Dieses Mal ist alles ein bisschen anders als sonst. Als Milla Sandro am Rednerpult sitzen sieht und die vielen Fragen der Journalisten beantworten hört, ist sie plötzlich stolz. Stolz auf Sandro, dass er den Kerl erwischt hat. Stolz auch darauf, dass sie die Frau an der Seite dieses Mannes ist, der dort vorne so souverän agiert.
Auch unmittelbar nach der Pressekonferenz passiert etwas Ungewöhnliches: Während Milla es bis zum heutigen Tage tunlichst vermieden hat, ihren Lebenspartner vor der Kamera zu interviewen, macht sie dieses Mal eine Ausnahme. Genauer gesagt: Sie muss eine Ausnahme machen, denn das Wort des Polizeichefs gehört in ihren Beitrag rein, anders geht es nicht.
Also wartet sie mit Ivan bei der bereits aufs Stativ montierten Kamera, bis der Medienverantwortliche Emilio Livingstone Sandro zu ihr bringt.
»Ich werde dich siezen für das Interview, okay?«, sagt Milla zu Sandro, den sie ausnahmsweise nicht mit einem Kuss begrüßt.
»Einverstanden.« Sandro lacht.
»Natürlich wäre es gut, wenn du mich auch siezen würdest.« Auch Milla muss jetzt schmunzeln über die absurde Situation. »Ivan, bist du so weit?«
»Läuft.« Ivan kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Herr Bandini, wie ist es Ihnen gelungen, den Attentäter zu überführen?«
»Aufgrund unserer Recherchen haben wir herausgefunden, wo sich der Tatverdächtige verstecken könnte. Dort ist dann der Zugriff erfolgt. Dass wir den Tatverdächtigen verhaften konnten, ist der guten Zusammenarbeit aller beteiligten Stellen zu verdanken.«
Milla verdreht die Augen. Sandro klingt trocken und emotionslos, als würde er ein offizielles Statement der Regierung verlesen. Auch hat sie gehofft, dass sie ihm mehr Details entlocken kann als die karge Schilderung, die er soeben vor dem Plenum abgegeben hat – vergebens.
»Wo genau ist der Zugriff erfolgt?«, hakt sie deshalb nach.
»Auf einem abgelegenen Bauernhof, mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«
»Das ist doch ein großartiger Erfolg! Ich bin sicher, Ihr Team hat jetzt etwas zu feiern. Wie fühlen Sie sich persönlich?« Milla versucht selbst begeistert zu klingen, um Sandro aus der Reserve zu locken. Sie wünschte sich etwas mehr Emotionen. Es gelingt nicht.
»Mir ergeht es wie wohl vielen in der Stadt Bern und im ganzen Land: Ich verspüre Erleichterung, dass wir den Tatverdächtigen haben verhaften können und dass keine Gefahr mehr von ihm ausgeht. Gleichzeitig bin ich erschüttert über das Attentat, unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der Opfer.«
»Was hat Sascha V. nun zu erwarten?«
»Das, was jeden Straftäter erwartet: Er wird ein ordentliches Strafverfahren erhalten und vor Gericht gestellt werden.«
»Haben Sie Beweise, dass Sie den Richtigen gefasst haben, oder gibt es daran noch Zweifel?« Milla schaut Sandro neugierig an und hofft auf eine ehrliche Antwort.
»Die Tatwaffe konnte noch nicht sichergestellt werden, auch Laborauswertungen stehen noch aus, aber es gibt schon jetzt zahlreiche Indizien, die darauf hinweisen, dass Sascha V. der Täter sein könnte.«
»Können Sie etwas über die Hintergründe von Sascha V. sagen? Hat er allein gehandelt? Hatte der Anschlag einen terroristischen Hintergrund?«
»Das ist Gegenstand der laufenden Ermittlungen.«
Milla sieht und hört Sandro an, dass er das Gefühl hat, sie habe genug Fragen gestellt. Doch eine hat sie noch.
»Ist es richtig, dass Sascha V. Mitglied einer frauenfeindlichen Gruppierung war und Misogynie, also der Hass auf Frauen, sein Motiv gewesen sein könnte?«
»Auch das, Frau Nova, ist Gegenstand der laufenden Ermittlungen.« Sandro sagt es mit einem freundlichen Lächeln, das er augenblicklich ausknipst, sobald Ivan die Kamera ausgeschaltet hat.
»Vielen Dank, Herr Bandini«, sagt Milla, als sie das Mikrofon wegsteckt. Sie ist nicht wirklich zufrieden mit seinen Antworten, aber mehr war als offizielles Statement wohl nicht zu erwarten.
»Du bist aber hartnäckig«, reklamiert Sandro.
»Darum bin ich so erfolgreich in meinem Job«, gibt Milla kess zurück. »Gehen wir essen, wenn du hier fertig bist? Und anstoßen?«
»Du bist eingeladen.«
Zwei Stunden später sitzen Sandro und Milla im Ringgenbergpark unter den Bäumen. Er mit einem extrascharfen Rindstartar vor sich auf dem Teller, sie mit einem gratinierten Ziegenkäse mit Thymianhonig auf warmem Linsensalat. Sie heben beide ihr Glas.
»Auf dich«, sagt Milla.
»Auf mein Team«, meint Sandro.
»Und auf uns.«
»Ja, auch auf uns.«
Als Milla den Rotwein auf der Zunge kostet, die Stimmen der Menschen vom gegenüberliegenden Kornhausplatz zu ihr herüberdringen, der Wind in den Blättern flüstert und sich die Spatzen in den Bäumen ein Wettzwitschern liefern, stellt sie sich vor, dass heute nicht heute, sondern gestern ist, als sie genau hier mit Sandro auf seinen Geburtstag angestoßen hat. Sie stellt sich vor, dass es den Anruf von Wolfgang – »Ein Amoklauf!« – nie gegeben hat, dass kein Funkspruch gefolgt ist, dass sie und Sandro nicht alles stehen gelassen haben und nicht losgerannt sind. Sie stellt sich vor, dass es die vierundzwanzig Stunden, die zwischen ihren zwei Besuchen im Restaurant Ringgenberg liegen, nicht gegeben hat und dass das alles nie geschehen ist. Kein Attentat. Keine Verletzten. Keine Toten.
Aber es ist passiert. Vierzehn Menschen sind gestorben. Bern hat durch den Anschlag seine Unschuld verloren. Die Stadt ist verwundet. Und Carole ist tot. Es wird Zeit brauchen, bis der Schmerz kleiner wird.
Obwohl Milla Fragen über Fragen an Sandro hat, obwohl er viel erzählen möchte, was er ihr nicht sagen kann, obwohl sie beide den Kopf voll haben mit den Erlebnissen der letzten Stunden und mit den Bildern, die sie nie vergessen werden, gelingt es ihnen, über anderes zu reden, sie können sogar einmal lachen, und Milla ist froh darüber. Sie nimmt es als Beweis, dass das Leben weitergeht und die Normalität zurückkehren wird.
Doch auf dem Nachhauseweg zu Sandros Altstadtwohnung, als Milla und Sandro Hand in Hand durch Berns Lauben gehen, hält er auf einmal inne.
»Weißt du, was das Schlimmste war?«
Milla dreht sich zu Sandro, sieht ihm in die Augen. »Nein.«
»Die Handys. Als ich im Dachstock war, dort, wo all die Leichen lagen, läuteten ihre Mobiltelefone, es war ein Klingelkonzert – weil ihre Nächsten versucht haben, sie zu erreichen, weil sie hören wollten, dass sie in Sicherheit sind. Doch sie konnten nicht mehr rangehen, und all die Telefone klingelten ins Leere.«
Milla umarmt Sandro. Sie weiß nicht, wie lange sie da stehen, eng umschlungen verlieren sie das Gefühl für die Zeit, sie hält Sandro, so fest sie kann. Da küsst er sie auf den Nacken, nur der Hauch eines Kusses, dann auf den Mund, tief und lange. Sie lösen sich voneinander und gehen los, weil sie auf einmal nicht schnell genug nach Hause kommen können. Weil sie sich brauchen jetzt, um all das andere hinter sich zu lassen. Sie müssen sich spüren, sich und das Leben, wie um sich zu beweisen, dass sie noch da sind. Lebendig sind. Dass sie sich nicht verloren haben.