38.

Malou steht unsichtbar hinter der Glasscheibe des Venezianischen Spiegels. Wobei die Frau auf der anderen Seite sehr wohl weiß, dass sie durch den Spiegel beobachtet wird – zumindest, wenn sie einmal in ihrem Leben einen TV -Krimi geschaut hat. Annette Stern scheint sich jedoch nicht darum zu scheren. Sie kaut unablässig auf ihren Fingernägeln herum. Obwohl Fingernägelkauen überhaupt nicht zu ihrer Erscheinung passt.

Malou muss Annette Stern allein befragen, alle Kollegen sind unterwegs, jeder hat eine andere Aufgabe übernommen. Die Einvernahme findet hier im Verhörraum statt, weil die Auskunftsperson und mögliche Verdächtige gestern auf stumm geschaltet hat. Kino nennen sie das Zimmer polizeiintern, weil die Menschen auf der anderen Seite des Spiegels immer wieder Spektakuläres bieten. Doch dieses Mal wird es keine Zuschauer geben, weil schlicht niemand Zeit hat.

Es klopft.

Kollege Schmid steckt den Kopf herein. »Er ist da.«

»Danke.« Malou greift nach ihrem roten Notizbuch, ihrem altmodischen, aber ständigen Begleiter.

Vor der Tür begrüßt sie Rechtsanwalt Baumann. Sie hatte schon mehrmals mit ihm zu tun. Er ist ein zäher Hund, aber einer, der fair bleibt und sich an die Regeln hält. Gemeinsam betreten sie das Zimmer. Er gibt auch Annette Stern die Hand.

»Sie haben sich mit Ihrer Mandantin bereits besprochen, ist das korrekt?«, fragt ihn Malou.

»Ja, das ist richtig.«

»Frau Stern, sind Sie bereit, mir heute meine Fragen zu beantworten?«

»Ja, sie ist bereit.«

Malou reagiert nicht auf die Antwort des Rechtsanwalts, sondern blickt weiterhin Annette Stern an.

»Ja, ich bin bereit«, wiederholt sie. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können.« Ihr Ton ist keinen Deut freundlicher als am Vortag.

»Sie haben Jürgen Bräutigam beschuldigt, Sie vor fast zwei Jahren vergewaltigt zu haben?«

»Das ist richtig. Ich habe ihn nicht nur beschuldigt, er hat es auch getan.«

»Vor sieben Monaten fand die Gerichtsverhandlung statt, er wurde freigesprochen.«

»Nach dem Grundsatz: im Zweifel für den Angeklagten. Nicht, weil er unschuldig war.«

»Wie war das für Sie?«

»Was wollen Sie hören? Es war schrecklich.«

»Haben Sie das Urteil akzeptiert?«

»Ich bin nicht in Revision gegangen, wenn Sie das meinen, es hätte nichts gebracht. Aber persönlich habe ich es natürlich nicht akzeptiert. Es war ein Fehlurteil.«

»Denken Sie, dass es jemandem nach einem Fehlurteil zusteht, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen?«

Annette Stern zögert. Sie schaut Malou an, mit einem Blick, der sich anfühlt, als könnte sie direkt in sie hineinsehen.

»Ja, das denke ich.«

»Haben Sie sich nach dem Freispruch überlegt, sich an Jürgen Bräutigam zu rächen?«

»Ja. Tausendmal.«

Rechtsanwalt Baumann hustet, legt die Hand auf Annette Sterns arm, doch sie schüttelt sie ab.

»Haben Sie Jürgen Bräutigam getötet?«, fragt Malou direkt.

»Ich wünschte, ich hätte es getan. Aber ich bin froh, dass es ein anderer gemacht hat.«

Malou kann nicht benennen wieso, aber sie glaubt Annette Stern jedes Wort.

Im gleichen Moment in einer anderen Ecke der Stadt. Malous Kollege Bernard Blanc sitzt in einer einfachen Blockwohnung an einem Küchentisch, der ihn an jenen in seinem Elternhaus erinnert. Die Kerben in der Tischplatte verraten sein Alter. Bernard bemüht sich, sie nicht zu berühren. Alles wirkt klebrig in Peter Bannholzers Küche. Er betrachtet sein Gegenüber und weiß nicht so recht, was er von ihm halten soll.

»Haben Sie den Schuh noch?«

»Nein, ich hab ihn weggeschmissen. Ich hab das nicht ernstgenommen. Ich dachte mir, dass er von einer Frau kommt, also …«

»Also was?«, hakt Bernard nach.

»Also so what ! Es hat mich nicht gekümmert.«

Nein, Bernard Blanc mag sein Gegenüber nicht. Er weiß, dass das keine Rolle spielt. Er muss und wird ihn behandeln wie jeden anderen auch, der sich in potenzieller Gefahr befindet. Aber Bannholzer ist definitiv einer der unangenehmeren Sorte. Nicht nur, dass er unablässig an einer Zigarette zieht und die Küche in eine Raucherhöhle verwandelt. Er wirkt auch sonst ungepflegt. Käsige, unreine Haut, fettiges Haar, fahriger Blick. Wenn er mit Bernard spricht, schaut er an seinem Gesicht vorbei in die hintere Zimmerecke. Mehr als einmal dreht sich Bernard irritiert um, weil er sich fragt, ob jemand hinter ihm steht. Bannholzers Kleidung haftet der Geruch von altem Rauch und feuchtem Schweiß an. Auch die Wohnung wirkt schmutzig und lieblos eingerichtet. Nebst der Küche gibt es zwei Zimmer. Im einen stehen ein Arbeitstisch und ein schmales Bett, das mit Kissen zu einer Art Sofa umfunktioniert worden ist, daneben ein Büchergestell mit antiquiert anmutenden VHS -Videokassetten. Beim Blick in den Raum sind Bernard mehrere Kriegsfilme und Dokumentationen über den Zweiten Weltkrieg ins Auge gestochen. Keine Bilder an der Wand. Keine Pflanzen. Außer den Filmen gibt es nichts Persönliches, das etwas über den Bewohner verraten würde.

»Sie leben allein hier?« Es ist eine rhetorische Frage. Bernard bezweifelt, dass es eine Frau an diesem Ort lange aushalten würde.

»Ja.«

»Haben Sie eine Freundin?«

»Nein. Tut das was zur Sache?«

»Vielleicht. Haben Sie eine Ex-Freundin, die womöglich sauer auf Sie ist?«

»Nein.«

»Als Sie den Schuh in Ihrem Paketfach gefunden haben; was dachten Sie, wer ihn da hineingelegt haben könnte?«

»Ich hab mir gar nichts gedacht. Ich war genervt, irgendein Scheißstreich muss das gewesen sein. Ich hab ihn sofort entsorgt.«

»Gibt es jemanden, der wütend ist auf Sie?«

»Nein.«

Gesprächig ist anders, denkt Bernard. Da spürt er, dass in seiner Tasche das Handy vibriert.

»Darf ich kurz?« Auch diese Frage ist rhetorisch, pure Höflichkeit, die nicht nötig wäre.

Die Textnachricht in der Chat-Gruppe der Soko High Heels stammt von Bettina. Bernard liest sie sofort, vielleicht gibt es aufgrund der dritten Leiche neue Erkenntnisse.

Bitte fragen: ob sie angeklagt waren – und freigesprochen wurden. Ob sie Stephan Arnold kannten. Danke, Bettina.

Das Vergewaltigungsdelikt von Bräutigam – es scheint doch tatrelevant gewesen zu sein, denkt Bernard.

»Herr Bannholzer, ich bin nicht hier, um Sie zu ärgern oder Ihnen etwas vorzuwerfen. Ich bin hier, weil wir glauben, dass Sie sich in ernsthafter Gefahr befinden. Aber ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie kooperativ sind.«

»Ich bin doch kooperativ. Finden Sie, ich bin nicht kooperativ?«

»Sagen Ihnen die Namen Jürgen Bräutigam, Thomas Sahli, Klaus Tanner und Stephan Arnold etwas?«

»Nein.«

»Bitte denken Sie nach. Es kann auch sehr lange her sein, dass Sie ihnen begegnet sind. In der Schule, bei den Pfadfindern, bei einem früheren Arbeitgeber?«

»Nein, das sagte ich Ihnen doch bereits.«

»Sie arbeiten als Software-Entwickler?«

»Ja, bei einer kleinen Berner Firma.«

»Sind Sie schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten?«

»Ich bin bestimmt schon mal zu schnell gefahren, wenn Sie das meinen.«

»Nein, das mein ich nicht. Sind Sie vorbestraft?«

»Das wissen Sie besser als ich.«

»Ich frage anders: Waren Sie je in ein Strafverfahren verwickelt?«

»Muss ich dazu etwas sagen?«

»Warum wollen Sie dazu nichts sagen?«

»Weil es Sie nichts angeht.«

»Ich versuche nur herauszufinden, wer Sie möglicherweise umbringen will.« Bernard muss sich zusammenreißen. Langsam verliert er die Geduld.

»Mich will niemand umbringen.«

»Waren Sie in einem Strafverfahren involviert oder nicht?«

»Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen.«

Acht Kilometer weiter südlich in der Stadt sitzt in dem Moment auch Sandro einem jener Männer gegenüber, die vor einiger Zeit einen roten Stöckelschuh in ihrem Briefkasten gefunden haben und sich angeblich den Grund dafür nicht erklären können. Klaus Tanner ist nicht allein, rechts von ihm hat seine Freundin Platz genommen, er hat darauf bestanden, dass sie dabeibleibt, auch wenn Sandro ihn lieber unter vier Augen gesprochen hätte. Klaus Tanner ist ein Brocken von einem Menschen, seine Freundin Marlene hingegen ist schmal und unscheinbar, sodass man beinahe vergisst, dass sie da ist, solange sie nichts sagt. Doch hin und wieder murmelt sie ein leises, zustimmendes »Mmmh«, mit dem sie sich wieder in Erinnerung ruft.

Sandro führt mit Tanner beinahe dasselbe Gespräch wie sein Kollege Bernard Blanc mit Peter Bannholzer, und er findet ähnlich wenig dabei heraus. Auch Tanner kann laut eigener Aussage mit den Namen der anderen Männer nichts anfangen. Es scheint auch hier keine Verbindung zu geben. Einen Unterschied gibt es aber doch; Tanner ist Sandro nicht unsympathisch. Er scheint sich ehrlich zu bemühen herauszufinden, wer ihm nicht gut gesinnt ist.

»Wir haben gesehen, dass Sie vorbestraft sind.« Sandro bemüht sich um einen möglichst neutralen Ton.

»Das ist korrekt. Ich bin nicht stolz darauf, aber mein Geschäft lief nicht immer gut, die Delikte sind aus der Not heraus entstanden.«

»Sie sind Transportunternehmer?«

»Ja, mit einer eigenen Firma.«

»Wie läuft es denn im Moment?«

»Besser. Aber wie gesagt, es waren harte Zeiten, das ging anderen ja ebenso.«

»Die zwei Schuldsprüche vor Gericht – gab es weitere Strafverfahren, an denen Sie beteiligt waren?«

Klaus Tanner zögert, er blickt zu Marlene, sie umfasst mit ihrer Hand die seine, als wolle sie ihm Mut machen.

»Es gab da noch etwas.«

Sandro wartet. Aber Tanner scheint sich nicht überwinden zu können.

»Ich bin nicht da, um Sie zu verurteilen«, versichert ihm Sandro deshalb.

»Es gab eine Frau in meiner Vergangenheit, die mir nichts Gutes wollte. Sie hat behauptet, dass ich sie vergewaltigt habe.«

»Aber Sie wurden freigesprochen?« Sandros Puls beschleunigt sich. Endlich kommen sie der Sache näher.

»Ja. Weil ich es nicht gewesen bin. Ich habe der Frau nichts getan.«

»Sie kannten sie?«

»Ja, wir haben uns ein paar Mal getroffen, aber mir war schnell klar, dass das nichts Ernsthaftes ist. Sie sah das anders. Sie wollte mein Nein nicht akzeptieren. Nachdem ich sie verlassen hatte, flatterte dann die Anzeige bei mir rein.«

Sandro macht sich hastig einige Notizen. »Wie hieß die Frau?«

»Anna-Barbara Grünig.«

»Wie lange ist das her?«

»Zwei Jahre? Nein, wohl noch nicht ganz, aber eineinhalb Jahre wird es her sein.«

»Denken Sie, dass sie Ihnen den Schuh ins Paketfach gelegt haben könnte?«

»Das würde zu Anna-Barbara passen. Aber ich bin ganz sicher, dass es nicht sie war.«

»Warum sind Sie da so sicher?«

»Sie ist tot. Seit vier Monaten. Ein Autounfall.«

Während Malou sich auf dem Polizeipräsidium von Annette Stern verabschiedet und dabei denkt, dass sie sie kaum wiedersehen wird, weil sie nicht Täterin, sondern Opfer ist, während Sandro den Namen Anna-Barbara Grünig in seinem Notizbuch wieder durchstreicht und während Bernard erleichtert die Tür zwischen sich und Peter Bannholzer schließt und angewidert feststellt, dass er nach diesem Besuch wie ein Aschenbecher riecht – während alldem steht Florence in einem Treppenhaus und verflucht ihren Job. Sie liebt es, in den digitalen Spuren von Menschen zu stöbern. Sie ist ein Genie darin, sich Zugang zu Daten zu verschaffen, zu denen niemand Zugang erhalten sollte. Sie ist begeistert, wenn sie jemanden austricksen und einen Trojaner installieren kann, womit sie auch intimste Einblicke in das Leben der Zielperson erhält, um sie damit schließlich zu überführen. All das macht ihren Beruf aus ihrer Sicht zum besten Beruf der Welt. Aber Florence hasst es, wenn sie in der Realworld mit analogen Menschen zu schaffen hat. Ganz besonders, wenn es Menschen sind, die sie nicht versteht. Wie viel einfacher es ist, digital und unerkannt zu Personen vorzudringen als von Angesicht zu Angesicht im direkten Gespräch.

Vor Florence steht Thomas Sahli in der offenen Wohnungstür und will sie nicht hineinlassen. Dabei sieht er gar nicht unfreundlich aus. Er wirkt noch sehr jung, wie ein zu groß geratenes Kind – im Moment allerdings gerade wie ein sehr unerzogenes, zu groß geratenes Kind.

»Ich will nicht mit Ihnen reden.« Sahli hält die Arme vor seiner Brust verschränkt und macht ein Gesicht, als wolle ihn jemand zwingen, vergorene Milch zu trinken.

»Warum nicht? Ich bin doch hier, um Ihnen zu helfen.«

»Ich rede nicht mit Ihnen, weil Sie eine Frau sind.«

»Echt jetzt?« Florence kann es nicht fassen. Einen kurzen Moment lang fragt sie sich, ob ihre Kollegen ihr gerade einen Streich spielen und hier irgendwo eine versteckte Kamera installiert ist. Unweigerlich schaut sie sich um. Da sind keine Kameras.

»Sie wollen nicht mit mir reden, weil ich eine Frau bin? Wenn ich jetzt ein Polizist wäre, dann würden Sie mit mir sprechen?«

»Ja.«

»Aber nicht mit einer Frau?«

»Nein.«

»Aus religiösen Gründen?«

»Nein.«

»Warum denn dann?«

»Weil ich grundsätzlich nicht mit Frauen rede.«

»Aber mit meiner Kollegin haben Sie doch auch gesprochen.«

»Das ging da grad nicht anders. Und das war nur am Telefon.«

»Und übrigens sprechen Sie jetzt schon etwa seit fünf Minuten mit mir.« Allerdings ohne etwas zu sagen, denkt Florence genervt. »Ich möchte Ihnen nur einige Fragen stellen, weil wir herausfinden wollen, wer Sie bedroht.«

»Können Sie nicht einen Kollegen vorbeischicken?«

Können schon, denkt Florence, nur von wollen kann keine Rede sein. Es ist ihr zwar bewusst, dass das hier nichts bringen wird. Dass Aufgeben klüger wäre als Streiten. Aber es will ihr einfach nicht in den Kopf, dass ihr jemand das Gespräch verweigert, einzig aufgrund ihres Geschlechts. Wo leben wir hier eigentlich?

»Nein, kann ich nicht. Wenn Sie nicht bereit sind, hier mit mir zu sprechen, werde ich Sie aufs Präsidium vorladen.«

»Ich werde auch dort nicht mit einer Frau reden.«

»Um Himmels willen, was ist bloß los mit Ihnen?«

»Ich erachte Frauen nicht als adäquate Gesprächspartner. Ich möchte mich auf Augenhöhe mit einem gleichgearteten menschlichen Wesen unterhalten.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie mit mir nicht auf Augenhöhe sprechen können?«

»Nein, das geht nicht. Frauen sind Männern nicht ebenbürtig, das macht auch eine Polizeimarke nicht wett.«

Florence würde am liebsten laut herauslachen. Doch die Art und Weise, wie der junge Mann die Worte ausspricht, lässt sie innerlich gefrieren. So harmlos er gegen außen wirkt, so gefährlich ist seine innere Einstellung.

»Wissen Sie was?«, fragt sie auf einmal munter. »Ich will auch gar nicht mehr mit Ihnen reden. Mir doch egal, wenn Sie das nächste Mordopfer sind. Dann haben Sie sich das selbst zuzuschreiben.«

Sie kehrt dem überraschten Thomas Sahli den Rücken zu und steigt die Treppe hinab. Als sie die Haustür hinter sich schließt, weiß sie genau, was sie als Nächstes tun wird. Sie wird Thomas Sahli schon bald wieder einen Besuch abstatten, aber auf anderem Wege. Sie wird sich Zugang zu seinem Computer verschaffen und all das über ihn erfahren, was er ihr nun nicht sagen wollte. Florence zweifelt nicht daran, dass sie auf einige interessante Inhalte stoßen wird. Womöglich Inhalte mit strafrechtlicher Relevanz, so hofft sie. Dann könnte sie dieses kleine, arrogante, frauenverachtende Arschloch in die Mangel nehmen. Außer, der Mörder kommt ihr zuvor.