Die Straße liegt wie ein graues Band zwischen den grünen Feldern des Tals. Bettina hat die Stadt Bern gerade erst hinter sich gelassen, doch schon fühlt sie sich wie in einer anderen Welt. Sie durchquert die Gemeinde Utzigen, eine Handvoll Häuser, zwanzig Sekunden, und das Dorf liegt schon wieder hinter ihr. Die Adresse, die sie sucht, befindet sich weiter oben, dort, wo die Landschaft hügelig wird. Die Straße wird erst steiler, dann schmaler und geht schließlich in einen Feldweg über. Hier liegen die Bauernhöfe spärlich verstreut, als habe ein Künstler aus schierer Langweile einen mal hier, einen mal dort ins Bild gepinselt. Es dauert fünf weitere Fahrminuten, bis Bettina den Bauernhof von Saschas Großmutter erblickt. Er liegt am Ende eines Feldweges, der aussieht, als ob hier schon lange niemand mehr vorbeigekommen wäre. Bettina hält an, legt den Rückwärtsgang ein und fährt so weit zurück, dass sie den Hof nicht mehr sehen kann. Sie stellt den Wagen am Wegesrand ab.
Bettina zögert einen Moment, bevor sie aussteigt. Wenn sie etwas gelernt hat in ihrer Ausbildung und in all den Jahren, die sie nun bei der Polizei arbeitet, dann eines: Man begibt sich nie allein in eine Gefahrensituation, man wartet immer auf Verstärkung.
Bettina gibt sich einen Ruck, stellt ihr Handy auf lautlos, bindet sich das Pistolenhalfter um, steigt aus und macht sich zu Fuß auf den Weg zum Bauernhof, auf dem Sascha Vogt als Kind gespielt hat – und der ihm heute als Versteck dienen könnte, nachdem er vierzehn Menschen erschossen hat.
Als sie um die Kurve biegt, liegen der Weg offen und die Landschaft breit vor ihr. Bettina flucht innerlich: Es gibt keine Möglichkeit, sich ungesehen dem Hof zu nähern. Sie legt sich neben dem Weg flach ins Gras, sucht nach dem kleinen Feldstecher in ihrer äußeren Hosentasche und versucht zu erkennen, ob sich auf dem Bauernhof etwas regt. Doch sie sieht nichts; keine Bewegung, kein Lebenszeichen. Auch kein Laut ist zu vernehmen. Das Gebäude liegt verlassen da.
Trotzdem hat Bettina das Gefühl, dass sich jemand dort aufhält. Es ist zum einen ihr Instinkt, der ihr das sagt. Ihre Nackenhaare haben sich aufgerichtet, ihr Puls geht schnell, gleichzeitig ist sie hellwach. Zum anderen steht neben der Haustür etwas, das ihren Argwohn weckt: ein altes Motorrad.
Bettina bleibt nichts anderes übrig, als über den Feldweg zu gehen, als wäre sie eine Wanderin, die sich beim Kartenlesen vertan hat und aus Versehen in die Sackgasse geraten ist. Sie zwingt sich, langsam zu schlendern, obwohl sie am liebsten rennen würde, um schnellstmöglich irgendwo in Deckung zu gehen. Das Areal umfasst das Bauernhaus, zwei Ställe, zwei Silos, eine offene Garage und eine Tenne, auf der das Heu gelagert wurde. Kaum ist sie bei den Gebäuden angekommen, versteckt sie sich hinter dem Stall, der an das Wohnhaus angebaut ist. Das Fehlen der Geräusche eines Bauernhofes verleiht der Szenerie etwas Unwirkliches. Als wäre sie nach Drehschluss auf einem Filmset gelandet, wo alle längst abgereist sind. Allerdings riecht es hier nicht nur nach Verlassenheit – sondern ebenso eindringlich nach Gefahr.
Noch immer rührt sich nichts. Nur die Vögel in den Bäumen sind zu hören und das Rascheln von altem Laub, das der Wind in Wirbeln vor sich hertreibt. Bettina zuckt zusammen, als es über ihr plötzlich laut knackt. Sie blickt hoch; altes Gebälk. Das Holz arbeitet, hat ihr Vater früher stets gesagt, wenn sie sich als kleines Kind gefürchtet hat. Da ist nichts. Auf jeden Fall kein Mensch. Höchstens ein alter Geist, würde ihre Mutter sagen. Vater, Mutter, die ebenfalls Bauern waren, mit denen sie vor Jahren gebrochen hat, weil sie ihre Liebe zu einer Frau nicht akzeptieren wollten.
Konzentrier dich, sagt Bettina innerlich zu sich selbst. Auch wenn der Bauernhof Erinnerungen weckt – es ist nicht die Zeit für Nostalgie. Bettina konzentriert sich auf die Haustür; sie wird wie bei den meisten Bauernhäusern direkt in die Küche führen. Das Fenster neben der Tür ist blind; alter Staub klebt daran, kaputte Spinnweben hängen in Fetzen in den Fensterecken. Hier hat schon lange niemand mehr geputzt.
Vielleicht hat sie sich geirrt. Hier ist niemand.
Vorsichtig schleicht sich Bettina ans Wohnhaus heran. Sie hält sich dicht an der Wand und stellt sich neben das Fenster. Keine sieben Meter von ihr entfernt steht das Motorrad, eine gelbe Suzuki, sie muss aus den Siebzigern stammen; nicht gerade das Motorrad eines Achtundzwanzigjährigen.
Aber es hat ein Nummernschild.
Bettina greift zum Handy, gibt die Nummer in das Fahrzeugregister ein und erhält sofort einen Treffer: Das Motorrad ist auf eine Natascha Bieri zugelassen, wohnhaft in Adelboden, hoch in den Bergen in einer ganz anderen Ecke des Kantons Bern.
Bettina stutzt und greift erneut zum Fernglas, obwohl der Töff zum Greifen nah ist. Durch die Vergrößerung erkennt sie, was ihr zuvor entgangen ist: Das Nummernschild ist nur gemalt. Ein Fake.
Bettina spürt ihr Herz schlagen. Jetzt ist sie sicher: Er ist hier.
So langsam, dass ihre Bewegung kaum wahrzunehmen ist, lehnt sie sich nach vorn, um durch das Fenster ins Innere des Hauses zu spähen. Die Küche ist unaufgeräumt. Eine Kaffeetasse steht auf dem Tisch, daneben liegt ein Magazin, Bettina glaubt, die Schweizer Illustrierte zu erkennen. Auf einem leeren Teller liegt ein Messer. Als hätte hier jemand gefrühstückt. Doch sogar durch das schmutzige Fenster sieht Bettina, dass auf dem Teller eine Schmutzschicht liegt. Es handelt sich wohl eher um das Geschirr eines letzten Frühstücks einer vor Monaten verstorbenen Bäuerin als um ein frisches Gedeck. Vielleicht hat er es einfach liegengelassen, als er letzte Nacht hier Zuflucht suchte.
Bettina greift zur Waffe und entsichert sie. Das Klicken klingt in der Stille viel zu laut. Sie hält inne, lauscht. Nichts regt sich. Sie macht einen weiteren Schritt zur Tür, legt die Hand auf die Klinke, drückt sie ganz langsam hinunter. Nicht abgeschlossen. Wer so abgelegen lebt, erwartet keine Besucher. Sie schiebt die Tür auf und verursacht ein Knarren, das ihr einen Schauer über den Rücken jagt. Wieder hält sie in der Bewegung inne. In dem Moment vernimmt sie noch ein anderes Geräusch. Ein schnarrendes Grunzen wie von einem Tier. Im ersten Augenblick ist ihr nicht klar, was sie hört. Erst mit einer Verzögerung von mehreren Sekunden realisiert sie, dass es ein Schnarchen ist. Es kommt aus einem der hinteren Zimmer.
Bettina kann es nicht fassen: Das Arschloch liegt hier und pennt! Als wäre nichts gewesen.
Sie atmet langsam aus und wieder ein und wieder aus. Ruhig bleiben, denkt sie, ich muss ruhig bleiben. Ihr Herz rast, sie spürt kalten Schweiß an ihren Händen. Sie darf nicht wütend werden. Sie muss sich beruhigen. Fokussieren, sagt sie sich, ruhig bleiben. Bettina wiederholt die Worte in ihrem Kopf, während sie sich gleichzeitig auf ihr Atmen konzentriert: einatmen, ausatmen, ruhig bleiben. Das Geschnarche stockt. Stille. Bettina erstarrt. Ein japsendes Schnappen nach Luft, dann setzt das Schnarchen wieder ein.
Mit höchster Körperspannung und der größten Konzentration, darauf fokussiert, ja kein Geräusch zu verursachen, schleicht sich Bettina in die Stube. Die Waffe im Anschlag. Rechts von ihr steht ein Biedermeier-Sessel, links, unter dem Fenster, ein zerschlissenes Sofa. Daneben eine verstaubte Stehlampe. Vorhänge, die wahrscheinlich mal rot gewesen sind, und ein ausgetretener Teppich mit undefinierbarer Farbe. Darauf ein Esstisch mit vier Stühlen. An der Lampe darüber hängen klebrige gelbe Streifen; Fliegenfallen. Mehrere tote Insekten haften daran. Bettina nimmt jedes Detail im Raum überscharf wahr, fast so, als hätte sie LSD eingeworfen. Sie geht weiter, tritt auf ein Bodenbrett, das fürchterlich laut unter ihrem Fuß ächzt.
Wieder setzt das Schnarchen aus – um kurz darauf in unregelmäßigem Rhythmus wieder einzusetzen.
Die Tür zum Schlafzimmer ist nur noch zwei Schritte entfernt. Bettina ist jetzt ganz ruhig. Sie tritt nicht auf die Schwelle, um ein weiteres Knarren zu verhindern, sondern direkt in den Raum hinein, den Finger schussbereit am Abzug.
Das Bett steht rechts von ihr an der Wand. Darauf liegt ein junger Mann. Schwarzes Haar, dreieckiges Gesicht. Daneben: Schuhe, Pullover und Jeans, achtlos auf den Boden geschmissen. Sie sind blutverschmiert.
Sie hat ihn. Jetzt hat sie ihn. Sie hat ihn gefunden! Den Mann, der Petra niedergeschossen hat. In Bettina flammt eine Wut auf, wie sie sie noch nie zuvor empfunden hat. Nichts auf dieser Welt hasst sie so sehr wie den Menschen, der hier wehrlos vor ihr liegt. Sie atmet ein. Atmet aus. Atmet ein. Er schnarcht.
Sie hebt die Waffe an und zielt auf seinen Kopf.