Es ist außergewöhnlich still im Gebäude der Kantonspolizei. Sandro steht am Fenster seines Büros, das er auch nach all den Jahren im Amt noch immer nicht gemütlich eingerichtet hat. Ein Schreibtisch, ein Besprechungstisch mit drei Stühlen, an beiden Wänden Regale, bis zum letzten Zentimeter mit Akten und Unterlagen vollgestopft. Neben sich auf dem Fenstersims die einzige Zimmerpflanze, die etwa vor zwei Jahren das Zeitliche gesegnet hat. Die Sonne steht tief und wirft dunkelorange Strahlen auf die Dächer der Stadt. Im Baum vor dem Fenster zanken sich Spatzen. Es ist Viertel vor acht, in einer halben Stunde hat Sandro zur Sitzung geladen.
Samstagabend kurz nach acht sollten wir keine Sitzungen abhalten müssen, denkt er müde. Vor allem nicht nach einer Woche wie dieser, in der sie gerade den ersten Terroranschlag in der Stadt zu bewältigen hatten. Ein Glück, dass sie den Attentäter so schnell gefasst haben – nicht auszudenken, wenn er immer noch auf freiem Fuß wäre.
Mittlerweile hat Irena alle Opfer des Attentats zur Beerdigung freigeben können. Der Einsatz der forensischen Ärzte des interkantonalen DVI -Teams hat sich bewährt. Alleine hätten sie diese Katastrophe nicht bewältigen können. Bis die Gesellschaft und insbesondere die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Bern das Attentat verarbeitet haben und sich wieder sicher fühlen werden, wird wohl etwas mehr Zeit vergehen. Am morgigen Sonntag ist ein Gedenkmarsch durch die Stadt geplant, an dem vor allem auch viele Frauen und LGBT -Personen erwartet werden, die ein Zeichen gegen Gewalt, Misogynie und Homophobie setzen wollen. Die Kollegen des Sicherheitsdienstes haben ein Dispositiv erstellt, es wird von einer erhöhten Gefahrenlage ausgegangen, aber das ist im Moment nicht mehr Sandros Angelegenheit. Auch die Drohung im Incel-Chat, die Milla ihm soeben geschickt hat, hat Sandro an die entsprechende Abteilung weitergeleitet. Er selbst hat jetzt ein anderes Problem zu lösen: Sein Team muss einen möglichen Serienmörder jagen. Oder eine Serienmörderin, korrigiert sich Sandro in Gedanken selbst. Zwei Morde machen zwar noch keine Serie, er hegt aber nicht den geringsten Zweifel daran, dass es zu weiteren Tötungsdelikten kommen wird, wenn sie den Fall nicht schnell genug aufklären. Es ist ein Wettrennen gegen die Zeit.
Sandro blickt auf die Uhr. Zehn Minuten noch bis zur Sitzung. Sein Telefon läutet. Nicht jetzt, denkt er. Doch der Blick auf das Display zeigt ihm, dass er rangehen muss: Es ist Staatsanwalt Langenberger. Sandro hat auch ihm eine Einladung zur Sitzung geschickt, obwohl er nicht damit gerechnet hat, dass er daran teilnehmen wird. Wahrscheinlich will sich der Staatsanwalt nur rasch dafür entschuldigen, nicht teilnehmen zu können.
»Bandini.«
»Guten Abend, Sandro, hier Kai. Danke für die Informationen zum erneuten Leichenfund. Tatsächlich bin ich gerade in den Bergen und werde daher nicht an der Sitzung teilnehmen können. Ich bin am Montag wieder da.«
»Kein Problem.« Sandro wünschte sich, er könnte auch mal sagen, er komme erst am Montag wieder, selbst wenn neue Leichen auftauchen.
»Aber ich habe einen Hinweis«, fügt Langenberger an.
»Einen Hinweis?«
»Ich habe das Gefühl, es könnte wichtig sein. Mir ist der Name von Anfang an bekannt vorgekommen, Jürgen Bräutigam, das hört man ja nicht alle Tage, aber ich konnte ihn nicht zuordnen. Darum bin ich meine Agenda-Einträge durchgegangen – zum Glück hat jemand die elektronischen Agenden erfunden! Ich musste nur das Suchwort Bräutigam eingeben.«
Sandro blickt auf die Uhr: noch vier Minuten bis zur Sitzung. Er klopft nervös mit dem Fingerknöchel auf den Tisch.
»Und tatsächlich: Ich habe mal in einem Fall Bräutigam die Anklage vertreten.«
»Bräutigam stand mal vor Gericht?«, fragt Sandro überrascht.
»In der Tat. Leider muss ich sagen, dass ich nicht reüssiert habe. Ich habe den Fall verloren.«
Sandro muss Malou fragen, ob sie das Vorstrafenregister Bräutigams überprüft hat. Allerdings wird sie keinen offiziellen Eintrag gefunden haben, wenn er freigesprochen worden ist.
»Weshalb war Bräutigam denn angeklagt?«, will Sandro wissen.
»Er wurde eines Sexualdeliktes beschuldigt. Vergewaltigung.«
»Und, hat er es getan?«
»Ich war mir sicher, dass er’s getan hat. Aber was willst du machen? Im Zweifel für den Angeklagten. Wir hatten keine Beweise, dann hat man es schwer bei einem klassischen Vieraugendelikt. Das Gericht hat sich für einen Freispruch entschieden.«
»Das ist allerdings interessant. Hast du die Akten vor dir? Kannst du mir sagen, wer die Frau war, die ihn beschuldigt hat?«
»Sie heißt Annette Stern, geboren 1985, wohnhaft in der Sulgeneckstrasse 77 in Bern.«
Sandro schreibt sich alles auf.
»Kai, du bist super. Vielen Dank. Damit haben wir was! Ich trage das gleich in die Sitzung.«
Sandro verabschiedet sich von Kai Langenberger und nimmt auf dem Weg hinunter ins Sitzungszimmer zwei Stufen auf einmal. Als er durch die Tür tritt, sitzen Bettina, Malou und Florence bereits auf ihren Stühlen, Bernard Blanc hat es nicht rechtzeitig geschafft, er wird später zur neuen Sonderkommission stoßen. Sandro hat für sie rasch einen passenden Namen gefunden: Soko High Heels.
Malou weiß selbst am besten Bescheid, auch Bettina war am Tatort, trotzdem rekapituliert Sandro noch einmal die wichtigsten Fakten zum Fall, respektive zu den zwei Fällen, um auch Florence auf den neuesten Stand zu bringen. Er sieht den drei Frauen an, dass die Ereignisse der letzten Woche an ihnen gezehrt haben; sie sehen übermüdet und überarbeitet aus.
»Malou konnte den dritten Betroffenen, der sich wegen eines Stöckelschuhs in seinem Briefkasten bei uns gemeldet hat, heute Mittag doch noch erreichen, wir haben ihn unter Polizeischutz gestellt«, teilt Sandro mit. »Er hat eine temporäre Unterkunft bezogen, eine Streife steht vor seiner Tür.«
Erst als Sandro seine Zusammenfassung beendet hat, rückt er mit der wichtigsten Neuigkeit heraus. »Jürgen Bräutigam stand vor ein paar Jahren vor Gericht. Er wurde der Vergewaltigung beschuldigt.«
»Was?«, ruft Malou laut aus. »Ich habe sein Vorstrafenregister gecheckt, habe aber nichts gefunden.«
»Weil nichts drinstand. Kai Langenberger hat sich an den Namen erinnert; er hat damals die Anklage vertreten. Bräutigam wurde in allen Punkten freigesprochen. Im Zweifel für den Angeklagten.«
»Wow. Das ist …«
»… ein Motiv!« Bettina beendet Malous angefangenen Satz. »Wie hieß das angebliche Opfer?«
»Annette Stern, geboren 1985, wohnhaft in der Sulgeneckstrasse 77 in Bern«, wiederholt Sandro Kai Langenbergers Worte.
»Dann sollten wir ihr wohl mal einen Besuch abstatten.«
»Und was ist mit Kerner? Und mit Thomas Sahli? Sie werden wohl kaum zufällig die gleiche Frau vergewaltigt haben«, wirft Malou ein.
»Vielleicht kennen sie sich eben doch. Womöglich waren die anderen beiden dabei, oder sie waren Mitwisser. Wenn es eine Verbindung zwischen ihnen gibt, werden wir es herausfinden«, sagt Sandro. »Florence, hast du den Computer und das Handy von Bräutigam schon auswerten können?«
»Nein, tut mir leid. Ich habe mich intensiv mit Sascha Vogts Daten beschäftigt. Er verkehrte im Internet in Incel-Kreisen, und es ist grässlich, was er dort alles gepostet hat. Ich bin in seinem Laptop überdies auf eine Erklärung gestoßen, er nennt es Manifest; es ist nichts anderes als ein weinerliches, narzisstisches Schreiben, in dem er allen anderen die Schuld für seine Probleme zuschiebt. Es trieft vor Frauenhass und Selbstmitleid. Wir können nur hoffen, dass das nicht die Runde macht.«
Sandro denkt an Milla und ihre Recherchen und schließt sich im Stillen Florences Hoffnung an.
»Könntest du die Arbeit zum Fall Vogt an die IT -Forensik delegieren und dich der Daten von Bräutigam und Kerner annehmen? Wir müssen die Verbindung finden. Ich bin sicher, wenn wir die mal haben, stoßen wir auf die Spur, die zur Täterschaft führt.«
»Klar, mach ich. Ich nehme an, es eilt sehr?«
»Ja, tut mir leid, das Wochenende müssen wir leider streichen. Bettina, ich möchte, dass du die Fallleitung übernimmst.«
»Aber Malou …«
»Aber ich …«
Bettina und Malou reden gleichzeitig los. Beide sind davon ausgegangen, dass Malou die Fallleitung innehat.
»Es tut mir leid, Malou, das ist eine große Kiste, Bettina hat mehr Erfahrung, du bist noch nicht lange genug dabei. Aber du wirst mit Bettina zusammenarbeiten.«
Sandro ist anzuhören, dass er sich nicht auf Diskussionen einlassen will. Er hätte Bettina bereits in der Tatnacht auf den Fall ansetzen wollen, nur hat er sie nicht erreichen können. Der Blick, den sich Malou und Bettina zuwerfen, entgeht ihm nicht. Doch er zweifelt nicht an seiner Entscheidung. In Fällen wie diesen müssen persönliche Gefühle hintangestellt werden.
»Ich denke, als Erstes steht eine Unterhaltung mit Frau Stern an, könnt Ihr das morgen erledigen?«
Malou und Bettina nicken gleichzeitig.
»Ich werde mich mit Emilio Livingstone in Verbindung setzen. Ich will, dass er einen Aufruf über die verschiedenen Medienkanäle verbreiten lässt: Wer hat in den letzten sechs Monaten einen roten Stöckelschuh im Paketfach seines Briefkastens gefunden? Betroffene sollen sich bei uns melden.«
»Du denkst, es gab noch weitere Drohungen?«, fragt Bettina.
»Ich bin mir sogar ziemlich sicher. Denn nicht jeder, der einen Schuh und ein kaputtes Foto von sich erhält, rennt gleich zur Polizei. Es läuft nicht nur ein Mörder oder eine Mörderin draußen herum – sondern auch mögliche künftige Opfer, die nichts von der Gefahr ahnen. Wir müssen sie warnen. Ihr wisst, was es zu tun gibt. Gönnt euch heute zumindest einen freien Abend und genügend Schlaf. Es ist wichtig, dass ihr erholt seid, wenn wir uns morgen an die Fersen des Täters heften.«
Sandro bleibt noch einen Moment im Sitzungszimmer zurück, als die anderen gegangen sind. Auf einen Schlag überfällt ihn die Müdigkeit. Am liebsten würde er den Kopf auf die Tischplatte legen und sofort einschlafen. Scheißjob, denkt er. Doch im gleichen Moment spürt er trotz der Anstrengung der letzten Tage ein Kribbeln im Bauch, in den Armen, im ganzen Körper. Es ist diese innere Aufregung, die ihn immer wieder antreibt und wegen der er seinen Job trotz allem liebt. Es ist der Jagdtrieb in ihm, der gerade neuen Schub gekriegt hat: Er will den Täter kriegen. Und zwar schnell. Er will besser sein als er.