Über der Theke hängt ein ausgestopfter Stierkopf. Auch wenn das massige Tier bestimmt einst furchteinflößend gewesen sein muss, hat Milla jedes Mal Mitleid, wenn sie in die Kulleraugen des schwarzen Torro blickt, der das Markenzeichen der Galicia-Bar von Olten ist. Wahrscheinlich sind die Augen aus Plastik, denkt Milla, trotzdem verleihen sie dem präparierten Tierkopf einen traurigen Gesichtsausdruck. Neben dem Stier hängen so viele Bilder, dass die Wand dahinter unsichtbar geworden ist. Mehrere Industrielampen hängen von der Decke, das hellste Licht aber strahlt über dem Billardtisch, von woher auch die lautesten Stimmen herüberdringen. Milla hat in der Nische hinter der zweiten Glastür Platz genommen. Erstens, weil sie hier Nathaniel sofort kommen sieht und ihm entgegengehen kann, zweitens, weil es in der Nische keine unerwünschten Zuhörer gibt, wenn man etwas besprechen will, das nicht für fremde Ohren bestimmt ist. Zum Beispiel einen Undercovereinsatz für das Schweizer Fernsehen, ausgeführt von einem Blinden. Würde ihr Chef Wolfgang davon erfahren, würde er zuerst tot umfallen und sich danach im Sarg umdrehen.
Bevor Nathaniel in ihr Blickfeld tritt, taucht James hinter der Glasscheibe auf. Nathaniel hat darauf bestanden, dass sie sich direkt in der Bar treffen und sie ihn nicht am Bahnhof abholt. Jetzt aber springt Milla auf, um Nathaniel zu begrüßen und ihn an den Tisch in der Nische zu führen. James kläfft kurz, um Milla Hallo zu sagen – kein Vergleich zu dem Begrüßungstanz und dem Jaulgesang, die seine Vorgängerin Alisha veranstaltet hat. Es ist Milla gerade recht, dass sie nicht wie früher fünf Minuten lang warten muss, bis sich das Tier beruhigt hat und man sein eigenes Wort wieder versteht.
Als Milla für Nathaniel eine Cola, für sich ein Ginger Ale und für James einen Wassernapf geholt hat, erkundigt sie sich nach Silas.
»Wie geht es ihm?«
»Er ist tapfer. Er stellt tausend Fragen. Und natürlich ist er sehr traurig, aber er wird es schaffen.«
»Das wird er. Es war ein schönes Abschiedsfest, gestern.«
»Danke. Milla, ich muss zugeben, ich bin ziemlich nervös.« Nathaniel kommt gleich zur Sache. »Ich habe mir das letzte Nacht noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich nehme also an einem Pick-up-Kurs teil, der von einem Mann geleitet wird, der Frauen hasst, für Männer, die Frauen hassen. Ich frage mich, warum die dann überhaupt Frauen anmachen wollen. Die zweite Frage, die ich mir stelle: Wenn das Typen sind wie dieser Vogt … Ist es nicht gefährlich, wenn ich dort eine versteckte Kamera mit reinschmuggle? Ich will keine unnötigen Risiken eingehen. Silas darf nicht noch jemanden verlieren.«
Milla zögert. Sie ist hin- und hergerissen. Einerseits versteht sie Nathaniels Bedenken, andererseits glaubt sie nicht, dass er sich in Gefahr begibt. Täter wie Sascha Vogt sind selbst innerhalb der Incels krasse Ausnahmen. Und vor allem: Nathaniel ist ein Mann. Und keiner wird die Kamera entdecken. Also kann auch nichts passieren. Genau das sagt sie Nathaniel auch.
»Selbst wenn du auffliegen solltest, werden sie dir nichts tun. Sag einfach, du wolltest den Kurs aufzeichnen, weil du nichts aufschreiben kannst. Im Notfall händigst du ihnen die Speicherkarte aus. Deine Sicherheit hat Vorrang.«
Nathaniel muss lachen. »Ein Blinder, der für sich Videoaufnahmen macht, das werden sie mir garantiert abkaufen! Aber du hast recht, wahrscheinlich mache ich mir zu viele Sorgen. Es ist einfach einiges passiert. Ich mache mir mehr Gedanken, weil Silas außer mir nun niemanden mehr hat. Aber gut, ich werde das schon hinkriegen. Dann verstecken wir mal die Kamera, und du zeigst mir, wie sie funktioniert.«
In der Tat muss Nathaniel die Kamera gar nicht bedienen. Milla stellt das knopfgroße Gerät ein, die Batterie wird für mindestens zehn Stunden reichen, sie muss einzig noch eine unauffällige Stelle am Hemd finden, an der sie es befestigen kann.
»Darf ich dir den zweitobersten Hemdknopf abtrennen?«, fragt sie Nathaniel, der wie von ihr angewiesen im schwarzen Hemd erschienen ist.
»Wenn es nur der Hemdknopf ist …«
Milla säbelt den Knopf ab und befestigt an dessen Stelle mit einem Magneten die Kamera. Wenn man weiß, dass da auf Nathaniels Brust eine Kamera filmt, dann kann man sie schon als solche erkennen. Ist man aber ahnungslos, kommt man nicht darauf. Milla ist zufrieden.
»Die Undercover-Aktion kann beginnen.« Sie klopft Nathaniel auf die Schulter. Da fällt ihr etwas ein.
»Zeig mir rasch deine Hände.«
Nathaniel streckt die Arme aus.
»Du trägst einen Ehering«, stellt Milla überrascht fest.
»Der war, um den Schein der Scheinehe zu wahren.« Traurigkeit legt sich auf Nathaniels Stimme.
»Es tut mir leid, den musst du abstreifen, sonst gehst du nicht als Incel durch.«
»Es macht sowieso keinen Sinn mehr, ihn zu tragen.«
Nathaniel zieht am Ring, bringt ihn fast nicht über den Knöchel, zerrt daran und verzieht schmerzvoll das Gesicht, als er ihn endlich lösen kann. Er steckt den falschen Ehering ohne ein weiteres Wort in die Tasche seiner Jeans.
»Du solltest los, in zehn Minuten trefft ihr euch im Bahnhofbuffet.«
»Wenn das mal gut geht.« Nathaniel sagt es mit einem Grinsen, das Milla wissen lässt: Alles ist in Ordnung.
Sie begleitet ihn nach draußen und blickt ihm nach, als er mit James Richtung Bahnhof losmarschiert. Sie hofft, dass sie die Situation richtig einschätzt und ihn wirklich keiner Gefahr aussetzt.
Kaum ist Nathaniel aus ihrem Sichtfeld verschwunden, spielt ihr Handy den Eurythmics-Song. Die Nummer ist unterdrückt. Milla geht sofort ran.
»Nova«, sagt sie knapp.
»Guten Tag, Frau Nova. Ich habe eine Nachricht von Maria Kant erhalten. Sie sagt, Sie wollten mit mir sprechen?«
»Mit wem rede ich?«, fragt Milla nach.
»Mein Name tut nichts zur Sache. Ich bin der Incel, den Sie in Ihrem Beitrag haben möchten.«
Milla ist überrascht, wie klar und freundlich der Mann klingt. Sie weiß nicht warum, aber irgendwie hat sie einen minderintelligenten Pöbler erwartet und nicht jemanden, mit dem man sich vernünftig unterhalten kann.
»Sie wären bereit, mir Fragen zu beantworten?«
»Unter der Bedingung, dass meine Stimme verzerrt wird und mein Gesicht nicht erkennbar ist.«
»Das kann ich Ihnen zusichern.«
»Dann bin ich dazu bereit.«
Milla stutzt. Es geht zu einfach, und sie ist skeptisch.
»Warum sind Sie bereit, den Aufwand auf sich zu nehmen und mit mir zu sprechen?«, fragt sie deshalb direkt, wohlwissend, dass sie dadurch Gefahr läuft, den Mann zu vergrämen und den Interviewpartner gleich wieder zu verlieren.
»Weil ich will, dass die Leute wissen, dass es uns gibt. Dass wir diskriminiert werden. Dass wir zu Unrecht aus der Gesellschaft ausgeschlossen und in die Einsamkeit verbannt sind. Ich will uns eine Stimme geben – die Stimme, die wir verdient haben.«
»Sie selbst bezeichnen sich also als Incel, ist das korrekt?«
»Ich bin ein Incel, weil ich in unserer feministischen Gesellschaft dazu verdammt worden bin.«
Test bestanden, denkt Milla. »Ich würde Sie gerne interviewen, damit Sie Ihre Sicht der Dinge darlegen können. Mein Problem ist, dass der Beitrag bereits übermorgen eingeplant ist. Wann haben Sie Zeit für ein Treffen?«
Auf der anderen Seite bleibt es einen Moment lang still, wahrscheinlich checkt er seine Agenda.
»Sind Sie noch da?«, fragt er nach einer Weile.
»Ja.«
»Also, eigentlich geht es nur heute Nachmittag, sagen wir in einer Stunde?«
»Ich bin im Moment in Olten. Wo sind Sie?«
»In Bern.«
»Gut. Das schaffen wir. Ich bringe einen Kameramann mit. Ich schlage vor, wir treffen uns bei der Marzilibrücke an der Aare, ich kenne dort eine Stelle, die sich eignet, um ein anonymisiertes Interview zu drehen.«
»Einverstanden.«
Kaum hat Milla den Anruf beendet, stellt sie Ivans Nummer ein, um ihn zu bitten, sofort nach Bern zu fahren. Sie wird ihn vor Ort treffen, wahrscheinlich wird er etwas zu spät kommen, aber sie braucht sowieso vor dem Dreh noch Zeit für das Vorgespräch mit Mister Unbekannt.
Eine Stunde später stellt sich heraus, dass Mister Unbekannt nicht nur am Telefon total normal klingt, sondern dass er auch völlig normal aussieht. Warum er sich selbst angeblich als hässlich empfindet, ist Milla schleierhaft. Der Mann, der lässig an das Geländer der Marzilibrücke gelehnt auf sie wartet, ist etwa Mitte zwanzig, circa ein Meter siebzig groß, trägt dunkles, langes Haar, das Gesicht ist schmal geschnitten, seine Gestalt wirkt eher androgyn. Klar, er ist weder ein Muskelprotz noch durchtrainiert, aber er sieht nicht schlechter aus als die meisten Männer in dieser Stadt. Milla kann sich schwer vorstellen, dass jemand wie er unfreiwillig zölibatär lebt und das Gefühl haben muss zu vereinsamen. Aber die Selbstwahrnehmung ist selten deckungsgleich mit der Fremdwahrnehmung.
Allerdings erscheint Milla auffällig, dass der Mann ihr zur Begrüßung nicht die Hand reicht. Sie lässt ihre wieder sinken und tut es damit ab, dass seit der Pandemie nicht mehr alle den Handschlag mögen; zu große Virengefahr.
Milla erklärt dem Mann, dass sie für die Sendung Wochenthemen einen Hintergrundbeitrag über die Incel-Szene plane, hütet sich jedoch, die Stoßrichtung ihres Berichts zu erwähnen. Sie bleibt dabei, dass sie ihm als Vertreter der Szene eine Stimme geben will, damit die Zuschauer aus erster Hand zu hören kriegen, wie das Weltbild der Incels aussieht. Das ist nicht einmal gelogen. Sie will wirklich hören, was der Incel zu sagen hat – aber sie wird das Gesagte in ihrem Beitrag kritisch einordnen. Denn wenn sie eines nicht will, dann Menschen wie ihm unwidersprochen eine Plattform bieten.
Als Ivan eintrifft, übernimmt er für einen Moment das Zepter. Er setzt dem jungen Mann eine Perücke auf, damit er selbst von hinten nicht zu erkennen ist. Dann platziert er ihn so ans Flussufer, dass sein Kopf von hinten schräg in der Unschärfe gezeigt wird.
»Ich bin so weit«, verkündet Ivan schließlich.
Milla greift zum Mikrofon, schaltet es ein.
»Kann ich anfangen?«
»Kamera läuft.«
Milla beginnt mit ihren Fragen. Bereits als sie die erste Antwort hört, wird ihr klar, dass der Mann, der ihr gegenübersitzt, alles andere als normal ist. Er ist brandgefährlich.