35.

»Bitte, Jürg!«

»Nein. Sorry. Das mache ich nicht.«

Milla verschränkt die Hände. Jürg ist bereits der dritte Arbeitskollege, den sie mit Charme und Argumenten zu überzeugen versucht, morgen Nachmittag für sie das Pick-up-Artist-Training zu besuchen.

»Du kriegst Geld dafür! Und du hast bei mir einen gut!«

»Milla, vergiss es. Die Regeln sind klar; wir filmen nicht mehr mit versteckter Kamera. Hast du überhaupt versucht, dich anzumelden und offiziell als Journalistin teilzunehmen?«

»Okay, ich geb’s auf, ich suche weiter.«

Milla ist genervt. Jürg hat nicht im Ansatz begriffen, worum es geht. Er hat ihr schlicht nicht zugehört. Undenkbar, dass die Incels sie als Journalistin akzeptieren würden. Frauen sind für sie keine menschlichen Wesen, sondern unmenschlicher Abschaum. Warum sollten sie sich von einer Femoid filmen lassen – ausgerechnet, wenn sie trainieren, wie sie Frauen drankriegen können? Es ist generell nicht vorstellbar, dass sie Filmaufnahmen zustimmen würden, selbst dann nicht, wenn die Anfrage von einem Mann stammte.

Jürg war der letzte Name auf der Liste der Kollegen, die sie um Hilfe fragen konnte. Es ist zum Verzweifeln. Auch ihre Bemühungen, ein Mitglied der radikalen Incel-Szene zu einem Interview vor der Kamera zu bewegen, sind bisher kläglich gescheitert. Zum ersten Mal in ihrem Leben wünscht sich Milla, ein Mann zu sein. Dann könnte sie einfach hingehen, den verzweifelten, unfreiwilligen Sexabstinenzler spielen, der die Frauen und die ganze Welt und wohl auch sich selbst abgrundtief hasst, sie könnte am Pick-up-Training teilnehmen, sich dort ein, zwei Incels rauspflücken und für ein Interview motivieren. Stattdessen ist sie auf die Hilfe eines Mannes angewiesen, um den Beitrag zu realisieren. Und keiner macht mit. Welch Ironie: Sie findet keinen Mann, um über Männer zu berichten, die keine Frauen finden. Sie müsste darüber lachen, wenn das Thema nicht so bitter wäre. Milla ist sich bewusst, dass nicht jeder, der sich Incel nennt, die Frauenverachtung im gleichen Maße teilt, und dass vor allem nicht bei jedem der Hass in Gewalt umschlägt. Doch nach allem, was sie in den Foren und Chats auf den Incel-Webseiten gelesen hat, steht für sie außer Frage, dass dort teils Verzweifelte, teils Wütende, teils Verblendete dazu angespornt werden, Gewalttaten an Frauen zu begehen. Immer wieder ist sie auf hetzerische Texte gestoßen, die Suizidwillige anstachelten und aufforderten, gleich noch ein paar Femoids mit in den Tod zu reißen und dadurch als Held zu sterben. Milla will diese bis heute im Verborgenen agierende Verbindung ans Licht bringen, sie will erwirken, dass die Behörden endlich einschreiten. Es kann nicht sein, dass im Internet Hass gegen Frauen verbreitet und zu Gewalt an ihnen aufgerufen wird, ohne dass auch nur jemand hinschaut. Aber genau das passiert hier und jetzt und jeden Tag. Das Attentat in der Reitschule muss ein Weckruf sein, damit sich ein solches nicht wiederholt.

In dem Moment fällt Milla Steve Berger ein. Er könnte ihr helfen. Sie kennt ihn seit Jahrzehnten, ein schmieriger Boulevard-Reporter der schreibenden Zunft, der seit jeher für sie schwärmt. Milla weiß, dass er ihr keinen Wunsch abschlagen kann. Auch würde er durch sein Aussehen und Auftreten perfekt in ein Pick-up-Artist-Training passen, keine Frage. Das einzige Problem: Wenn Milla Steve um den Gefallen bittet, wird sie die Story nicht exklusiv haben. Steve würde sich nicht davon abhalten lassen, die Geschichte selbst zu erzählen, und da er schneller schreibt, als sie Beiträge schneidet, würde er ihr sogar noch zuvorkommen. Das ist keine Option, zumindest noch nicht. Berger wird sie nur im äußersten Notfall um Hilfe bitten.

Milla schrickt zusammen, als ihr Telefon den Song Sisters Are Doin’ It For Themselves von Eurythmics zu spielen beginnt. Sie hat ihn erst gestern als Klingelton hochgeladen. Als sie sieht, wer anruft, verdreht sie die Augen: Wolfgang, der nur zehn Meter weiter drüben in seinem Büro sitzt und zu bequem ist, seinen Hintern herzubewegen.

»Milla, kannst du mal rüberkommen?«

Ohne zu antworten, macht Milla sich auf den Weg.

»Was ist?«, fragt sie, als sie sich in Wolfgangs Büro in den Besucherstuhl fallen lässt.

»Wie weit bist du mit deiner Incel-Geschichte?«

»In der Mache«, antwortet Milla vage.

»Bist du sicher, dass es der richtige Hintergrund für die nächste Sendung ist? Ist das Thema nicht schon gegessen? Der Attentäter hasste Frauen – das war sein Motiv. Damit ist die Geschichte erzählt.«

»Nein, ist sie nicht.« Milla spürt den Ärger, der sich in ihr breitmacht. »Vogt nannte sich selbst einen Incel und war vernetzt in der Szene, in der Frauenhass geschürt und zu Gewalt an Frauen aufgerufen wird. Vogt selbst hat sein Attentat im Netz angekündigt, und keiner hat Alarm geschlagen.«

»Ich weiß, aber das hast du in deinem Beitrag in der Sondersendung alles schon erzählt. Gibt das Thema wirklich noch mehr her? Ich meine: Hast du genügend Stoff für einen Hintergrund?«

»Ja.« Milla würde Wolfgang gerne von ihrem geplanten Dreh mit dem Pick-up-Artist erzählen. Aber sie darf mit keinem Wort erwähnen, dass sie versteckte Aufnahmen machen will. Weil er es ihr sonst verbieten müsste. Sobald sie ihm aber das exklusive Material präsentiert, wird er nichts mehr dagegen einwenden, weil es zu gut und zu relevant ist, um es nicht zu veröffentlichen. Er wird notfalls geltend machen, dass ihm das Material anonym zugespielt worden ist. Sie kennt ihn zu gut. Doch einweihen darf sie ihn nicht. »Ich bin an etwas dran, das wir exklusiv haben werden. Es wird außerordentlich sein.«

»Kannst du bitte Klartext reden?«

»Nein.«

»Milla!«

»Es ist noch zu vage. Aber vertrau mir, ich werde eine spektakuläre Geschichte hinkriegen.«

Wolfgang blickt Milla misstrauisch an. Sie wird das Gefühl nicht los, er könne ihr ansehen, wenn sie etwas plant, womit er nicht einverstanden ist. Gleichzeitig liest sie den Zweifel in seinen Augen. Wahrscheinlich hört er ihr an, dass sie selbst nicht überzeugt ist, den Beitrag wirklich hinzukriegen.

»Gut. Ich gebe dir noch einen Tag Zeit. Morgen musst du aber etwas in der Hand haben. Es gibt da noch eine andere Geschichte. Ich bin nicht sicher, ob wir nicht doch eher auf die setzen sollten.«

»Welche andere Geschichte?«

»Die zwei Toten.«

»Zwei Tote?«

Vertieft sich Milla in die Recherche zu einem Thema, befindet sie sich in ihrem Tunnel und ist derart auf ihre Story fokussiert, dass alles andere unbemerkt an ihr vorbeigeht.

»Du hast davon nichts mitgekriegt?«, fragt Wolfgang. »Die zwei Tötungsdelikte im Kanton Bern. Reden du und dein Freund nicht mehr miteinander?«

Milla straft Wolfgang mit einem bösen Blick. Sie hasst Bemerkungen, die sich um ihre Beziehung zu einem Polizisten drehen. Erst recht, wenn ihr Chef sie äußert.

»Zwei verschiedene Tötungsdelikte? Warum glaubst du, das wäre was für uns? Die News werden das bestimmt abdecken.«

»Keine Ahnung. Bauchgefühl. Ich glaube, der eigenartige Zeugenaufruf mit den Stöckelschuhen hat etwas damit zu tun.«

»Stimmt, den habe ich gesehen.«

»Kannst du nicht mal deinen Freund danach fragen?«

»Wolfgang!«

»Nur so nebenbei, keine große Sache.«

»Vergiss es.«

»Okay, schon gut. Ich erwarte morgen ein Konzept zu deinem Beitrag, sonst schwenken wir auf die andere Story um.«

Falls es denn eine andere Story gibt, denkt Milla verärgert.

»Ich bin heut Nachmittag noch weg, ich muss zu einer Beerdigung, ich hole die Arbeit am Abend nach«, kündigt sie an.

Wolfgang nickt nur, Milla sieht ihm an, dass er mit seinen Gedanken schon wieder woanders ist.

Zurück am Computer, ruft Milla die Webseite der Kantonspolizei Bern auf und tippt den Link zu den Medienmitteilungen an. Sie findet sofort, wovon Wolfgang gesprochen hat. Viel ist aus den wenigen Zeilen allerdings nicht zu erfahren.

Mann in seiner Wohnung tot aufgefunden, lautet der Titel einer Meldung, die am Freitagmorgen hochgeladen worden ist. Darunter steht, dass ein Zweiunddreißigjähriger tot in seiner Wohnung in der Stadt Bern lag und dass die Polizei ein Tötungsdelikt nicht ausschließt. Auch die zweite Nachricht findet Milla nicht gerade aufsehenerregend. Mutmaßliches Tötungsdelikt im Spielsalon , wird da vermeldet. Muss sich wohl um eine Abrechnung im Milieu gehandelt haben, denkt Milla. Sie fragt sich, warum Wolfgang dahinter eine Geschichte wittert. Sie liest auch noch einmal den Zeugenaufruf wegen der Stöckelschuhe durch, einen Zusammenhang kann sie aber beim besten Willen nicht erkennen. Da muss die Fantasie mit Wolfgang durchgegangen sein.

Milla blickt auf die Uhr. Sie muss bald los, heute findet das Abschiedsfest für Carole statt. Keine klassische Beerdigung, Carole war schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten, aber Nathaniel, Veronika und Gundula haben eine kleine Zeremonie an der Aare organisiert. Milla will auf keinen Fall zu spät sein.

Ich fahre hier gleich los und bin in etwa neunzig Minuten in Bern. Wo wollen wir uns treffen? , schreibt sie Sandro in einer Textnachricht. Er hat ihr versprochen, sie heute Nachmittag zu begleiten. Zu ihrer Überraschung liest Sandro die Nachricht sofort.

Mist, die Beerdigung, schreibt er zurück.

Milla müsste die zweite Nachricht gar nicht lesen, sie weiß auch so, was drinsteht.

Es tut mir leid, ich schaffe es nicht.

Bingo. Erneut erklingt der Signalton.

Zu viel Arbeit. Wir haben eine dritte Leiche. Vielleicht können wir uns am Abend sehen?

Milla hält inne. Eine dritte Leiche? Warum die dritte? Hängen die verschiedenen Tötungsdelikte doch zusammen? Drei Fälle innerhalb weniger Tage?

Milla überlegt, ob ihr Sandro gerade ohne es zu wollen verraten hat, dass er in einer Mordserie ermittelt. Sie wird sich hüten, ihn danach zu fragen. Aber herausfinden will sie es dennoch.