22.

Malou träumt von Koffern mit Beinen. Die Koffer rennen und eilen und stürzen, sie befindet sich an einem Flughafen, alles ist hektisch und chaotisch, und auch sie rennt und wundert sich, woher all die trabenden Koffer kommen. Weit entfernt hört sie einen Alarm, doch sie beachtet ihn nicht, sie hetzt weiter, Haken schlagend, um nicht über die Koffer zu stolpern. Der Alarm klingt wie ihr Handy.

Malou schlägt die Augen auf, dreht den Kopf zum Nachttisch, ihr Handy läutet und leuchtet. Die roten Ziffern ihres digitalen Weckers zeigen zwanzig vor sechs an.

»Scheiße.«

Malou schüttelt den Kopf und stößt ein Schnauben aus, das an ein Pferd erinnert, damit sie ihr Hirn wachkriegt, für das, was jetzt gleich folgen wird, sie weiß, es ist nichts Gutes.

»Löwenberg.«

»Frau Löwenberg, entschuldigen Sie die Störung, aber ich – er hat mir Ihre Visitenkarte gegeben, ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden kann.«

Eine Frauenstimme.

»Wer spricht da bitte?«

»Ach ja, Entschuldigung, hier ist Anne Tobler.«

Tobler, da klingelt etwas, doch Malou hat noch immer keine Ahnung, mit wem sie gerade redet.

»Ich bin die Freundin von Bendicht Kerner.«

Auf einen Schlag ist Malou hellwach. »Ist etwas passiert?«

»Beni ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen.«

Verdammt. Malou schluckt den Fluch, lässt sich nichts anmerken. Sie stellt das Handy auf Lautsprecher, steht auf und schlüpft in eine Jeans, während sie spricht.

»Das ist beunruhigend, trotzdem muss es noch nicht heißen, dass etwas passiert ist. Wann haben Sie Ihren Freund das letzte Mal gesehen?«

Sie schließt den BH und zieht ein Shirt über.

»Gestern Nachmittag um fünf.«

»Wissen Sie, wo er den Abend verbracht hat?«

Socken an, Schuhe an, Schnürsenkel binden.

»Im Salon.«

»In der Pinball-Halle?«

»Ja, wie jeden Abend.«

Malou zieht die Jacke an, wo sind die verfluchten Autoschlüssel?

»Wann kommt er normalerweise nach Hause?«

»Die Halle schließt freitags um zwei Uhr früh. Dann macht er noch die Abrechnung. Aber später als vier Uhr wird es nie, meistens ist er kurz nach drei zurück.«

Bevor Malou die Wohnung verlässt, wirft sie noch einmal einen Blick auf den Wecker. Viertel vor sechs.

»Ich fahre sofort hin. Haben Sie einen Schlüssel für das Gebäude?«

»Nein. Aber es gibt einen versteckten Reserveschlüssel, er hängt im Gartenschuppen, wenn man reinkommt rechts oben am inneren Türrahmen. Beni hat seinen Schlüssel immer mal wieder zu Hause vergessen, darum hat er dort einen deponiert.«

»Sie bleiben zu Hause. Rufen Sie mich sofort an, falls Bendicht heimkommt. Ich fahre zur Pinball-Halle.«

»Ich bin nicht zu Hause. Wir sind vorübergehend in ein Airbnb gezogen. Zur Sicherheit. Er hat mir vom Mord erzählt. Und von den Schuhen. Bitte sagen Sie mir, dass er nicht getötet worden ist, bitte!«

Malou schließt die Augen. »Ich hoffe es nicht. Ich melde mich.« Sie klickt den Anruf weg.

Es ist eine Minute nach sechs, als Malou ihren alten Peugeot 106 vor dem alten Backsteinbau abstellt. Sie steigt aus, geht auf den Eingang zu, hält inne. Es ist so still. Kein Luftzug ist zu spüren. Hinter sich hört sie das Rauschen der Aare, weit weg eine einsame Amsel in einer Baumkrone. Die Liegenschaft liegt ruhig und verlassen vor ihr, als hätte sie seit zehn Jahren kein Mensch mehr betreten.

Malou denkt an Sandros Worte während der letzten Sitzung: Allerdings hättest du nicht allein dorthin fahren dürfen, darüber reden wir noch, hat er zu Bettina gesagt. Es war eine krasse Verletzung der Vorschriften, dass Bettina das Bauernhaus allein betreten hatte. Müsste sie jetzt auch Verstärkung anfordern und warten, bis die Kollegen hier sind?, fragt sich Malou. Sie befindet sich in einer anderen Ausgangslage: Sie vermutet hier drin keinen bewaffneten Terroristen, sondern höchstens eine Leiche.

Was aber, wenn der Mörder noch da ist?

Malou richten sich bei dem Gedanken die Nackenhaare auf. Instinktiv greift sie zu ihrer Waffe im Halfter.

Spinn jetzt hier nicht rum, rügt sie sich selbst. Sie will nur rasch nachschauen, ob Bendicht Kerner da ist. Wahrscheinlich hat er sich nach der Arbeit ein paar Drinks genehmigt und ist in einer Bar betrunken hängen geblieben. Sie wird nichts als eine menschenleere Halle voller ausgeschalteter Flipper-Automaten vorfinden.

Malou blickt sich nach dem Schuppen um, er wird wohl auf der anderen Seite des Gebäudes stehen. Als sie am Haupteingang vorbeigeht, hält sie mitten im Schritt inne. Sie muss den Schlüssel nicht holen gehen. Die Tür steht einen Spaltbreit offen.

Jetzt greift Malou doch zu ihrem Funkgerät und meldet sich bei der Einsatzzentrale.

»Könnt ihr mir mal eine Streife vorbeischicken?« Sie nennt dem Kollegen am anderen Ende die Adresse.

»Moment.«

Malou wartet.

»Es ist gerade niemand in unmittelbarer Nähe, aber in zehn bis fünfzehn Minuten wird jemand da sein.«

»Danke.«

Malou steht mit dem Rücken gegen die Hauswand gelehnt und wartet. Und denkt. Gäbe es keinen toten Jürgen Bräutigam und keine roten Stöckelschuhe, gäbe es keinen Grund zur Annahme, dass Kerner tot da oben in seinem Spielsalon liegt. Aber es gibt den toten Bräutigam und die roten Schuhe – darum ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kerner ebenfalls ermordet wurde, um ein Vielfaches größer, als dass er besoffen unter einer Bartheke liegt. Wenn er tatsächlich getötet wurde, besteht die Gefahr, dass der Täter noch im Haus ist. Doch es ist schon nach sechs Uhr früh, bald werden die ersten Leute hier auftauchen, und selbst der dümmste Mörder weiß, dass er dann weg sein muss.

Und was, wenn das Opfer noch lebt?

Bräutigam wurde mit Morphin umgebracht. Je nach Dosierung tritt die tödliche Wirkung rascher oder langsamer ein. Womöglich stirbt Kerner, während sie auf die Streife wartet, die einfach nicht kommen will.

Malou blickt auf die Uhr. Fünf Minuten sind seit dem Funkspruch vergangen. Fünf Minuten, die entscheidend sein können, wenn es um Leben oder Tod geht. Ihr Kopf sagt ihr, dass sie nicht allein da reindarf. Ihr Bauchgefühl hingegen meint, sie dürfe nicht weitere fünf bis zehn Minuten abwarten, weil es sonst zu spät sein könnte. Sie war schon immer eher ein Bauch- als ein Kopfmensch.

Malou zieht die Waffe, entsichert sie und stößt die Tür auf.

Drei Stufen, der lange Flur liegt still vor ihr. Die Türen links und rechts sind geschlossen. Malou begibt sich zur Treppe und horcht in die oberen Stockwerke hinauf. Plötzlich erklingt ein Dröhnen. Sie zuckt zusammen, realisiert aber in der gleichen Sekunde, dass es nur ein Zug ist, der hoch über ihr über die Brücke braust. Fünf Sekunden, dann herrscht wieder Stille. Malou steigt in den ersten Stock hoch, so leise, dass ihre Schritte nicht zu hören sind. Als sie auf dem Treppenabsatz ankommt, nimmt sie rechts von sich eine schnelle Bewegung wahr. Etwas stürzt auf sie zu. Malou schnellt herum, zielt auf den schwarzen Schatten und lässt die Waffe sogleich wieder sinken. Erschrocken blickt sie der Katze nach, die die Treppe hinabrennt. Malous Herz rast. Sie wartet einen Moment, um ihren Puls runterzubringen.

Erst, als sie wieder ruhig atmet, steigt sie die letzten Stufen in den zweiten Stock hoch. Sie stoppt erneut, um zu horchen. Stille. Schon von Weitem erkennt sie, dass die Tür zum Clublokal geschlossen ist. Sie schimpft sich eine Idiotin; sie hätte den Schlüssel doch aus dem Schuppen holen sollen. Statt umzukehren, begibt sie sich zur Tür und drückt vorsichtig auf die Klinke.

Es ist nicht abgeschlossen.

Malou schiebt die Tür langsam auf, die Waffe im Anschlag, darauf gefasst, dass gleich geschossen wird oder dass jemand sie angreifen könnte. Doch das geschieht nicht. Der Empfangstisch steht aufgeräumt vor ihr, dahinter der leere Stuhl. Anders als bei ihrem ersten Besuch empfängt sie in der Spielhalle kein Klangkonzert aus Piepsen und Musik und elektronischen Stimmen; die Flipperautomaten liegen tot und dunkel da. Alle bis auf einen. Im Nebensaal hört Malou den Sound einer Maschine. »Hey, move your car!«, krächzt eine automatische Stimme. »Hey, move your car!«

»Hallo?«, ruft Malou in die Halle hinein.

Keine Antwort.

Langsam geht Malou auf den Eingang des Nebenraums zu, aus dem sie die Geräusche vernimmt. Es gibt keine Tür, nur eine große Maueröffnung. Sie lehnt sich an die Wand, macht einen Schritt vorwärts, zielt nach rechts, nach links, dann geradeaus in den Raum. Alles ist dunkel. Nur ein Flipperkasten blinkt. Darauf liegt bäuchlings ein nackter, toter Mann. Er trägt rote Stöckelschuhe an den Füßen und am Hinterkopf die schwarze Schnabelmaske.

»Move your car!«, plärrt der Automat.