Die Wohnung liegt in einem modernen Neubau nahe der Berner Altstadt und neben der Aare. Die perfekte Wohnlage, denkt Bettina mit leisem Neid, als sie an der Glasfassade hochblickt. Definitiv nicht ihre Preisklasse. Dafür reicht der Polizistenlohn nicht aus.
»Noble Adresse.« Malou findet das Klingelschild von Annette Stern, die hier allein zu wohnen scheint, und drückt einmal lange auf den Knopf.
Nichts rührt sich.
Bettina und Malou haben sich nicht angemeldet. Überraschungsbesuche bei Verdachtspersonen sind immer noch die effektivste Methode. Aber Annette Stern scheint nicht da zu sein. Bettina drückt die Klappe ihres Briefkastens auf. Eine dicke Zeitung liegt darin, Bettina fingert sie heraus; es ist die NZZ am Sonntag . Ansonsten ist der Briefkasten leer.
»Wollen wir später wiederkommen?«, fragt Malou.
Annette Stern nimmt den beiden Polizistinnen die Entscheidung ab: Sie kommt rasant um die Ecke geschritten, bestückt mit einer Regenbogenfahne und einem zusammengerollten Transparent. Bettina erkennt sie sofort, auch wenn sie in Wirklichkeit imposanter wirkt als auf den Fotografien, die sie von ihr gefunden hat. Annette Stern ist schlank, groß gewachsen, das mahagonifarbene Haar fällt ihr offen über die Schultern. Sie ist nicht schön im eigentlichen Sinne, hat aber einen kantigen Charakterkopf, der Bettina an eine Hollywood-Schauspielerin erinnert, deren Name ihr nicht einfällt.
»Frau Stern?«
»Ja, das bin ich. Guten Tag, kennen wir uns?« Sie schaut von Bettina zu Malou und wieder zurück. »Sind Sie von der Polizei?«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragt Malou überrascht. Sie ist stets darauf bedacht, dass man ihr die Polizistin nicht ansieht.
»Man sieht es Ihnen an«, antwortet Annette Stern. »Ich habe nichts Illegales gemacht, die Demonstration war bewilligt.«
»Wir sind nicht wegen der Demonstration hier.« Bettina zeigt Annette Stern ihren Dienstausweis. »Bettina Flückiger«, stellt sie sich vor. »Malou Löwenberg«, sagt sie mit einem Nicken in die Richtung ihrer Kollegin. »Können wir Sie kurz sprechen?«
»Worum geht es?«
»Können wir drinnen mit Ihnen sprechen?«
Erst jetzt wirkt Annette Stern verunsichert. »Ist jemand gestorben? Jemand aus meiner Familie?«
»Nein, es geht nicht um einen familiären Todesfall, ich wäre froh, wenn wir drinnen weiterreden könnten.«
»Bei mir ist es gerade nicht sehr ordentlich.«
»Wenn es Ihnen lieber ist, können wir uns auch auf dem Polizeipräsidium unterhalten.«
Der Satz verfehlt seine Wirkung nicht. Annette Stern verdreht die Augen, steckt den Schlüssel ins Schloss und führt die beiden Polizistinnen hinauf in ihre Penthouse-Wohnung.
Nicht sehr ordentlich war das krasseste Understatement, das sie in den letzten Jahren zu hören gekriegt hat, denkt Bettina, als sie durch die Tür tritt. Sterns Loft ist ordentlicher als ihre eigene Wohnung, nachdem sie sie drei Stunden lang aufgeräumt hat. Bettina fühlt sich, als würde sie eine Hochglanzfotografie einer Architekturzeitschrift betreten, die sich auf wundersame Weise in einen dreidimensionalen Raum verwandelt hat. Annette Stern begibt sich hastig zum Salontisch aus Glas, auf dem zwei Magazine liegen, und räumt sie in einen Design-Zeitungshalter. Sie wischt zwei, drei Mal mit der Hand über das Sofa, um den imaginären Staub wegzuwischen, dann bietet sie Malou und Bettina Wasser an. Beide lehnen dankend ab.
»Können wir uns an den Tisch setzen?«, fragt Bettina.
Annette Stern nickt und setzt sich auf einen der Eames-Stühle. Sie legt die ineinander verschlossenen Hände auf den Tisch, streckt die Finger, beugt sie wieder,streckt sie erneut. Ihr ist anzusehen, dass sie mit aller Kraft versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie unwohl sie sich fühlt. Große Hände, lange Finger, stellt Bettina fest. Überhaupt ist Annette Stern eine eindrucksvolle Frau, im Stehen hat sie sie um einen halben Kopf überragt, was Bettina selten passiert.
»Wir sind wegen Jürgen Bräutigam hier.«
Sofort passiert etwas mit Annette Stern. Ihr Körper zuckt, als hätte sie einen elektrischen Schlag erhalten. Dann versteift sie sich, drückt das Kreuz durch, als könnte sie sich dadurch noch größer machen. Locker ist anders.
»Was ist mit ihm?«
»Er ist tot.«
»Er ist tot?« Annette Stern lacht hysterisch auf, reißt sich aber gleich wieder zusammen. »Sie können sich nicht vorstellen, wie glücklich mich diese Nachricht macht!«
»Er wurde ermordet.«
Jetzt lacht Annette Stern nicht mehr. Wieder schaut sie von Bettina zu Malou und zurück, als wolle sie sichergehen, dass sie sich nicht verhört hat und dass sie hier nicht veräppelt wird.
»Er wurde ermordet?«
Annette Stern ist förmlich anzusehen, dass viele Gedanken auf einmal auf sie einstürzen. Sie braucht einen Moment, um sie zu sortieren.
»Darum sind Sie hier? Weil mein Vergewaltiger ermordet wurde?« Noch einmal vergehen ein paar Sekunden. »Sie denken doch nicht etwa … Wie wurde er getötet?«
»Wir dachten, vielleicht könnten Sie uns das erzählen«, sagt Bettina in sachlichem Ton.
»Nein, das kann ich nicht!« Annette Sterns Stimme klingt auf einmal kalt und zu laut. »Ich finde es großartig, dass jemand das Schwein aus der Welt geschafft hat, aber ich war das leider nicht.«
»Dann können Sie uns sicher sagen, wo Sie letzte Woche zwischen Montagnachmittag und Dienstagmittag waren.«
»Das weiß ich jetzt nicht auf Anhieb. Ich muss meinen Kalender checken.«
Annette Stern sucht eine gefühlte Ewigkeit in ihrer Tasche nach dem Handy, öffnet die Agenda-App und braucht wieder übermäßig viel Zeit, um darin zu lesen.
»Ich hatte montags einen Klienten, die Arbeit hat sich hingezogen.«
Die Art und Weise, wie sie es sagt, lässt Bettina plötzlich vermuten, dass Annette Stern als Escort-Dame ihr Geld verdient. Die teure Wohnung, die luxuriöse Einrichtung …
»Was arbeiten Sie genau?«, fragt Bettina.
»Das haben Sie nicht als Erstes geprüft? Sie sind einfach hierhergefahren und dachten, wir klingeln jetzt mal bei der an der Tür und fragen sie, ob sie das Schwein umgebracht hat?«
»Bitte beantworten Sie unsere Fragen.«
»Ich bin Psychiaterin. Bräutigam war mein Klient.«
»Ihr Klient? Wo ist es zu der angeblichen Vergewaltigung gekommen? In Ihrer Praxis?«
»Sehen Sie?«
»Was?«, fragt Bettina zurück.
»Warum sagen Sie angebliche Vergewaltigung? Es war eine Vergewaltigung. Sie sind nicht besser als Ihre Kollegen und der Richter. Warum wird noch immer automatisch dem Mann geglaubt? Vieraugendelikt, Aussage gegen Aussage – dass ich nicht lache! Wenn einer Psychiaterin nicht mehr geglaubt wird, dass sie von ihrem Klienten vergewaltigt worden ist, dann stimmt etwas nicht mehr in diesem Land. Und mit seinen Richtern und seinen Polizisten – und wie mir scheint, auch seinen Polizistinnen.«
»Hören Sie, Frau Stern. Wir urteilen nicht, das hat das Gericht bereits getan. Wir sind heute nicht hier, um zu untersuchen, ob der Freispruch gerecht war oder nicht, ob sie vergewaltigt wurden oder nicht. Wir sind hier, weil wir herausfinden wollen, wer Jürgen Bräutigam getötet hat. Es geht um Mord. Sie als mutmaßliches Opfer von Bräutigam sind der Tat verdächtigt. Darum würde ich Ihnen dringend raten, mit uns zu kooperieren.«
»Ich habe den Glauben in den Rechtsstaat verloren. Warum sollte ich mit Ihnen kooperieren? Machen Sie, was Sie glauben, tun zu müssen. Aber ich warne Sie: Wenn Sie mich festnehmen und des Mordes beschuldigen, werde ich alle meine Beziehungen nutzen, damit Sie diesen Job nicht mehr lange ausüben werden. Ich spreche kein weiteres Wort mit Ihnen ohne meinen Anwalt. Und jetzt gehen Sie bitte.«
»Frau Stern …«
»Nein. Kein Wort. Gehen Sie. Sie finden die Tür.«
Bettina und Malou erheben sich. Annette Stern bleibt sitzen.
»Eine Frage noch …«, sagt Malou, die sich bisher zurückgehalten hat.
Annette Stern dreht demonstrativ den Kopf weg und sieht zum Fenster hinaus.
»Welche Schuhgröße haben Sie?«
»Fragen Sie meinen Anwalt!«
»Wir werden uns mit Ihnen – und Ihrem Anwalt – wieder in Verbindung setzen«, sagt Bettina in scharfem Ton. »Das nächste Mal sehen wir uns auf dem Präsidium.«
Keine drei Sekunden, nachdem die Wohnungstür hinter ihnen zugefallen ist, vernehmen sie das Geräusch des Schlüssels im Schloss.
»Keine angenehme Zeitgenossin«, kommentiert Bettina.
»Ich versteh sie irgendwie«, meint Malou. »Vielleicht hätten wir das Gespräch etwas vorsichtiger angehen sollen.«
»Es ist nicht erwiesen, dass sie wirklich vergewaltigt worden ist.«
»Ich habe das Gefühl, dass sie diesbezüglich die Wahrheit sagt.«
»Das macht sie nicht weniger verdächtig.«
Bettina wendet sich ab. Meryl Streep! In dem Moment fällt es ihr ein; Annette Stern erinnert sie an die junge Meryl Streep, mit dunklen Haaren.
Bevor Malou hinter Bettina die Treppe hinabsteigt, öffnet sie die Klappe des Schuhschranks, der neben Annette Sterns Wohnungstür montiert ist. Sie nimmt ein paar Frauenschuhe heraus, wendet sie, studiert die Sohle.
»Hab ich mir doch gedacht, dass die Frau auf großem Fuß lebt.« Malou hält Bettina den Schuh hin. »Größe 39 – passt genau zu den Spuren, die wir am Tatort gefunden haben.«