9.

Der große Zeiger der Uhr über der Zimmertür springt auf die Zwölf. Es ist acht Uhr früh, und obwohl die letzte Lagebesprechung im Einsatzwagen vor der Reitschule gerade erst vor knapp drei Stunden zu Ende gegangen ist, fühlt sich Sandro nach einem Powernap in seinem Büro wieder fit. Dem Adrenalin sei Dank. Er blickt sich um, sein Team ist vollständig, keinem ist die Müdigkeit anzusehen – keinem außer Bettina, denkt Sandro, obwohl sie gar nicht vor Ort war. Sie sieht aus, als hätte sie die Nacht durchgemacht. Neben Bettina Flückiger sitzen Malou Löwenberg, die vor ein paar Monaten von der Drogenabteilung zur Abteilung Leib und Leben gewechselt ist; außerdem Florence Chatelat, der IT -Nerd, und Bernard Blanc. Blanc ist nach Felix Winters vorzeitiger Pensionierung zu ihnen gestoßen, ein cleverer und erfahrener Fahnder, den Sandro von der Kriminalabteilung des benachbarten Kantons Aargau abwerben konnte. Auch die Rechtsmedizinerin Irena Jundt hat am Besprechungstisch Platz genommen, sie scheint überhaupt keinen Schlaf zu brauchen; selbst nach der vergangenen Horror-Nacht sieht sie aus, als käme sie direkt von einem Spa-Urlaub. Christian Tschabold, der Chef des Sonderkommandos, ist da, ebenso wie vier weitere Abteilungsleiter; es gilt, die verschiedensten Aufgaben zu koordinieren. Sandro nickt Malou zu, damit sie die Tür schließt, doch just in dem Moment tritt Staatsanwalt Kai Langenberger ins Zimmer. Er nickt in die Runde und nimmt als Letzter Platz.

»Es war eine lange Nacht«, sagt Sandro zur Eröffnung der Sitzung. »Ich fasse kurz zusammen, was geschehen ist.«

Sandro schildert den Ablauf des Attentats auf das alternative Kulturzentrum Reitschule, soweit er die Ereignisse bis jetzt rekonstruieren konnte. Die Anwesenden hören zu, ohne Zwischenfragen zu stellen. Die meisten von ihnen waren in der Nacht vor Ort und haben den Einsatz miterlebt.

»Der Täter ist noch immer flüchtig«, schließt Sandro seine Ausführungen. »Aber wir haben einen Verdächtigen. Florence, übernimmst du?«

Florence steht auf und begibt sich zur Magnetwand hinter dem Tisch.

»Bei uns sind letzte Nacht zwei Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen, die auf dieses Telegram-Profil aufmerksam machten.« Sie heftet ein Profilbild an die Wand, das einen Clown mit hässlich verzerrter Fratze zeigt. »Der Besitzer nennt sich Blackpill95, ich konnte seine Identität entschlüsseln; mit bürgerlichem Namen heißt er Sascha Vogt.« Sie hängt die Fotografie eines blassen, unauffälligen jungen Mannes neben die Clown-Fratze. Sein Gesicht scheint ungewöhnlich dreieckig, als wäre das Kinn zu schmal und die Stirn zu breit geraten. Schwarzes, gekraustes Haar, dunkle Augen, ein freundlicher Blick. »Er ist achtundzwanzig, Schweizer, wohnhaft in Bern. Gestern Abend um 19.33 Uhr hat er ein Bild von sich hochgeladen, auf dem er mit einem Schweizer Armee-Sturmgewehr posiert, dem SIG 550.« Florence heftet ein drittes Bild an die Wand. Der freundliche Blick ist einem düsteren gewichen. Doch trotz der schweren Bewaffnung wirkt der Mann noch immer seltsam harmlos – die Ordonnanzwaffe der Schweizer Armee passt nicht zu seiner Erscheinung. »Darunter schrieb er: Heute werden sie das Fürchten lernen. Check the news: Die Reithalle brennt. Das war zwei Stunden vor dem Attentat.«

Ein Raunen geht durch die Runde.

»Das Sonderkommando hat heute in den frühen Morgenstunden seine Wohnung in Bern-Bümpliz gestürmt«, informiert Sandro die Anwesenden. »Leider war er nicht zu Hause.« Er klingt sarkastisch, obwohl ihm nicht danach ist, Scherze zu machen. »In seiner Wohnung haben wir weitere Munition gefunden, und wir durchstöbern gerade die Festplatte seines Computers. Noch können wir nicht sicher sein, dass er der Täter ist, aber es spricht vieles dafür. Wir müssen ihn um jeden Preis finden, und zwar so schnell wie möglich.«

»Ist die Fahndungsmeldung schon raus?«, fragt Christian Tschabold.

»Die interne ja, die externe wird von Emilio Livingstone in diesen Minuten rausgegeben. Der Fahndungsaufruf wird in allen nationalen, regionalen und sozialen Medien erscheinen.«

»Weiß man schon etwas über seinen Hintergrund?«, erkundigt sich Bettina.

»Bis jetzt noch nicht. Wir sind auf nichts gestoßen, das auf eine Verbindung zu rechtsextremen oder anderen terroristischen Organisationen schließen lässt. Derzeit gehen wir davon aus, dass er allein gehandelt hat. Die Auswertung seines Computers wird mehr Klarheit bringen. Im Moment ist das Wichtigste, ihn zu finden und zu fassen. Wahrscheinlich sitzt er irgendwo in einem Versteck, oder aber er versucht, über die Grenze zu gelangen. Es ist kein Fahrzeug auf seinen Namen registriert. Obwohl der Verdächtige noch flüchtig ist, haben wir die höchste Terroralarmstufe wieder aufgehoben. Über die diversen Medienkanäle laufen aber weiterhin Warnungen und Zeugenaufrufe. Für die Fahndung nach Vogt haben wir auf verschiedenen Ebenen alle möglichen Maßnahmen eingeleitet. Kai, willst du gleich selbst?«

Staatsanwalt Langenberger räuspert sich. »Ich habe die Ortung von Vogts Handy bereits letzte Nacht bewilligt, und die Swisscom ist dem auch sofort nachgekommen – leider bislang ohne Erfolg. Das Gerät scheint nicht eingeschaltet zu sein. Die rückwirkende Erhebung der Randdaten seines Telefonverkehrs wie auch die Telefonüberwachung seines Anschlusses und jener seiner Verwandten habe ich beim Strafmaßnahmengericht beantragt, die Bewilligung ist gerade reingekommen. Wenn wir mehr Kontaktpersonen kennen, kann die Überwachung ausgeweitet werden. Unsere Leute sind alle im Einsatz – die Armee hat uns Hilfe zugesichert und wird uns Sicherheitspersonal zur Verfügung stellen. Auch zwei Hubschrauber des Militärs werden zur Fahndung eingesetzt.«

»Danke.« Bandini blickt auf die Uhr. »Sämtliche verfügbaren Streifen sind unterwegs. Mein Team wird sich nun auf Spurensuche in Sascha Vogts Privatleben begeben: Wen kannte er, wie sieht sein Beziehungsnetz aus, wo könnte er Zuflucht suchen, et cetera.«

Nach weiteren zehn Minuten sind die Aufgaben der verschiedenen Teams geklärt. Sandro verabschiedet die Abteilungsleiter und bittet seine Leute und die Rechtsmedizinerin, noch einen Moment zu bleiben.

»Wir haben noch einen weiteren Fall. Malou, kannst du …«

Malou hat sich schon erhoben, bevor Sandro zu Ende gesprochen hat.

»Ihr erinnert euch wahrscheinlich an die roten High Heels.«

Ein Blick in die Runde zeigt Malou, dass sie mit ihrer Vermutung falschliegt. Bernard Blanc schaut sie ratlos an, Bettina scheint ihr gar nicht zuzuhören und mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein, Florence kratzt sich an der Stirn und scheint nachzudenken, wenigstens etwas. Einzig Sandro nickt zustimmend. Malou stellt den Schuh in der durchsichtigen Plastiktüte, den sie aus der Asservatenkammer geholt hat, auf den Tisch. Daneben hält sie eine vergrößerte Kopie der Fotografie von Jürgen Bräutigam in die Höhe, auf der er nicht zu erkennen ist, weil an der Stelle seines Kopfes ein Loch klafft.

»Vor drei Monaten hat sich Jürgen Bräutigam an die Polizei gewandt, weil er sich bedroht fühlte. Er hatte im Paketfach seines Briefkastens diesen Schuh gefunden. Am Absatz aufgespießt befand sich eine Fotografie Bräutigams, sein Gesicht war ausgestanzt.« Malou erkennt an der Mimik ihrer zwei Kolleginnen, dass sie sich nun wieder erinnern. Nur für Bernard ist die Information neu, er war damals noch nicht im Team. »Wir haben nicht ermitteln können, wer der Absender oder die Absenderin des unerwünschten Geschenks war. Gestern Nacht aber fanden wir Bräutigam tot in seinem Bett. Seine Leiche trug nicht viel mehr als rote High Heels.«

Der letzte Satz saß, spätestens jetzt hat sie die volle Aufmerksamkeit ihrer Kolleginnen und Kollegen.

»Und eine Socke«, schiebt Malou nach.

»Nur eine Socke?«, fragt Sandro.

»Eine Kindersocke. Sie war über seinen Penis gestülpt.«

»Scheiße«, entfährt es Blanc.

»Außerdem trug der Tote eine schwarze Schnabelmaske«, fährt Malou fort, während sie eines der Tatortfotos an die Pinnwand heftet.

»Das Symbol für die Pest oder besser gesagt den Pestdoktor«, kommentiert Bettina, die ihrem Spitznamen The brain einmal mehr alle Ehre macht.

»Irena?«, fragt Malou in Richtung der Rechtsmedizinerin, die sofort das Wort übernimmt.

»Jürgen Bräutigam ist schon länger tot. Der Todeszeitpunkt liegt vermutlich zwischen Montagnachmittag und Dienstagmittag. Die Fäulnis hatte zum Zeitpunkt des Auffindens bereits eingesetzt, was sowohl die äußere Leichenschau wie auch die Obduktion erschwert hat. Im Moment muss ich sagen: Aus rein rechtsmedizinischer Sicht gibt es keine eindeutigen Anzeichen, die auf ein Tötungsdelikt hinweisen – wobei die Auffindesituation natürlich sehr dafür spricht.«

»Heißt das, dass du die Todesursache nicht herausgefunden hast?«, fragt Sandro nach.

»Ja. Sowohl die Todesursache wie auch die Todesart muss ich nach jetzigem Stand als unklar bezeichnen. Es gibt keine Spuren, die auf Gewalt schließen lassen. Die einzige Auffälligkeit bei der Obduktion ist mikroskopischer Natur: Das Opfer weist im Lungengewebe gerissene Alveolarwände auf. Das könnte auf eine akute Lungenüberblähung, also auch auf ein mögliches Ersticken hindeuten.«

»Aber das ist doch ein deutlicher Hinweis«, widerspricht Sandro.

»Leider nein. Diese Erscheinung könnte ebenso gut eine Folge einer chronischen Lungenerkrankung oder der schon eingesetzten Fäulnis sein. Wird eine Person durch Verschließen der Atemwege erstickt, ist dies per se schwierig nachzuweisen – um eindeutige Spuren zu erheben, müsste man in einem solchen Fall so früh wie möglich untersuchen können.«

»Es ist also auch denkbar, dass er während Fetisch- und Fesselungsspielen eines natürlichen Todes gestorben ist?«, fragt Blanc.

»Ja, das ist theoretisch möglich.«

»Allerdings würde der Gespiele oder die Gespielin den Toten kaum einfach so liegen lassen. Jeder normale Mensch würde ihn doch losbinden und versuchen, ihn zu retten und ins Leben zurückzuholen.« Sandro realisiert im selben Moment, in dem er die Worte ausspricht, dass seine Definition von normaler Mensch womöglich realitätsfremd ist. Menschen handeln in solchen Extremsituationen ganz unterschiedlich und nicht selten alles andere als vernünftig.

»Vergesst nicht die roten High Heels, die er trug – und den Schuh, der in seinem Paketfach lag«, wirft Malou ein.

»Zufall?« Blanc klingt nicht sehr überzeugt.

»Falls es kein Zufall ist, könnte es bald weitere Opfer geben: Zwei andere Männer haben sich ebenfalls an die Polizei gewandt, weil sie Stöckelschuhe in ihren Paketfächern fanden. Wer weiß, wer sonst noch alles die unliebsame Drohung erhielt.«

Malous Worte bleiben kurz unkommentiert im Raum hängen. Ihr Gewicht ist spürbar.

»Die Resultate der toxikologischen Untersuchung stehen noch aus.« Irena bricht das Schweigen. »Wir suchen nach verschiedensten Stoffen, womöglich stoßen wir hier auf eine Antwort.«

»Solange nicht sicher ist, ob es sich um einen natürlichen oder um einen unnatürlichen Todesfall handelt, gehen wir von einem Tötungsdelikt aus«, stellt Sandro klar. »Allerdings haben wir im Moment nicht genügend Kapazitäten, um mehr als eine Person darauf anzusetzen. Bettina, würdest du …«

»Nein. Ich … es tut mir leid, ich möchte bei der Fahndung nach dem Attentäter eingesetzt werden.«

Sandro stutzt, er wollte den Fall Bettina übergeben, weil sie viel mehr Erfahrung hat als Malou. Doch er hat weder Zeit noch Energie für Diskussionen.

»Dann Malou?«

Malou nickt.

»Sobald wir den Attentäter aufgespürt haben, werden wir dich voll unterstützen. Wo stehen wir bei den Obduktionen der Reitschule-Opfer?« Sandro richtet sich wieder an Irena.

»Das DVI -Team hat gute Arbeit geleistet. Der Notfall-Obduktionssaal in der Parkgarage hat sich bewährt. Sämtliche Opfer sind aufgrund von Schussverletzungen gestorben. Zwei der Opfer konnten noch nicht identifiziert werden.«

Sandro denkt an die Angehörigen – an diejenigen, die letzte Nacht oder heute Morgen von einem Polizisten Besuch erhalten und über den Todesfall informiert worden sind, und an jene, die noch nicht einmal wissen, dass sie jemanden verloren haben.

»Gut.« Sandro räuspert sich. »Florence, kannst du dich um die Auswertung der beschlagnahmten Festplatte von Sascha Vogt kümmern? Der kleinste Hinweis in seinen Social-Media-Profilen, in den E-Mails, in den Nachrichten kann uns zu seinem Versteck führen. Bernard, du nimmst dir die Daten der rückwirkenden und der aktuellen Telefonüberwachungen vor. Bettina, du suchst nach Verwandten und Bekannten, ehemaligen Schulkameraden, Arbeitskollegen – klappere ab, wen immer du finden kannst.« Bettina nickt und steht schon auf, obwohl die Sitzung noch nicht geschlossen ist.

»Wissen alle, was sie zu tun haben?«

Ein mehrstimmiges »Ja« kommt zurück. Sandro erhebt sich. Der Blick auf die Uhr zeigt ihm, dass in weniger als zehn Minuten ein weiteres Meeting mit dem Einsatzkommando ansteht. Er fasst sich an die Stirn, sie ist heiß. Schlaflose Nächte – früher hat er sie besser weggesteckt.

Sandro tut, was er immer tut, wenn ihn die Müdigkeit ausbremsen will: Er begibt sich in den Flur des Polizeigebäudes und steuert das Klo auf der gegenüberliegenden Seite an. Dort stellt er beim Waschbecken das Wasser auf kalt und hält den Kopf unter den eisigen Strahl. Er stöhnt auf, aber jetzt fühlt er sich wenigstens wieder wach. Mit den Handservietten trocknet er behelfsmäßig das Gesicht und rubbelt seinen schwarzen Schopf, sodass die Haare wild in alle Richtungen abstehen, was ihm noch immer ein jungenhaftes Aussehen verleiht. Doch als er sich im Spiegel ins Gesicht blickt, sieht er die Falten um seine Augen, die man nicht länger nonchalant als Lachfalten abtun kann, betrachtet die Lider, die irgendwie tiefer hängen, und die dunklen Schatten darunter. Sandro fühlt sich, als sei er in den letzten vierzehn Stunden um zehn Jahre gealtert. Und vielleicht ist er das auch. Womöglich ist es genau das, was dieser Beruf mit ihm macht: Er lässt ihn zu schnell altern.