10.

Milla öffnet das linke Auge und sieht zwei schwarze Pfötchen vor ihrer Nase. Sie schlägt auch das rechte auf, erblickt ihren Kater Iggy nun in ganzer Größe und erntet von ihm einen Blick, den sie sowohl als hungrig als auch als verständnislos deutet. Als könnte ihr Kater nicht begreifen, wie sie so lange schlafen kann, wenn er doch etwas zu fressen will. Iggy sitzt einfach nur da und starrt vorwurfsvoll auf sie herab. Seit dem gewaltsamen Tod seiner Schwester Pop ist er seltsam geworden, denkt Milla, als sie sich aus der Decke schält. Und alt, auch alt ist er geworden, ebenso wie sie.

Vor ihrem Vierzigsten konnte eine durchwachte Nacht ihr nichts anhaben. Das war einmal. Jetzt spürt sie es in allen Gliedmaßen, wenn sie nicht genug Schlaf bekommt. Heute fühlt sich ihr ganzer Körper eingerostet an. Sie ist nach dem Dreh in den frühen Morgenstunden mit ihrem Kameramann Ivan zurück nach Zürich gefahren, in ihr eigenes Zuhause, denn zu einer gemeinsamen Wohnung konnten Sandro und sie sich noch nicht durchringen. Sie haben dieses Ziel aus den Augen verloren, weil es immer wieder Zeiten gibt, in denen beide froh sind, sich in die eigenen vier Wände zurückziehen zu können.

Es ist nicht nur der Schlafmangel, der Milla zu schaffen macht. Obwohl sie jeweils in den Journalisten-Modus schaltet und das Mikrofon in ihrer Hand und die Kamera an ihrer Seite wie ein Schutzwall wirken, damit ihr das Geschehen nicht zu nahe gehen kann, hat der gestrige Einsatz doch auch mental Spuren hinterlassen. Die vielen Toten und Verletzten, die Gefahr durch den Attentäter, die nicht gebannt ist, die schockierten Menschen, dieses sinnlose Sterben und Leiden … warum? Und warum immer wieder? Sie kriegt es nicht in ihren Kopf hinein, dass Menschen anderen Menschen solches Leid zufügen, auch nicht nach all den Jahren im Beruf, in denen sie so vieles gesehen hat. Sie wird es nie verstehen.

Milla steht auf, blickt zum Handy auf dem Nachttisch und lässt es unberührt liegen, sie schlurft in die Küche, dicht gefolgt von Iggy, bereitet ihm sein Frühstück zu und füllt frisches Wasser in den Napf. Sie greift zum Espresso-Kocher, um sich Kaffee zu machen, überlegt es sich anders, öffnet den Kühlschrank und nimmt einen Energie-Drink heraus. Ultrastrong. Sie muss sich wachpushen, der Tag wird anstrengend werden. Erst nach drei Schlucken aus der Dose holt sie ihr Handy, um nachzusehen, wer sie schon alles zu erreichen versucht hat. Es sind einige. Bloß Sandro hat sich nicht gemeldet. Hoffentlich ist er in Ordnung. Zuoberst stehen sieben unbeantwortete Anrufe ihres Chefs. Mit einem Seufzen tippt sie die Nummer an.

»Milla, es ist schon fast halb neun, wo um Himmels willen steckst du?«, fragt Wolfgang zur Begrüßung.

»Dir auch einen guten Morgen«, gibt Milla zurück. »Ich bin erst um fünf Uhr früh ins Bett gekommen, etwas Schlaf wirst du mir ja wohl erlauben.« Ihr Tonfall ist giftiger als beabsichtigt.

»Natürlich, klar«, lenkt Wolfgang ein. »Wann kannst du hier sein? Sie haben einen Verdächtigen, es wird nach einem Sascha Vogt gefahndet. Wir müssen alles über ihn herausfinden.«

Wenigstens, denkt Milla, verlangt er nicht von mir, den Attentäter persönlich zu fassen.

»Oder noch besser: ihn aufspüren!«

Milla verdreht die Augen.

»Ich bin in einer halben Stunde im Büro.«

»Gut. Bis gleich. Beeil dich, es gibt viel zu tun.«

Manchmal könnte Milla ihren Chef erwürgen.

Als sie eine halbe Stunde später mit dem Badge die Tür zum Hochhaus öffnet, in dem die Redaktion der Sendung Wochenthemen untergebracht ist, ist sie auf dem neuesten Stand – obwohl für sie nicht vieles neu ist. Einzig der Name des mutmaßlichen Täters: Sascha Vogt. Milla hat sich im Tram durch alle dazu veröffentlichten Meldungen und Nachrichten gehört und gelesen, aber viel ist über den Attentäter nicht bekannt. Man weiß nur, dass es sich bei Sascha Vogt um einen achtundzwanzigjährigen Berner handelt, der bis dahin nie polizeilich aufgefallen ist. Das Fahndungsbild zeigt einen Mann, den sie auf der Straße nicht beachten würde; er wirkt käsig, unauffällig, die Proportionen des Gesichts haben sich irgendwie zu seinen Ungunsten verschoben, es wirkt zu dreieckig. Wie jung er aussieht, war Millas erster Gedanke, als sie das Fahndungsbild studiert hat, wie harmlos. Es ist kaum vorstellbar, dass dieses Babyface all die Menschen auf dem Gewissen hat. Die Zahl der Todesopfer musste mittlerweile auf vierzehn korrigiert werden. Eine verletzte Frau ist in den frühen Morgenstunden verstorben.

»Milla!«

Wolfgang brüllt ihren Namen, noch bevor sie im Flur die Tür zu seinem Büro passiert hat. Er muss über einen sechsten Sinn verfügen, der Alarm schlägt, sobald seine Lieblingsmitarbeiterin die Etage betritt. Oder er hat eine Überwachungskamera installiert, um zu sehen, wer wann kommt und wer wann geht. Milla wäre nicht mal überrascht.

»Wolfgang«, sagt sie zur Begrüßung, als sie in sein Büro tritt.

»Hast du schon etwas herausgefunden?«

»Nicht mehr als das, was heute früh online gegangen ist.«

»Danke für das Material, das du gestern selbst gedreht hast. Wir haben alles in der Nachtausgabe gebracht, hast du den Beitrag gesehen?«

Milla schüttelt müde den Kopf.

»Nein, natürlich nicht, du warst ja weiterhin unterwegs«, stellt Wolfgang fest. »Mit Ivan, richtig? Was habt ihr mitgebracht?«

»Wir haben viele Interviews mit Überlebenden gedreht und verschiedenste Bilder des Einsatzes aufgenommen. Wir können damit die Geschehnisse der Nacht eindrücklich nacherzählen.«

»Gut. Aber wir brauchen vor allem auch was zum Attentäter.«

Schon klar, denkt Milla. »Aye aye, Chef, ich mach mich schon auf die Jagd.«

»Großartig, Milla, großartig!«

Wolfgang setzt ein begeistertes Strahlen auf, als hätte er die Mimik in einem Motivationsseminar einstudiert.

»Wir werden sehen.« Milla sagt es eher zu sich selbst als zu ihrem Chef.

An ihrem Platz im Großraumbüro fährt sie den Computer hoch und macht etwas, das sie manchmal beinahe vergisst, weil es zu simpel und fast ein bisschen aus der Zeit gefallen wirkt: Sie schlägt im elektronischen Telefonbuch den Namen Sascha Vogt nach – und wird tatsächlich fündig. Zwei Einträge. Bingo, denkt Milla, und stellt die Festnetznummer ein, die neben dem ersten Namen steht.

»Sascha Vogt«, sagt ein Mann am anderen Ende der Leitung.

Milla zuckt zusammen. Sie hat nicht damit gerechnet, dass jemand rangeht. Was, wenn sie auf Anhieb beim richtigen Sascha Vogt gelandet ist und den Attentäter selbst am Draht hat? Nein, das ist unmöglich, denkt Milla.

»Guten Tag, Nova hier, sind Sie persönlich Sascha Vogt?«

»Ja, bin ich, wer sollte ich sonst sein?«

Da geschieht etwas, das Milla selten passiert: Sie ringt um Worte.

»Sind Sie noch dran?«

»Ja, Entschuldigung, ich bin Milla Nova vom Schweizer Fernsehen, Sendung Wochenthemen. Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?«

»Sie wollen wissen, wie alt ich bin? Das geht Sie überhaupt nichts an!«

»Entschuldigung. Es ist nur … Ich bin auf der Suche nach einem Mann namens Sascha Vogt, achtundzwanzig Jahre alt.«

»Dann sind Sie bei mir falsch.«

Milla hält inne. Ist es möglich, dass …

»Herr Vogt, haben Sie wirklich noch nichts von der Großfahndung gehört?«, fragt sie vorsichtig.

»Welche Fahndung?«

»Es wird nach einem Attentäter gesucht, ein Mann aus Bern, der …« Milla stockt. »… der Ihren Namen trägt: Sascha Vogt.«

Jetzt ist es Vogt, der ein paar Sekunden lang nicht weiß, was er sagen soll.

»Nach mir wird gefahndet?«

»Wohl eher nach einem Namensvetter.«

»Also nein, ich bin kein Attentäter. Ich hab noch nichts davon gehört. Wissen Sie, ich schaue nicht oft fern und lese keine Zeitung. Die Medien heute, Sie wissen schon … Was hat der Attentäter denn getan?«

»Er hat in der Berner Reithalle mehrere Menschen erschossen.«

»Großer Gott!«

Spätestens jetzt ist Milla sicher, dass sie es bloß mit einem Namensvetter und nicht mit dem Attentäter selbst zu tun hat. Sein Entsetzen ist nicht gespielt.

»Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe. Nichts für ungut. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

Milla klickt den Anruf weg, bevor Vogt etwas erwidern kann. Sie fragt sich, ob es ein schöner Tag für ihn werden kann – oder ob er von nun an nicht ständig mit einem brutalen Attentäter verwechselt werden wird.

Sie stellt die Handynummer ein, die unter dem zweiten Sascha Vogt eingetragen ist.

»Dieser Mobilfunkteilnehmer ist momentan nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal«, teilt ihr eine automatisierte Frauenstimme mit.

Das könnte ein Treffer sein! Milla schreibt die Nummer in ihr Notizheft – sie ist sicher, dass sie dem Attentäter gehört. Auch die Adresse notiert sie sich: Zwinglistrasse 33, Bern. Sie tippt die Karte an; sie kennt das Quartier und weiß, wo das Haus liegt. Sie wird heute Mittag hinfahren.

Als Nächstes gibt Milla den Namen Sascha Vogt in die Suchmaske im Internet ein – und erhält Hunderte Treffer. Sie flucht innerlich: Es gibt nicht nur einen deutschen Politiker, der denselben Namen trägt, sondern auch einen Fußballer namens Sascha Vogt. Das bedeutet, dass das Internet voll ist mit Beiträgen, die den Namen enthalten – darunter etwas über den unbekannten Sascha Vogt zu finden ist beinahe unmöglich, zumindest nicht ohne zeitintensive Sucharbeit. Und wenn Milla etwas nicht hat, dann Zeit. Unter Sascha Vogt, Bern findet sie hingegen gar nichts, nicht einmal ein Facebook- oder ein LinkedIn-Profil, auch keinen Twitter- oder Instagram-Account.

»Mist, Mist, Mist«, flüstert Milla vor sich hin.

Noch ein Versuch: Dieses Mal gibt sie die Handynummer ein, die mutmaßlich dem Attentäter gehört. Google spuckt dazu nur einen einzigen Link aus, der auf eine Verkaufsplattform von Occasion-Fahrzeugen verweist. Milla klickt ihn an – doch sie erhält bloß die Nachricht, dass die Seite nicht mehr angezeigt werden kann. Also tippt sie auf den Zurück- Button, klickt auf das kleine Pfeilchen neben dem angezeigten Link und öffnet damit die Seite im Cache. Dieses Mal hat sie mehr Erfolg: Sie gelangt auf das alte Inserat, das hier einst geschaltet war. Die Auktion ist zwar beendet, trotzdem ist der Eintrag noch immer online zu finden: Eine Person mit der Handynummer von Sascha Vogt hat vor zwei Monaten versucht, sein Suzuki-Motorrad loszuwerden. Standort des Fahrzeugs: Bern. Name und Adresse des Verkäufers sind im Inserat allerdings nicht angegeben – da steht nur ein Nickname: Blackpill95.

Die Ausbeute ihrer kleinen Internetrecherche ist mager. Aber eine Adresse und ein Nickname – das ist besser als nichts, versucht Milla sich selbst zu motivieren. Denn wer sich einmal einen Nutzernamen gegeben hat, hat den womöglich auch bei anderen Gelegenheiten verwendet. Also durchsucht Milla das Netz mit dem Stichwort Blackpill95 . Sie stößt auf einen Song, auf eine sogenannte Blackpill-Theorie und auf irgendwelche Computer-Bausteine, doch auf nichts, das zu einem Personenprofil von Blackpill95 führen würde, hinter dem sie Sascha Vogt vermutet. Zuletzt versucht sie es mit Blackpill95 und Telegram. Auch hier wird sie nur auf allgemeine Telegram-Kanäle verwiesen, unter anderem auf einen mit dem Titel: Learn Best Hacking. Vielleicht, denkt Milla, sollte sie sich hier weiterbilden, damit sie bei der nächsten Suche nach den Spuren eines Attentäters im Netz nicht erneut derart kläglich scheitert.

Kaum hat sie den Gedanken zu Ende gebracht, fällt ihr ein, dass sie nicht zur Hackerin werden muss; schließlich gibt es bereits einen solchen in ihrer Familie. Sie stellt die Nummer ihres Lieblingscousins Kaspar ein, der sich erstens sein Leben als ausgezeichneter Hacker verdient und der, zweitens, Milla nie einen Wunsch abschlagen kann. Als der Summton in ihrem Gerät erklingt, sieht sie Kaspar vor ihrem inneren Auge in seinem abgedunkelten Zimmer sitzen, einzig erleuchtet durch den schwachen Lichtschein des Bildschirms, umgeben von seinem Messie-Chaos, das immer größer und größer wird. Kaspar geht wie immer sofort ran.

»Milla, Herzchen!«, singt er ins Telefon. »Was kann ich für dich tun? Ich gehe davon aus, dass du nicht anrufst, nur um deinem Cousin einen schönen Tag zu wünschen.«

Milla holt Luft, kommt aber nicht dazu, etwas zu sagen.

»Lass mich raten«, fährt Kaspar unbeirrt fort. »Du jagst gerade einen Terroristen und willst, dass ich ihn für dich finde.« Kaspar kichert sein Lachen, das Milla stets an den kleinen Jungen erinnert, der Kaspar vor vielen Jahren mal war.

Natürlich hat er recht, wie immer, doch das würde Milla niemals zugeben.

»Nein, nein, keine große Sache, echt nicht, ich möchte dich nur um einen kleinen Gefallen bitten, und dieses Mal darfst du mir deinen Aufwand auch in Rechnung stellen, denn ich wende mich beruflich an dich.«

»Also geht es tatsächlich um den Anschlag auf die Reitschule in Bern«, stellt Kaspar selbstzufrieden fest. »Ich sollte mich auf dem zweiten Bildungsweg zum Wahrsager ausbilden lassen.«

Jetzt muss auch Milla lachen, doch sie wird sofort wieder ernst. »Erinnerst du dich an unsere Recherche in der rechtsextremen Szene?«

»Wie könnte ich die vergessen haben.«

»Damals hast du doch in zahlreichen einschlägigen Foren inkognito Fake-Profile angelegt. Sind die immer noch aktiv?«

»Ja, sind sie. Es ist immer gut zu wissen, was wann wo abgeht und ob es irgendwo brennt. Ich habe mich auch bei radikal-islamistischen und antifaschistischen Seiten infiltriert.«

»Perfekt. Mein Problem ist: Ich finde praktisch nichts über den gesuchten Attentäter im Netz – aber ich habe einen seiner Nutzernamen herausgefunden, zumindest bin ich mir da ziemlich sicher. Könntest du die Foren nach seinem Nickname durchsuchen? Vielleicht beteiligt er sich dort an Diskussionen, womöglich findest du ein Profil, das etwas über ihn aussagt.«

»Ich kann’s versuchen. Bis wann brauchst du was?«

»Eigentlich bis jetzt.«

»Warum nur bin ich nicht überrascht?« Kaspar stöhnt theatralisch auf. »Wie lautet der Nickname?«

»Blackpill95«

»Blackpill?«

»Ja, warum?«

»Allein der Name ist ja wohl schon Hinweis genug.«

»Wie meinst du das?«

»Du weißt schon, was hinter der Blackpill-Theorie steht?«

Milla ärgert sich, dass sie gerade eben nicht selbst darauf gekommen ist, den Link zu öffnen, der zur Blackpill-Theorie führte.

»Nein, weiß ich nicht.«

»Schon mal was von Elliot Rodger gehört?«

»Nein.«

»Oder von den Incels?«

»Ja, das sagt mir was, und zwar nichts Gutes. Das hat was mit Frauenhass zu tun.«

»Himmel, Milla, du bist Journalistin! Incel steht für involuntary celibate, also für unfreiwillig sexuell enthaltsam. Zu der radikalen Incel-Szene zählen sich Männer, die sich diskriminiert fühlen und der Gesellschaft, dem Feminismus, den Frauen im Allgemeinen die Schuld dafür geben, dass sie noch nie Sex hatten – obwohl sie meinen, ein Recht auf Geschlechtsverkehr zu haben. Weil sie keine Foids oder Femoids haben können, wie sie die Frauen abschätzig nennen, hassen sie sie. Keine freundlichen Gesellen, glaub mir.«

»Frauenhass als Mordmotiv?«, fragt Milla. Sie sieht die verletzten und toten Frauen vor sich, die auf Bahren aus der Reithalle getragen worden sind.

»Das wäre nicht das erste Mal.«