Ich habe heute den Zeugenaufruf in der Zeitung gelesen. Fast hätte ich ihn übersehen, wollte schon weiterblättern, als mir das Wort »Stöckelschuhe« ins Auge stach. Es war zu befürchten gewesen, dass so etwas passieren könnte. Trotzdem hab ich mich maßlos geärgert. Das verkompliziert meine Mission massiv: Die Polizei ist wachsam, und die Opfer sind gewarnt. Ich frage mich, wer sich alles auf den Zeugenaufruf meldet. Ich wünschte mir, ich könnte nachfragen, wie viele Rückmeldungen schon eingegangen sind, und von wem. Aber ich darf mich nicht verdächtig machen.
Auf jeden Fall war der erste Ausflug letzte Nacht ein Reinfall. Ich bin vergebens zu seiner Wohnung gefahren. Dabei habe ich ihn mehrere Wochen observiert; ich wusste, dass er sonntagabends immer zu Hause ist. Doch gestern war keiner da. Ich habe bis nach Mitternacht gewartet, aber er ist nicht heimgekommen. Da habe ich es aufgegeben, vorerst aufgegeben, oder eher aufgeschoben. Wahrscheinlich hat er wegen des Zeugenaufrufs die Polizei angerufen, und die haben ihm gesagt, er solle das Weite suchen. Feigling. Die größten Arschlöcher sind die größten Schisser, wenn es ihnen selbst an den Kragen geht.
Doch nicht jeder wird die Notiz gesehen haben. Auch rennt nicht jeder gleich zur Polizei. Vor allem dann nicht, wenn er selbst kein reines Gewissen hat. Überhaupt, was will die Polizei schon machen? Jeden, der mal einen Schuh im Paketfach fand, unter Polizeischutz stellen? Auf Kosten der Steuerzahler und rund um die Uhr? Undenkbar. Auf jeden Fall nicht für lange. Ich weiß, dass dafür weder personell noch finanziell genügend Kapazitäten vorhanden sind. Wahrscheinlich werden sie einen Moment lang aufpassen, die Typen werden für ein paar Tage zu Hause ausziehen, doch wenn nichts passiert, wird bald wieder courant normal herrschen. Vielleicht sollte ich aufs Geratewohl ein paar rote Schuhe verteilen, um etwas Verwirrung zu stiften.
Ich muss über den Gedanken lachen. Doch das Lachen ist so schnell verschwunden, wie es gekommen ist. Ich werde sofort wieder ernst. Die Traurigkeit lässt sich nicht weglachen. Sie geht niemals weg, sitzt in mir drin, zeichnet sich selbst in meinen Gesichtszügen ab. Schon immer. Bereits in der Schule hatte ich stets das Gefühl, es sei mir anzusehen, dass ich kein Kind der Liebe bin. Kein Glückskind. Ein Schattenkind.
Das Beste wäre, etwas abzuwarten und geduldig zu sein. Geduld war noch nie meine Stärke. Auf jeden Fall muss ich vorsichtiger werden. Bei Kerner habe ich echt Glück gehabt, und das Risiko wird nur größer werden. Was, wenn sie mich doch erwischen? Das war bisher keine Option. Doch jetzt bin ich auf einmal verunsichert. Zum ersten Mal überhaupt regen sich leise Zweifel. Zweifel, ob es das wert ist. Der Preis, den ich bezahlen werde, falls man mich erwischt, ist hoch. Zu hoch. Lohnt sich der Einsatz?
Ich könnte einfach Stopp sagen, hier und jetzt in dieser Sekunde, mich zufriedengeben mit dem, was ich erreicht habe. Noch bin ich sicher. Niemand weiß, wer ich bin und was ich getan habe. Keiner kann den Zusammenhang erkennen. Ich könnte aufhören, einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Könnte jeden Morgen weiterhin brav zur Arbeit gehen, im Hamsterrad meine Runden drehen und irgendwie weiterleben. Überleben. So, wie ich die letzten Jahre auch überlebt habe.
Aber das geht nicht, geht nicht mehr, das alte Leben ist vorbei. Die Zeit läuft nicht rückwärts. Selbst wenn ich es wollte: Ich kann nicht damit aufhören. Und vor allem: Ich will auch nicht damit aufhören. Es gibt für mich kein Überleben, wenn ich nicht tue, was ich tun muss.
Seit ich die Mission gestartet habe, fühle ich mich zum ersten Mal im Leben wie mich selbst. Vorher bin ich nur eine funktionierende Hülle gewesen, ein ferngesteuerter Roboter. Doch seit die Mission läuft, weiß ich wieder, wer ich bin. Ich hatte den Sinn aus den Augen verloren und bin jetzt daran, ihn wiederzufinden. Ich muss die Mission zu Ende führen, sonst werde auch ich nie vollendet sein und letztlich zugrunde gehen.
Doch das ist, um ehrlich zu sein, nicht der einzige Grund. Da ist noch etwas anderes, das mich antreibt, etwas, von dessen Existenz ich nichts geahnt habe. Ich wusste weder, dass es in mir steckt, noch woher es kommt. Es ist ein Drang. Ein Reiz. Die Lust am Töten. Dieser Moment, wenn er zu Boden geht und mir hilflos ausgeliefert ist. Diese Macht, über ihn zu verfügen. Dieses Gefühl, ganz allein über Leben und Tod eines anderen zu entscheiden. Ich allein habe es in der Hand, ob das Gift in ihn hinein- und das Leben aus ihm herausfließt. Ich habe die Macht. Ich bin größer als Gott. Das fühlt sich an wie der krasseste Drogentrip.
Aufhören ist nicht mehr drin.