32.

Wollen wir uns heut Abend sehen?

Gerne! Ich koche was.

Sandros Antwort auf ihre Nachricht bringt Milla zum Lächeln. Klingt nach einem Friedensangebot. Doch selbst die beste Lasagne nach dem Rezept seiner sizilianischen Großmutter wird ihren Ärger nicht ganz vertreiben können. Sie hofft, dass er sich für sein Verhalten entschuldigen wird. Manchmal verflucht sie ihren Freund dafür, Polizist zu sein. Und was für ein Polizist: Er verkörpert seinen Beruf mit Leib und Seele. Sandro wäre nicht mehr Sandro, wenn er einen anderen Job ausüben würde. Genauso, wie auch sie nicht länger sie selbst wäre, wenn sie nicht mehr als Journalistin arbeiten könnte. Genau hier liegt aber der Unterschied zwischen ihnen beiden: Sie akzeptiert, was er beruflich macht – er hingegen lässt sie nicht nur spüren, dass er Journalisten grundsätzlich lästig findet, er versucht auch immer wieder, sie in ihrem Job zu bremsen. Dabei müsste er doch das Gegenteil tun: Als ihr Partner sollte er sie in allem unterstützen. Nun ja, in fast allem. Milla ist sich bewusst, dass sie hin und wieder Grenzen überschreitet, was Sandro in ein moralisches Dilemma stürzen würde, wenn er davon wüsste. Darum schweigt sie sich darüber lieber aus. Trotzdem: Sie wünschte sich, sie würde von Sandro mehr Support erfahren. Sie würde ihm zum Beispiel gerne von ihren Recherchen und dem Pick-up-Kurs von Mister Sinister erzählen. Sie möchte ihm auch berichten, wie sie mithilfe ihres Cousins Kaspar eine frauenfeindlich klingende Antwort geschrieben und sich für den Kurs angemeldet hat – obwohl sie noch immer keine Ahnung hat, wen sie hinschicken könnte. Doch all das wird sie Sandro leider nicht erzählen können, weil sonst der nächste Beziehungskrach losbrechen würde.

Als Milla endlich im Zug nach Bern sitzt, beginnt die Nacht den Tag bereits zu verdrängen. Es ist viel später geworden als geplant. Trotz ihres Ärgers ist sie froh, dass sie gleich bei Sandro in der Küche sitzen wird. Alles ist besser, als wenn sie erneut in ein tagelanges Schweigen verfallen. Überdies hat sie Hunger. Sie kann dem Sprichwort, dass Liebe durch den Magen geht, hundertprozentig zustimmen – was aber auch daran liegen mag, dass sie selbst eine miserable Köchin ist. Das bescheidene Essen ist die schlechteste Erinnerung an ihre Zeiten als Single.

Millas Zug braust durch einen Bahnhof, als sie ihre Gedanken wegschiebt und das Handy zur Hand nimmt, um die neuesten Nachrichten durchzugehen. Die Newsportale sind voll mit Berichten und Bildern über den Marsch gegen Gewalt in Bern. Mehrere Journalisten haben Texte über Sascha Vogt verfasst, die meisten zitieren Millas Beitrag aus der Sondersendung und zeigen Screenshots der Bilder, die sie gestern ausgestrahlt haben. Ihr Chef Wolfgang wird seine Freude daran haben. Milla klickt sich weiter, zu den anderen Nachrichten des Tages. Da stößt sie auf eine winzige Notiz, ein Zeugenaufruf, den die Kantonspolizei Bern lanciert hat. Warnung wegen Stöckelschuhen, lautet der Titel, der darüber steht. Der Text enthält einzig einen Aufruf, dass sich Personen, die in den letzten sechs Monaten einen Stöckelschuh ohne Absender im Paketfach ihres Briefkastens gefunden haben, dringend mit der Polizei in Verbindung setzen sollen. Gründe dafür werden keine genannt. Was zum Teufel? Milla fragt sich, ob die Polizei nach einem Schuhfetischisten fahndet. Sie hat mal gehört, dass die echt gefährlich werden können. Sie blättert weiter zu einem Artikel über die anstehende Hitzewelle, den sie desinteressiert wegschiebt, und bleibt bei einem Text über ein neues Virus hängen, das im Süden Tansanias erste Todesopfer gefordert hat und von dem niemand weiß, worum es sich handelt. Nicht schon wieder, denkt Milla.

In Bern angekommen, kauft sie im Supermarkt des unterirdischen Bahnhofs eine Flasche Wein und schlendert durch die Lauben der Altstadt zu Sandros Wohnung. In Gedanken heckt sie einen Plan aus, wie sie Sandro doch noch dazu bringen könnte, ihr zu erzählen, wie er und sein Team Sascha Vogt aufgespürt und überwältigt haben. Natürlich nur off the record , sie wird es nicht verwenden, aber Neugierde ist nun mal ihr zweiter Vorname. Milla wird sich hüten, bereits beim Essen danach zu fragen – sie wird bis nach dem Versöhnungssex warten, dann ist Sandro nachgiebiger und gesprächiger. Sie steigt die Treppe hoch, klopft an die Wohnungstür und schiebt sie auf. Der Duft, der ihr aus der Küche entgegenströmt, entlockt ihrem Magen ein lautstarkes Knurren. Sandro steht in der Kochschürze am Herd. Tatsächlich trägt er nichts als die Kochschürze. Er dreht sich zu ihr um, als er ihr Lachen hört.

»Ich dachte, eine Lasagne allein wird heute wohl als Entschuldigung nicht ausreichen«, sagt er, als er Milla entgegenkommt, um sie mit einem Kuss zu überzeugen, dass das Essen noch etwas warten kann.

Zur gleichen Zeit, als sich Milla und Sandro mit einem nicht enden wollenden Kuss begrüßen, liegt Bettina auf dem Bett und starrt die Decke an. Ihren rechten Arm ausgestreckt, fühlt sie die leere Seite neben sich. Sie fühlt die Leere auch in sich drin; sie vermisst Petra mit jeder Faser ihres Körpers. Heute Abend fiel ihr Besuch auf der Intensivstation nur kurz aus. Sie hat Petras Mutter getroffen, die ihrer Freundin so sehr gleicht, als sei sie eine Kopie, nur älter. Es war eine herzliche Begegnung, aber auch eine schmerzhafte. Petras Mutter wirkte gefasst und tapfer, doch Bettina war heute nichts dergleichen. Nach dreißig Minuten ist sie wieder gegangen, weil sie es nicht länger ertrug, weil sie weinen musste und nicht mehr aufhören konnte und weil sie Petra am liebsten wachgerüttelt hätte, weil es nicht sein darf, dass nur noch ihre Hülle da liegt und Petra selbst weit weg zu sein scheint. Bettina spürte auf einmal eine ungeheure Wut in sich hochkommen, darüber, dass Petra noch immer nicht selbstständig atmet, dass sie einfach nicht aufwacht und sie anlacht und wieder da ist, in Bettinas Welt, in der realen Welt, im Leben. Abgrundtief wütend ist sie aber vor allem noch immer auf Vogt, dieses Monster, der ihr und Petra das angetan hat. Der jetzt in seiner menschenrechtskonformen Zelle sitzt und mit seinem amtlich bestellten Pflichtverteidiger die Strategie für das Gerichtsverfahren bespricht. Der die Tat mit seinen irrwitzigen misogynen Verschwörungstheorien rechtfertigen und schließlich im Gefängnis reuelos weiterleben wird. Während Petra womöglich stirbt. Sie hasst ihn. Sie hat zuvor noch nie jemanden gehasst, aber Sascha Vogt hasst sie mit allem Hass, der ihr zur Verfügung steht.

Hätte sie ihn doch erschossen.

Sie denkt es nicht zum ersten und wohl auch nicht zum letzten Mal, obwohl sie weiß, dass gerade sie als Polizistin nicht so denken dürfte. Persönliche Rache ist nie eine Lösung. Es ist eine große Errungenschaft der Zivilisation, dass die Rache respektive die Strafe an den Staat delegiert worden ist, der mit seinem Strafrecht die Ordnung sichert und die private Rache verhindert. Obwohl Bettina das grundsätzlich richtig findet, fühlt es sich dieses Mal total falsch an.

Wie müde sie ist, denkt Bettina. Ihr Körper wiegt schwer, so bleiern, dass sie glaubt, sich nicht einmal mehr auf die andere Seite wälzen zu können. Trotzdem erscheint der Schlaf meilenweit weg. Sie versucht, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, und kehrt im Kopf noch einmal zurück in die Wohnung von Annette Stern. Wie unpersönlich die durchgestylte Einrichtung wirkte. Fast so, als wäre die Wohnung nur eine Kulisse, die einem vorgaukelte, dass darin jemand lebte. Bettina fragt sich, ob sie Anette Stern zu hart angegangen ist. Hätte sie mit einer rücksichtsvolleren Taktik mehr aus ihr herausholen können? Ist die Psychiaterin tatsächlich ein Vergewaltigungsopfer und hat sich an Bräutigam gerächt, weil sie die Ungerechtigkeit nicht länger ertragen hat? Bettina könnte es sogar nachvollziehen, seit Kurzem kennt sie das Bedürfnis nach Rache nur zu gut. Auch traut sie Annette Stern den Mord ohne Weiteres zu. Aber was ist mit Kerner? Sie ist nicht einmal dazu gekommen, Annette Stern zu fragen, ob sie Bendicht Kerner gekannt hat. Und Thomas Sahli, der ebenfalls bedroht wurde? Ihn will sich Bettina morgen näher anschauen. Sie muss die Verbindung zwischen den drei Männern finden. Sahli ist der Einzige, der noch lebt. Womöglich liegt der Schlüssel zur Lösung des Falls in seiner Hand, ohne dass er sich dessen bewusst ist.

Da fällt Bettina der Zeugenaufruf ein, der heute an die Medien rausgegangen ist. Sie hat noch gar nichts gehört. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass es noch früh genug ist, um sich beim zuständigen Sachbearbeiter nach den Rückmeldungen zu erkundigen. Sie schickt ihm eine Textnachricht und sieht, dass er sofort online geht und zurückschreibt.

Es haben sich zwei Männer gemeldet, die einen roten Stöckelschuh im Paketfach fanden – plus Fotografie. Sie sind für diese Nacht in ein Hotel gezogen und melden sich morgen auf dem Präsidium.

Bettina bedankt sich und legt das Handy weg.

»Scheiße!«, sagt sie laut zu sich selbst. Sie haben es hier mit einem Täter zu tun, den sie nur stoppen können, wenn sie cleverer und schneller sind als er. Doch sie fühlt sich im Moment weder clever noch schnell, sondern nur leer und erschöpft. Sie kann sich nicht vorstellen, woher sie die Kraft nehmen soll, diesen Fall zu leiten, den Serienkiller zu jagen und ihn zur Strecke zu bringen, bevor er wieder zuschlägt. Sie fragt sich, ob sie überhaupt genug Kraft haben wird, jemals wieder aus diesem Bett zu steigen.

Bettina drückt das Gesicht ins Kissen und beginnt zu weinen.

Im gleichen Moment, als Bettina das Kissen mit ihren Tränen nässt, wischt sich Nathaniel seine Tränen aus den Augen. Silas ist längst im Bett, Gundula ist heute Nacht zu sich nach Hause gefahren, Veronika hat sich schon nach dem Demonstrationsumzug verabschiedet. Es ist das erste Mal seit der Tat, dass er allein ist. Kaum waren alle weg, brachen die Tränen aus ihm heraus, sintflutartig, er kann gar nicht mehr aufhören. Er weint um den Verlust, um seinen eigenen und noch mehr um den Verlust, den Silas erleiden muss. Er hat seine Mutter verloren, das letzte Familienmitglied, das er noch hatte. Fast wie Nathaniel selbst damals; er war elf, als er Waise wurde, fünf Jahre älter als Silas jetzt. Man sagt, dass sich in Familien Geschichten und Tragödien über Generationen hinweg wiederholen – aber er ist nicht einmal mit Silas verwandt. Es verletzt Nathaniel in seinem Innersten, dass Silas die gleiche schmerzhafte Erfahrung machen muss, die er selbst durchlebte.

Die Ereignisse am Nachmittag haben das Ihre dazu beigetragen, dass Nathaniel von seinen Gefühlen übermannt wird. Er war berührt von der Solidarität, die er gespürt hat. Aber er ist noch immer erschüttert von dem Schreckmoment, als er glaubte, Silas verloren zu haben. Selten war er so hilflos, selten verfluchte er seine unnützen Augen mehr. Die Angst um das Kind fühlte sich an wie ein kleiner Tod. Nathaniel will alles daransetzen, für Silas ein guter Familienersatz zu sein, doch die Furcht, daran zu scheitern, ist riesig. Niemand kann Carole ersetzen. Und was, wenn Silas etwas zustößt, weil er als Blinder versagt?

Nathaniel vernimmt ein leises Klopfen, zwei Mal. Rasch wischt er sich die Tränen aus dem Gesicht. Er hört, dass sich die Tür öffnet, die leisen Schritte, die sich nähern, gefolgt vom Tapsen von Hundepfoten. Er fühlt, wie jemand auf sein Bett kraxelt und sich neben ihn legt.

»Bist du wach?«, flüstert Silas.

»Ja, ich bin wach«, flüstert Nathaniel zurück.

»Ich kann nicht schlafen.«

»Ich auch nicht.«

»Warum machen wir morgen ein Fest für Mama, wenn doch heute schon alle Leute hier waren?«

»Morgen machen wir ein Fest nur für Mamas Familie und Freunde. Ein privates Fest, um Abschied zu nehmen.«

»Aber ich will nicht Abschied nehmen.«

»Ich weiß. Ich auch nicht.« Nathaniel nimmt Silas in den Arm und wiegt ihn sanft. »Aber Mama hat ein schönes Abschiedsfest verdient, findest du nicht?«

»Mmmmh.«

»Es ist fast wie ein Geburtstagsfest. Wir werden ein großes Feuer machen, und wir werden alle an Mama denken und unsere Erinnerungen an sie teilen.«

»Ich will meine Erinnerungen an Mama nicht teilen, die gehören mir.«

»Die kann dir niemand wegnehmen, niemals.«

»Dann ist ja gut.«

»Gut.«

»Wollen wir versuchen zu schlafen?«

»Also gut.«

»Gute Nacht, Silas.«

»Gute Nacht, Nathaniel.«

Während Nathaniel wach liegt und den schlafenden Silas festhält, lässt sich die Rechtsmedizinerin Irena Jundt schwer auf einen Hocker an der Theke im Kreissaal fallen. Theneyan, der Barkeeper, blickt sie an, ohne die Frage zu stellen. Irena nickt; das Übliche. Theneyan, Irenas bester Zuhörer und einziger richtiger Freund, schneidet ein Stück Gurke ab, greift nach einer Limette, gießt mit geübten Händen Gin und Tonic in ein Glas und würzt mit Pfeffer nach.

»Geht aufs Haus«, sagt er, als er den Gin vor Irena hinstellt. »Du musst die reinste Horrorwoche hinter dir haben.«

»Danke.«

Eine Weile reden die beiden kein Wort. Auch darum schätzt sie Theneyan sehr; weil sie nicht reden muss, wenn sie nicht reden mag. Jazz-Musik berieselt den Raum und sorgt für eine entspannte Stimmung. Es sind nicht viele Gäste da; der Schrecken des Attentats lässt die Menschen lieber zu Hause bleiben. Ein verliebtes Paar hinten an einem Tischchen, das die Finger nicht voneinander lassen kann. Ein etwas verwahrlost wirkender Mann am anderen Ende der Theke, der in sein Glas starrt und nichts um sich herum wahrzunehmen scheint. Irena nippt an ihrem Drink und beobachtet Theneyan, wie er die Arbeitsfläche putzt.

»Sag mal, kennst du dich in der Trans-Szene aus?«

Theneyans rechte Augenbraue schnellt in die Höhe. Als er lacht, blitzt der Edelstein an seinem rechten Eckzahn auf, von dem er hartnäckig behauptet, er sei echt.

»Ich mag dich, Irena. Niemand sonst stellt mir Fragen wie du.«

»Und, kennst du dich aus?«

»Sagen wir mal so: Ich habe ein paar Freunde …«

Theneyan hat in jeder Szene ein paar Freunde, was sich für Irena schon öfter als Vorteil erwiesen hat.

»Und in der Fetisch-Szene?«

»Nun ja, dort auch.« Sein Grinsen wird noch breiter. »Möchtest du nicht mal auf den Punkt kommen und mir sagen, was du wissen willst?«

»Haben rote Stöckelschuhe eine spezielle Bedeutung?«

Theneyan macht sich mit dem Lappen am Spülbecken zu schaffen.

»Wie meinst du das?«

»Ich frage anders: Wenn du eine Leiche finden würdest, die nichts als rote Stöckelschuhe trägt, was käme dir als Erstes in den Sinn?«

Theneyan blickt auf. »Frau oder Mann?«

»Mann.«

»Nackt bis auf die Stöckelschuhe?«

»Ja.«

»Keine Ahnung. Es gibt Männer, die stehen drauf, in Frauenschuhen Sex zu haben, aber das müssen nicht unbedingt rote Stöckelschuhe sein.«

»Weckt das Bild einer über einen Penis gestreiften Socke bei dir eine Assoziation?«

Jetzt hält Theneyan mit der Arbeit inne und schenkt Irena seine volle Aufmerksamkeit.

»Die Leiche ist nackt, bis auf rote Stöckelschuhe an den Füßen und eine Socke am Penis?«

»Ja. Genauer gesagt: zwei Leichen.«

»Kling nach einem besonderen Fetisch. Ich kannte mal jemanden, der trug Schwimmflügel beim Sex.«

»Schwimmflügel? Die orangenen Dinger, die Kinder zum Schwimmen brauchen?«

»Genau die. Der konnte gar nicht mehr ohne.«

Irena nimmt nach dieser Information einen kräftigen Schluck und merkt, wie gut es tut, ein wenig abgelenkt zu werden, auch wenn ihr die Informationen über Schwimmflügel-Sex wenige Erkenntnisse zur Leiche bringen die derzeit in ihrem Institut im Kühlfach liegt.

Als Theneyan in der Kreissaal-Bar Irena neue Einblicke in die Welt der Fetische eröffnet, brennt in einer alten Villa im Berner Brunnadernquartier in einem einzigen Zimmer noch Licht. Drei der vier Wände sind mit Bücherregalen vollgestellt. Eine Wand ist für Fachliteratur und Gesetzesbücher reserviert, eine für Kunst- und Fotobände und die dritte für Belletristik. In der Mitte des Raums steht ein schwerer Schreibtisch aus dunklem Mahagoni. Der Schein der Tischlampe fällt auf einen aufgeklappten Aktenordner und auf ein sorgenvolles Gesicht, das sich darüber beugt.

Kai Langenberger blättert sich durch den Fall Bräutigam. Es ist längst nicht der einzige Fall, den er als Staatsanwalt verloren hat. Aber ein Fall, der schmerzte – wie immer, wenn es um ein Sexualdelikt geht. Er weiß, dass er Niederlagen nicht persönlich nehmen darf. Aber in Fällen wie diesen – wie sollte er sie nicht persönlich nehmen? Unmöglich. Obwohl er bei jedem Sexualdelikt um einen Schuldspruch kämpft, als ginge es um ihn selbst, ist er doch in den seltensten Fällen erfolgreich. Es gibt keine Worte dafür, um das Ausmaß seiner Frustration darüber zu beschreiben. Aber Gesetz ist Gesetz. Auch wenn er in einigen Fällen das Gefühl hatte, dass das Gericht seinen Ermessensspielraum nicht vollständig ausgenutzt hat. Langenberger liest noch einmal die Einvernahmeprotokolle des Opfers durch. Annette Stern. Irgendwo in seinen Erinnerungen liegt ein verschwommenes Bild von ihr. Eine große, toughe Frau, alles andere als ein eingeschüchtertes Opfer. Eine Kämpferin gegen die Ungerechtigkeit, wie er selbst. Vielleicht ist ihr das zum Verhängnis geworden; dass sie zu stark und zu selbstbewusst auftrat, sodass das Gericht – zwei Männer und eine Frau – ihr nicht glaubten, dass sie zum Opfer geworden ist. Dabei kann jede und jeder zum Opfer werden, immer und überall. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Menschen in falscher Sicherheit wähnen. Alle denken, es trifft schon jemand anderen, wenn etwas passiert. Wie sehr sie sich irren.

Jürgen Bräutigam hat nach dem Ende der Therapiesitzung das Zimmer nicht verlassen. Als ich aufstand, um die Tür zu öffnen und ihn hinauszubitten, hat er mich von hinten an den Haaren zu Boden gerissen und sich sofort auf mich drauf gekniet.

Kai Langenberger schließt kurz die Augen, bevor er weiterliest.

Ich habe mich zunächst gewehrt, versuchte, ihn wegzuboxen, ihn abzuschütteln, aber er hat eine unheimliche Kraft entwickelt. Er riss mir die Bluse auf und den Rock hoch. In dem Moment bin ich erstarrt. Ich konnte mich nicht mehr wehren, ich fühlte mich wie gelähmt. Ich habe mich aus meinem Körper weggedacht, darauf gewartet, dass es vorbeigeht, und gehofft, dass er mich wenigstens am Leben lässt.

Kai Langenberger fühlt die Hitze, die in ihm hochkommt. Sie beginnt hinter den Ohren, kriecht in die Schläfen und treibt ihm schließlich den Schweiß auf die Stirn. Es ist die Wut in ihm. Sie wird nie versiegen.

Er greift zum nächsten Aktenordner. Ein anderer Fall, ein anderes Opfer, ein anderer Täter, und doch fast die gleiche Geschichte. Alles wiederholt sich immer wieder.

Zur gleichen Zeit an einem anderen Ort in derselben Stadt denkt Malou, ohne es zu ahnen, beinahe das Gleiche wie Staatsanwalt Langenberger, allerdings in einem völlig anderen Zusammenhang. Noch eine halbe Stunde dauert der alte Tag, bevor der neue beginnt. Sie hofft, es wird ein besserer werden. Sie hat sich gerade von einem Tinderdate verabschiedet, hatte sich gedacht, etwas Abwechslung würde ihr guttun, mal über was anderes reden als über Leichen und Todesursachen und Serienkiller, aber es stellte sich heraus, dass sich Inhalt und Ablauf dieser Dates trotz wechselnder Partner immer wiederholen. Abwechslung geht anders. Die zwei Stunden, die sie dem Mann in der Brasserie Ratskeller gegenübersaß, waren ein nicht enden wollendes Déjà-vu. Roland oder Rolf oder Robert, der auf dem Foto ganz nett ausgesehen und im Chat sympathisch geklungen hatte, erwies sich als überaus durchschnittlich und sehr langweilig, kurzum ein Klon der letzten fünf Männer, mit denen sich Malou zu einem Blind Date verabredet hatte. Sowohl äußerlich wie auch inhaltlich. Zuerst erzählte er von seinem Job – superanspruchsvoll –, dann von seinen Kindern – ebenfalls superanspruchsvoll –, und dann von seiner durchlebten Scheidung – supertraumatisch. Er war so sehr von sich und seiner Geschichte vereinnahmt, dass es ihm nicht einmal auffiel, dass er Malou weder nach ihrem Beruf, Nachwuchs oder sonst irgendwas gefragt hat. Er stellte überhaupt keine Fragen, denn für Antworten gab es in seinem Redefluss keinen Platz. Nach zwei Stunden wollte er dann doch mal etwas von ihr wissen: ob sie nun mit ihm nach Hause komme, sie verstehe schon … Malou hat abgelehnt und sich kurz überlegt, den Mann in Handschellen zu legen und an die nächste Straßenlaterne zu ketten. Sie hat es dann doch bleiben lassen. Roland oder Rolf oder Robert war ein Flop, einer mehr auf der Liste, den sie abhaken kann. Trotz allem hat sie die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass sich irgendwann ein Blind Date doch noch als Sechser im Lotto, sprich als Mr. Right persönlich entpuppt. Allerdings ist sich Malou selbst nicht ganz sicher, welche Anforderungen ein Mann erfüllen müsste, um für sie als Mr. Right durchzugehen. Tief in sich drin ahnt sie, dass es ihn womöglich gar nicht gibt.

All diese Gedanken wälzt Malou, als sie durch die menschenleeren Lauben der Altstadt Richtung Bahnhof spaziert. Als sie an Sandros Adresse vorbeikommt, weiß sie nicht, dass ihr Chef nur ein paar Stockwerke über ihr erschöpft und erfüllt und eng umschlungen mit Milla im Bett liegt und ihr gerade erzählt, wie Bettina im Alleingang den Attentäter gestellt hat – nachdem Milla schwören musste, die Information für sich zu behalten. Malou ahnt ebenfalls nicht, dass sie etwas später nur wenige Meter an ihrer Kollegin Irena Jundt vorbeigeht, die im Kreissaal nach der Diskussion über Fetische Einblicke in die Trans-Szene erhält und ihren dritten Gin Tonic bestellt. Malou biegt in eine schmale Passage zwischen den Häusern ein, die zwei Hauptgassen miteinander verbindet, als sie hinter sich Schritte hört. Nahe hinter sich. Sie weiß nicht, ob sie schon vorher da gewesen sind, sie war zu sehr in Gedanken versunken und hat nicht darauf geachtet. Aber jetzt hört sie sie, und etwas an dem Geräusch, das in anderen Situationen alltäglich ist, lässt sie schaudern. Sie spürt, dass sich die Härchen in ihrem Nacken aufrichten. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, nimmt sie eine andere Körperspannung an. Instinktiv rechnet sie mit einem Angriff von hinten und ist bereit, ihn abzuwehren. Sie hält nicht inne, nicht das kleinste Zögern, sie geht einfach weiter, lauscht, die Schritte sind zu nah, sie muss sich zwingen, nicht loszurennen. Im äußersten Blickwinkel nimmt Malou eine Bewegung wahr, sie schnellt herum, reißt das rechte Knie hoch und rammt es dem Kerl in die Weichteile. Dann umfasst sie mit beiden Armen seinen Kopf, drückt ihn nach unten, reißt das linke Knie hoch und stößt es ihm ins Gesicht. Mit einem Schmerzgrunzer geht der Typ zu Boden.

»Spinnst du?«, klagt er weinerlich.

Obwohl seine Stimme verzerrt ist, erkennt Malou sie wieder. Robert oder Rolf oder Roland. Der Scheißkerl hat ihr nachgestellt. Hätte sich vielleicht doch mal danach erkundigen sollen, was sie beruflich macht.

»Kannst es wohl nicht verkraften, wenn eine Frau Nein sagt.« Malou spuckt die Worte aus. Am liebsten würde sie ihm ins Gesicht treten.

»Ich wollte doch nur … ich hatte denselben Heimweg …«

»Verarschen kann ich mich selbst.« Malou merkt, dass sie zittert. Durchatmen, sagt sie sich, du hast die Situation im Griff. »Noch ein Wort, und ich lege dir Handschellen an und bringe dich aufs Revier.«

Er grinst sie dümmlich an und will sich aufrappeln. Im Bruchteil einer Sekunde kickt Malou ihr Bein gegen seine Schulter. Mit einem Jaulen geht er erneut zu Boden.

»Wage es ja nicht. Ich melde deinen Namen der Gewaltpräventionsstelle, die werden ein Auge auf dich haben. Wehe, wenn du jemals eine Frau anfasst!«

Malou lässt Robert oder Rolf oder Roland, der sich auf dem Boden windet und dessen Namen sie sich doch besser hätte merken sollen, einfach liegen. An der nächsten Station steigt sie in den Bus und sinkt müde und enttäuscht in den Sitz. Der Mann, der ihr gegenübersitzt, blickt sie an. Sie dreht den Kopf demonstrativ weg, ihr Bedürfnis nach sozialen Kontakten ist gerade auf den Nullpunkt gesunken.

»Scheißtag?«, fragt er.

»Scheißtag«, bestätigt sie.

»Morgen wird besser werden«, verspricht er ihr, bevor er sich wieder in sein Buch vertieft.

Malou muss den Kopf leicht schräg stellen, erst dann kann sie den Titel seiner Lektüre entziffern: Am Arsch vorbei geht auch ein Weg.