen gelassen hat, ist zu einem regelrechten Ordnungsfanatiker mutiert – aus dem einfachen Grund, weil er sonst nichts wiederfinden würde. Unordentlichkeit und Blindheit vertragen sich nicht. Er schlüpft in die blaue Jeans und in das schwarze Shirt – er besitzt fast nur noch blaue Jeans und schwarze Shirts, weil er dadurch Fehlgriffe und unvorteilhafte Farbkombinationen vermeidet – und tastet nach der Tür.
»Lass uns Gassigehen«, sagt er zu James, der sich an sein Bein drängt. »Dachte ich mir doch, dass es mittlerweile dringend ist.«
Als Nathaniel aus seinem Zimmer in die Wohnung tritt, ist es seltsam still. Carole, mit der er eine Scheinehe eingegangen ist, und Silas, ihr Sohn und sein Adoptivkind, sind wohl bereits ausgeflogen. Eigenartig, dass er sie nicht gehört hat. Nathaniel hat Carole, seine lesbische Freundin, vor ein paar Jahren geheiratet, weil sie sonst das Sorgerecht für ihren Sohn Silas nicht zurückerhalten hätte. Mittlerweile sind sie eine eingespielte Patchwork-Familie. Er kümmert sich mindestens ebenso sehr um Silas, den er liebt, als wäre er sein Sohn.
Nathaniel zählt fünf Schritte ab, schon steht er neben der Wohnungstür und greift nach rechts zum Haken, an dem das Geschirr für seinen Blindenhund hängt. Ist er mit James unterwegs, verzichtet er auf seinen Stock – insbesondere, wenn er bloß mit ihm auf die Gassi-Runde geht.
Nathaniel lässt James in das Geschirr schlüpfen und öffnet die Tür, als er eine Stimme hinter sich vernimmt.
»Nathaniel?« Silas klingt anders als sonst. Verschlafen? Oder traurig?
»Guten Morgen, Silas, was ist los?«
»Weißt du, wo Mama ist?«
James zerrt am Geschirr, weil er Silas begrüßen gehen möchte. Nathaniel zieht ihn energisch zurück. Er muss ihm seine Spät-Welpen-Flausen endlich austreiben.
»Ist Carole nicht da?«
»Nein.«
»Vielleicht ist sie Frühstück einkaufen gegangen.«
»Hmm.«
»Sie ist sicher gleich zurück.«
»Ich glaube, sie ist schon lange weg.«
»Bist du denn schon früh aufgewacht?«
»Ja. Ich habe Spiderman gelesen. Peter wollte in den Urlaub fahren, er ist in Venedig, wo alle Straßen Flüsse sind, aber jetzt musste er schon wieder jemanden retten.«
Nathaniel muss schmunzeln. Silas begeistert sich für die gleichen Comic-Helden, die schon ihn als Jungen fasziniert haben.
»Vielleicht müssen wir auch Mama retten«, fährt Silas im gleichen Tonfall fort.
»Warum sagst du das?«
»Nur so.«
Nathaniel hält in der Bewegung inne.
»Warum glaubst du, dass wir Mama retten müssen?«
Silas kann nicht ahnen, warum Nathaniel sofort alarmiert ist. Denn er kennt nicht die ganze Wahrheit seiner eigenen Geschichte. Silas weiß zwar, dass er die ersten vier Lebensjahre bei einer anderen Familie gewohnt hat, weil seine Mutter schwer krank war. Doch er hat keine Ahnung, dass Carole ein Entführungsopfer war und bei seiner Geburt allein in einem Verlies saß und beinahe gestorben ist.
»Ich glaube, Mama ist gar nicht nach Hause gekommen«, erklärt Silas.
»Wie kommst du darauf?«
»Ihr Bett ist gemacht. Sie macht ihr Bett nie so früh am Morgen.«
Wo Silas recht hat, hat er recht, denkt Nathaniel. Es kommt vor, dass Carole nicht zu Hause schläft, dass sie mal eine Nacht bei einer Frau verbringt. Doch dann sorgt sie dafür, dass sie zurück ist, bevor Silas aufwacht – oder sie gibt rechtzeitig Bescheid und Nathaniel kümmert sich darum, dass Silas aufsteht und sein Frühstück kriegt.
Nathaniel überlegt, ob sie ihm gestern etwas gesagt und er es bloß vergessen hat – aber er kann sich beim besten Willen nicht erinnern. Sie ist ausgegangen, er hat erst mit Silas Das verrückte 3-D-Labyrinth gespielt, später, nachdem er Silas zu Bett gebracht hatte, hat er sich noch einen Podcast der BBC -Reihe angehört, danach ist auch er schlafen gegangen.
»Vielleicht hat sie bei einer Freundin übernachtet.« Nathaniel versucht, überzeugend zu klingen. »Wahrscheinlich hat sie einfach vergessen, es uns zu sagen. James muss dringend mal – kommst du mit raus?«
»Muss ich?« Silas klingt gar nicht begeistert.
»Komm doch mit, dann gehen wir auf dem Rückweg in der Bäckerei vorbei und trinken eine heiße Schokolade, bevor ich dich zur Schule bringe.«
Das Stichwort Schokolade funktioniert bei Silas immer. Nathaniel hört, wie er ins Zimmer rennt, um sich anzuziehen. Während er auf den Jungen wartet, greift er zum Telefon, tippt es an und sagt: »Carole anrufen.« Wenig später vernimmt er den unterbrochenen Summton. Es läutet fünf Mal auf der anderen Seite, bis die Mailbox rangeht.
»Carole, wo steckst du? Bitte melde dich, wir machen uns Sorgen.«