26.

Als Malou das Gespräch mit Irena beendet hat, ruft sie Sandro an. Sie hat es so lange wie möglich hinausgezögert, weil sie ihn nicht wecken wollte. Er hat seit dem Attentat fast pausenlos durchgearbeitet. Jetzt aber kann sie nicht mehr länger warten.

»Ist es dringend?« Sandro klingt grantig, als er rangeht.

Sie hat erwartet, dass er verschlafen klingen würde, aber sie hat nicht damit gerechnet, dass er übellaunig ist. Auch dir ein schönes Wochenende, denkt Malou. »Ich fürchte ja, es tut mir leid, dass ich dich stören muss.«

»Okay, schieß los.«

»Bendicht Kerner ist tot.«

Stille.

»Der Mann, der wie Jürgen Bräutigam einen Schuh in seinem Paketfach fand«, schiebt Malou nach. »Den ich gestern noch gewarnt habe.«

»Das darf nicht wahr sein! Verfluchter Mist! Der gleiche Täter?« Endlich scheint Sandro ganz bei der Sache zu sein.

»Ich gehe davon aus. Nackte Leiche, Schnabelmaske, Socke über dem Penis, übrigens die gleiche wie bei Bräutigam, sowie rote Stöckelschuhe an den Füßen.«

»Warum hat er nicht auf dich gehört? Du hast ihm doch gesagt, was passiert ist?«

»Habe ich. Er hat auch reagiert: Er hat seine Wohnung verlassen und ist mit seiner Freundin vorübergehend in ein Airbnb gezogen. Leider hat er sich aber nicht von seinem Arbeitsplatz ferngehalten; eine Spielhalle mit Flipperautomaten.«

»Kannst du mir die Adresse durchgeben?«

Malou nennt Sandro die Adresse und ist erleichtert, dass sie endlich Unterstützung erhält. Das hier ist eine große Sache, und sie fürchtet, dass es noch schlimmer werden wird. Doch erst mal braucht Malou frische Luft. Während die Kollegen der Spurensicherung drinnen ihre Arbeit tun, hat sie sich nach draußen auf die Straße begeben, um mit Sandro und Irena zu telefonieren – drinnen im Haus ist der Handy-Empfang zu schlecht. Bevor sie wieder hochgeht, lehnt sie sich neben dem Hauseingang an die Mauer, legt den Kopf in den Nacken und spürt die Sonne auf dem Gesicht. Da hört sie Stimmen. Sie wundert sich, woher sie stammen, und blickt Richtung Fluss. Auf einmal sieht sie zwei Schwimmer in der Aare vorbeiziehen, zufrieden und ruhig lassen sie sich von der Strömung treiben. Malou wünscht sich plötzlich, sie wäre einer dieser Schwimmer und nicht die Polizistin, die gerade eine Leiche auf einem Flipperautomaten gefunden hat. Manchmal fragt sie sich, warum sie einen Beruf gewählt hat, der sie immer wieder mit dem Schlechten konfrontiert, statt mit dem Schönen im Leben. Du kennst die Antwort, sagt sie in Gedanken zu sich selbst.

In dem Moment fahren Irena und Sandro exakt gleichzeitig auf den Vorplatz – Irena mit ihrem Dienstwagen, Sandro mit dem Fahrrad. Er kettet es an den nächstgelegenen Zaun, während Irena sich umkleidet und sich für die äußere Leichenschau vorbereitet. Malou hält auch Sandro einen Schutzanzug hin.

»Warum bist du überhaupt hierhergekommen?«

Sandro schlüpft in den Anzug und schließt den Reißverschluss.

»Seine Freundin hat mich angerufen, weil er letzte Nacht nicht von der Arbeit zurückgekehrt ist.«

Malou reicht ihm Handschuhe und Füßlinge.

»Bist du …«, Sandro blickt sich um, »bist du etwa allein hier reingegangen?« Er zieht die Handschuhe an und streift die Füßlinge über.

»Ich habe eine Streife gerufen«, sagt Malou schnell. Das ist nicht mal gelogen, denkt sie.

»Gut. Gut gemacht.«

In dem Moment klingelt Sandros Telefon. Er blickt auf das Display und nimmt den Anruf entgegen. »Bettina, gut, dass du dich meldest. Wir brauchen dich hier.« Bevor sie etwas erwidern kann, nennt er ihr die Adresse. »Es gibt einen weiteren Toten in Stöckelschuhen«, fügt Sandro an und klickt das Gespräch weg.

Als auch Irena so weit ist, steigen die drei gemeinsam hoch in den zweiten Stock.

»Wow!«, entfährt es Sandro, als er die große Halle mit den Flipperautomaten betritt. Irena schnalzt beeindruckt mit der Zunge.

»Kerner liegt im Nebenraum.« Malou führt die beiden zum Durchgang in den zweiten Spielsaal, hin zum einzigen Flipperkasten, der vor sich hin surrt und plingt und eine immer wiederkehrende Melodie spielt, während alle anderen ausgeschaltet schweigen.

»The Creature of the Black Lagoon«, stellt Sandro fest.

Auf der Spielfläche liegt eine ganz andere Kreatur: Kerners nackter Körper wirkt bizarr verdreht. Sandro realisiert erst im zweiten Moment, warum der Anblick so irritierend ist: Die Leiche liegt vornübergekippt auf dem Bauch, der breite Hintern ragt weiß in die Höhe, und der Kopf sieht aus, als wäre er um hundertachtzig Grad gedreht – weil die Schnabelmaske über seinen Hinterkopf gezogen ist.

»Seid ihr fertig?«, fragt Irena die Kollegen der Spurensicherung.

»Ja, du kannst ran.«

Irena begibt sich zu dem Toten, mustert ihn zunächst von hinten, durchtrennt dann mit dem Skalpell vorsichtig einen Kabelbinder an seinem Handgelenk, tütet ihn ein und reicht das Säckchen weiter. Sie fasst Kerner am Arm, um die Beweglichkeit zu prüfen.

»Die Totenstarre hat noch nicht eingesetzt.«

Als sie sich gegen den Kasten lehnt, spickt plötzlich eine Kugel los, die noch im Plunger gelegen haben muss. Irena schreckt auf. Die Kugel trifft eine Zielscheibe, die sofort hinunterklappt, gleichzeitig erklingt ein schriller Sound, und eine Stimme sagt: »Slide over, baby.«

Irena dreht sich zu Malou und Sandro um. Obwohl ihnen überhaupt nicht nach Lachen zumute ist, müssen sie alle drei grinsen, so makaber ist das Ganze.

Irena wird als Erste wieder ernst.

»Wo waren wir?«, fragt sie. Die Tage setzen auch ihr langsam zu.

»Totenstarre«, antwortet Malou.

»Noch nicht eingesetzt«, ergänzt Sandro.

»Genau, das bedeutet, er ist wohl noch keine zwei Stunden tot. Wann hast du ihn gefunden, Malou?«

Malou blickt auf die Uhr. »Vor etwa einer Stunde.«

»Dann musst du dem Täter fast noch über den Weg gelaufen sein.«

»Oder der Täterin«, sagt Sandro.

»Falls auch hier wieder Morphin als Mordmittel eingesetzt worden ist, trat der Tod je nach Dosierung allerdings womöglich nicht sofort ein, vielleicht war der Täter schon weg, während Kerner hier einen einsamen Tod starb. Ich mache mich mal an die Legalinspektion.«

Malou und Sandro verstehen den Wink; Irena möchte bei der äußeren Leichenschau ungestört sein.

»Wir sehen uns mal um«, meint Sandro. »Einbruchspuren?«, fragt er Florian von der Spurensicherung.

»Negativ. Die Fenster kann man nur kippen, alle sind intakt, die Tür wurde nicht aufgebrochen.«

»Es gibt einen Ersatzschlüssel im Schuppen«, fällt Malou ein. »Ich schau nach, ob er noch dort hängt.«

»Lass nur, ich erledige das.« Florian nickt Malou zu, sie erklärt ihm, wo er den Schlüssel finden sollte, dann verschwindet er zur Tür hinaus.

Währenddessen setzt sich Sandro an den Schreibtisch beim Eingang, der so etwas wie den Empfang in die Halle darstellt und gleichzeitig Kerners Arbeitsplatz gewesen zu sein scheint. Auf der Tischplatte liegen Geldnoten. Sandro zählt sie. Sechshundertfünfzig Franken. Er zieht die Schreibtischschublade heraus, darin sind Münzen aufgereiht, der Größe nach sortiert. Grob geschätzt befinden sich darin weitere fünf bis sechshundert Franken.

»Er hat nicht einmal das Geld mitgenommen.«

»Oder sie«, kommentiert Malou.

»Also ging es der Täterschaft einzig um Kerners Tod. Warum?«

»Rache?«

»Auf jeden Fall muss es etwas Persönliches sein.«

»Warum die Stöckelschuhe? Warum die Maske? Warum sind die Leichen nackt? Und warum diese lächerliche Kindersocke?«

»Er oder sie will uns damit etwas sagen, nur sprechen wir leider nicht seine Sprache. Wir werden den forensischen psychiatrischen Dienst miteinbeziehen. Du sagst, Kerner hatte eine Freundin?«

»Ja, sie wohnten zusammen«, bestätigt Malou. »Sie hat mich heut früh angerufen.«

»Bräutigam aber lebte allein?«

»Ja.«

»Hetero- oder homosexuell?«, fragt Sandro.

»Hetero, sagt zumindest seine Schwester.«

»Irgendwelche Verbindungen zur Trans-Szene?«

»Nein, sieht nicht so aus.«

»Ich vermute, wir haben es mit einer Täterin zu tun.«

»Ich auch. Florian hat bei Bräutigam in der Wohnung Spuren von Frauenschuhen gefunden, Größe …«

»… 39«, sagt Florian, der in dem Moment zurück ist. »Der Schlüssel hängt noch da. Staub und Spinnweben zeigen, dass er schon lange nicht mehr vom Nagel im Schuppen entfernt worden ist.«

»Danke.«

Sandro beugt sich auf dem Stuhl nach vorn, stützt die Ellenbogen auf den Tisch und verschränkt die Hände.

»Versuchen wir das mal zu rekonstruieren. Ich bin Kerner. Es ist zwei Uhr früh. Ich sitze hier, zähle die Einnahmen, alle Kunden sind schon weg. Fast schon Feierabend.«

»Dann klopft es«, sagt Malou.

»Ich bin gewarnt. Tags zuvor war eine Polizistin hier, die mir erzählt hat, dass ein anderer, in dessen Paketfach ebenfalls Stöckelschuhe lagen, tot aufgefunden worden ist. Ich weiß also, ich muss auf der Hut sein.«

»Aber es war ein toller Abend, volles Haus, du hast ein Supergeschäft gemacht und hattest erst noch Spaß dabei. Vielleicht hast du die Warnung längst vergessen.«

»Nein, denn ich weiß, dass ich nicht wie üblich nach Hause fahre, sondern dass meine Freundin in einem Airbnb auf mich wartet.«

»Das würde dir vielleicht später wieder einfallen, sobald du dich auf den Heimweg machen willst, aber im Moment hast du alles andere im Kopf, das nachhallt, du denkst nicht an die Warnung.«

»Also gut. Doch dass es um die späte Zeit an der Tür klopft, ist außergewöhnlich, ich muss misstrauisch sein.«

»Ein später Kunde, der meint, der Salon sei noch offen? Er will den Abend mit einem Spiel ausklingen lassen.«

»Ich stehe auf und begebe mich zur Tür, um nachzusehen, wer es ist.«

»Vielleicht hast du die Tür noch gar nicht abgeschlossen, und die Täterschaft tritt einfach ein.«

»Möglich. Ich lasse die Person herein, weil ich sie kenne?«

»Auf jeden Fall hast du keine Angst vor ihr. Wenn es jemand ist, den du kennst, vielleicht jemand, den du mal gekränkt oder verletzt hast – dann solltest du spätestens beim Anblick der Person realisieren, dass sie dir die Drohung geschickt haben könnte. Dann würdest du bestimmt erkennen, dass sie die Absenderin des Stöckelschuhs sein muss und dass du in Gefahr bist.«

»Aber vielleicht habe ich damals gar nicht gemerkt, dass ich jemanden gekränkt habe. Vielleicht bin ich ein narzisstischer Macho und kriege nicht mit, wenn ich Herzen breche.«

»Vielleicht.« Malou blickt Sandro zweifelnd an.

»Angenommen, es ist eine fremde Frau. Ich bin Kerner, ich bin ein Brocken von einem Mann. Vor einer Frau fürchte ich mich per se nicht.«

»Selbst wenn du keine Angst hast, reagierst du, wenn sie dich angreift. Was machst du? Der Fluchtweg ist versperrt.«

»Was, wenn sie mich gar nicht angreift – sondern mich verführt? Bräutigam lag nackt im Bett – vielleicht meinte er, ihm stehe eine heiße Nacht bevor, stattdessen endete sie mit einer Spritze Morphin in seinem Hals. Und Kerner könnte es gleich ergangen sein.«

»Du meinst, er wollte mal rasch auf dem Creature of the Black Lagoon eine Nummer schieben?«, fragt Malou.

Sandro zuckt mit den Schultern, und sie sieht ihm an, dass er die Vorstellung nicht abwegig findet.

»Ich bin Kerner, ich würde nicht Nein sagen. Als es zur Sache geht – zack – sticht sie zu.«

Malou ist nicht überzeugt.

»Hast du schon mal jemandem eine Spritze gesetzt? Würde ich einen Kerl auf diese Weise töten, würde ich ihn zuerst mit einem gezielten Schlag außer Gefecht setzen.«

»Da musst du aber gut sein. Und schnell. Falls du mich angreifst, wehre ich mich natürlich.«

»Kerner hat sich nicht gewehrt«, sagt Irena hinter ihnen.

Zeitgleich, wie zwei Synchronschwimmerinnen, drehen Sandro und Malou den Kopf.

»Keine Abwehrverletzungen?«, fragt Sandro.

»Negativ.«

»Das spricht für meine Verführungstheorie.«

»Wie kann es sein, dass er sich nicht gewehrt hat?«, will Malou wissen.

»Ich fürchte, er hatte keine Zeit dafür«, antwortet Irena.

»Wie meinst du das?«

»Kommt mit.«

Malou und Sandro folgen Irena in den Nebenraum. Kerner liegt nun nicht mehr auf dem Automaten, sondern auf dem Rücken auf der Bahre. Socke, Maske und Schuhe sind entfernt. Irena hat den Körper von außen genaustens begutachtet und jede Auffälligkeit in eine schematische Zeichnung übertragen.

»Hier.« Irena winkt Sandro und Malou noch etwas näher. »Seht ihr diese Punkte?«

Sie zeigt auf zwei kleine, rötliche Stellen, die etliche Zentimeter auseinanderliegen, die eine knapp neben der rechten Brustwarze, die andere etwas höher auf der anderen Seite des Brustkastens. Daneben sind einzelne winzige Einstichpunkte zu erkennen. Malou runzelt die Stirn. Für sie könnten das auch Mückenstiche sein, aufgekratzte Insektenstiche.

»Brandwunden. Ich habe bei Bräutigam eine ähnliche Verletzung gesehen, konnte sie aber aufgrund der bereits eingesetzten Fäulnis nicht klar deuten.«

»Das bedeutet?«, fragt Malou.

»Ihr kennt diese Wunde nicht, obwohl ihr die Waffe selbst einsetzt?«, fragt Irena überrascht zurück.

»Ein Taser«, sagt eine Stimme hinter ihnen.

»Exakt, hundert Punkte für Bettina, the brain .« Irena nickt ihrer Kollegin zu, auch Malou und Sandro begrüßen Bettina, die etwas außer Atem scheint.

»Kerner wurde mit einem Elektroschocker niedergestreckt, sodass er in einen Lähmungszustand geriet«, fährt Irena fort. »Dadurch war es auch nicht mehr so schwierig, ihm eine Spritze zu setzen. Die Einstichwunde ist winzig, wenn ich nicht gezielt danach gesucht hätte, hätte ich sie wohl übersehen.« Irena zeigt mit dem blauen Handschuhfinger auf eine Stelle an Kerners Hals. Zwischen zwei Falten verrät ein winziger Punkt den tödlichen Stich.

»Malou, wie lautet der Name des dritten Mannes?«, fragt Sandro.

»Thomas Sahli.«

»Ruf ihn an, wir werden ihn sofort unter Polizeischutz stellen. Er befindet sich in höchster Gefahr.«

»Ich muss draußen telefonieren, ich hab hier drin keinen Empfang.«

Als Malou unten auf der Straße steht, sucht sie in der Anrufliste ihres Handys nach Sahlis Nummer und wählt. Am anderen Ende klingelt es. Malou wartet und zählt bis fünfzehn. Noch immer hört sie einzig den unterbrochenen Summton. Sandro tritt neben sie, sie blickt ihn an.

»Thomas Sahli geht nicht ran.«