43.

»Wer bist du?« Die Stimme schwebt unmittelbar vor Nathaniels Gesicht. Sie klingt männlich, eher hoch, gehört wahrscheinlich einer jüngeren Person.

»Ich bin Nathaniel.« Mist. Nathaniel würde sich am liebsten auf die Zunge beißen. »Ich meine, ich bin RAF

Milla hat ihm extra eingebläut, sich nicht mit dem richtigen Namen vorzustellen, und schon hat er sich verplappert. Fehler Nummer eins in der ersten Sekunde. »Die Buchstaben stehen für Rape all Femoids «, schiebt Nathaniel eifrig nach, um seinen Fauxpas wiedergutzumachen.

»Du bist RAF , der sich erst gestern angemeldet hat?«

»Ja, genau der. Du bist Mister Sinister?« Nathaniel ist froh, dass er sich wenigstens die unsinnigen Nicknames korrekt gemerkt hat.

»Ich bin Mister Sinister, richtig, der Pick-up-Artist.«

Mehr sagt er nicht. Es folgt ein Schweigen, das Nathaniel bestens kennt; der Moment, wenn ihn sein Gegenüber von oben bis unten mustert. Die Leute meinen, er merke es nicht, wenn sie ihn anstarren. Dabei fühlen sich die prüfenden Blicke an wie kleine, unangenehme Stiche.

»Du bist blind?«

Hundert Punkte für den Kandidaten, denkt Nathaniel. Gleichzeitig fragt er sich, ob Milla vergessen hat, Mister Sinister gegenüber zu erwähnen, dass RAF blind ist. Fehler Nummer zwei geht auf ihre Rechnung.

»Kann man das nicht sehen ?«, fragt er zurück, weil ihm nichts Besseres einfällt.

Mister Sinister beginnt zu kichern wie ein kleiner Junge.

»Guter Witz, haha! Der hat gesessen.«

Nathaniel hatte nicht die Absicht, einen Witz zu reißen. Er weiß, dass man ihm die Blindheit ansieht, anders als manchen blinden Kollegen, deren Augen ganz normal aussehen. Seine Augen wurden durch einen Kopfschuss unwiederbringlich zerstört; seither ist das eine immer halb geschlossen, während das andere tot ins Leere blickt.

»Warum hast du nicht geschrieben, dass du blind bist?«

Milla hat Mister Sinister die Information tatsächlich unterschlagen. Nathaniel muss improvisieren.

»Ich hatte Angst, dass ich als Blinder nicht mitmachen darf.«

Ein Schlag trifft ihn unvermittelt auf der Schulter. Er fährt erschrocken zusammen. Nathaniel hat den Arm von Mister Sinister nicht kommen hören.

»Du arme Sau!« Noch einmal klopft er Nathaniel allzu kräftig auf die Schulter. »Kein Wunder, dass du ein Incel bist. Ein klassischer Omega-Mann. Genetischer Müll. Ich will mal nicht so sein, du kannst mitmachen, aber zaubern kann ich nicht. Ich glaube kaum, dass für dich noch was zu retten ist.«

Mister Sinisters Worte fühlen sich an wie Ohrfeigen. Nathaniel weiß zwar nicht, was mit Omega-Mann genau gemeint ist, genetischer Müll hingegen war unmissverständlich. Er spürt seinen Augenwinkel zucken. Es ist nur eine Frage von Sekunden, bis er explodiert. Die Zeiten, als er Beleidigungen still geschluckt hat, sind schon lange vorbei. Doch er darf seinen Auftritt hier nicht gleich zu Beginn vermasseln. Nathaniel ruft sich das Gespräch mit Milla in Erinnerung, die ihm erzählt hat, dass sich Incels selbst hässlich und erbärmlich finden und sich gegenseitig noch kleiner machen. Er muss sich zusammenreißen. Nathaniel schluckt hörbar und hofft, dass ihm Mister Sinister seine Wut nicht ansieht. Er reibt sich die Augen, als müsse er sich Tränen wegwischen.

»Ich möchte es trotzdem versuchen. Auch ich habe ein Recht auf Sex mit den ganzen Schlampen. Das steht mir zu, selbst wenn ich blind bin.«

Ein naturgegebenes Recht, hatte Milla erklärt, daran glauben die Incels tatsächlich. Hätte jemand Nathaniel vorhergesagt, dass er dereinst einen solch abartigen Mist erzählen würde, er hätte die Person ausgelacht. Er kann nur hoffen, dass er heute Nachmittag niemandem begegnet, der ihn kennt.

»Bitte lass mich am Kurs teilnehmen. Ich hatte noch gar nie Sex. Ich habe noch nicht mal eine Femoid geküsst.«

Nathaniel findet, seine Lügen klingen echt. Er sagt sich, dass er hier Theater spielt, und zwar den Part des einsamen, gekränkten und gehemmten Einzelgängers ohne Sozialkompetenz, der noch nie eine Frau berührt hat. Zumindest Letzteres stimmte bis vor Kurzem sogar.

»Nun gut, versuchen wir’s mal – auch wenn du der erste Blinde wärst, der eine Bitch abkriegt«, sagt Mister Sinister abschätzig, bevor er sich wegdreht.

Nathaniel hört, wie er jemanden begrüßt, nach und nach treffen weitere Teilnehmer des Pick-up-Kurses ein. Heute wünschte sich Nathaniel eine kleine Fee, die auf seiner Schulter sitzen und ihm beschreiben würde, wie seine Kontrahenten aussehen und ob sie wirklich so hässlich sind, wie sie selbst meinen. Die Fee würde Nathaniel zuflüstern, dass dies nicht der Fall ist. Die jungen Männer, die sich für den Pick-up-Kurs angemeldet haben, in der Hoffnung, doch mal eine Frau ins Bett zu kriegen, sehen aus wie viele Männer in diesem Alter auch. Vielleicht sind sie etwas blasser, weil sie die meiste Zeit allein in ihrem Zimmer vor dem Computer sitzen, womöglich sind sie nicht ganz so modisch gekleidet, und vielleicht sind sie auch etwas kleiner oder dicker oder schlaksiger als der gestylte Jugendliche aus der Talent-Show im TV . Aber eines sind sie alle nicht: hässlich oder unansehnlich.

»Dein Handgelenk? Vierzehn Zentimeter?«, hört Nathaniel Mister Sinister fragen. »Scheiße, du bist ein verdammter Wristcel. Der durchschnittliche Umfang eines männlichen Handgelenks liegt bei über achtzehn Zentimetern. Du liegst im Bereich einer Femoid! Du weißt schon, dass du damit auch den Muskelaufbau vergessen kannst, da hilft das strengste Training nichts.«

Nathaniel findet es beinahe tröstlich, dass nicht nur er die beleidigende Unfreundlichkeit des Kursleiters zu spüren bekommt. Aber ist es wirklich möglich, dass sich ein Mann hässlich findet, nur weil seine Handgelenke zu schmal sind? Und was haben schmale Handgelenke mit Muskelaufbau zu tun? Er wird Milla fragen müssen, was ein Wristcel ist. Bereits nach wenigen Minuten ist ihm klar, wie das System funktioniert und wie toxisch es sich auf die betroffenen Männer auswirkt: Ihnen wird in der Incel-Szene – dem einzigen Ort, wo sie sich aufgehoben und gehört fühlen – vermittelt, dass sie zu hässlich, zu klein, zu dünn, zu unattraktiv sind, genetischer Müll. Sodass ihr eh schon angeschlagenes Selbstvertrauen noch mehr Schaden nimmt – statt dass ihnen jemand sagen würde, dass sie eigentlich ganz normal sind.

»Blinder!«

Nathaniel will gerade widersprechen, dass auch er einen Namen habe. Er besinnt sich eines Besseren. Er will lieber mit Blinder als mit RAF angesprochen werden, und schon gar nicht mit seinem richtigen Vornamen.

»Komm her, wir setzen uns alle an einen Tisch, damit ich euch erklären kann, worum es geht.«

Mister Sinister beginnt das Seminar mit einem Monolog über das Dasein der Incels. Er erklärt, dass achtzig Prozent der Frauen ausschließlich mit zwanzig Prozent der Männer ins Bett steigen, den gut aussehenden, gutgebauten Chads, die dafür aber auch dumm und verblendet und gehirngewaschen sind. »Sie merken nicht, dass sie von den Femoids bloß ausgenützt werden.« Die restlichen achtzig Prozent der Männer würden deswegen praktisch leer ausgehen. »Es gibt vier Typen von Männern«, referiert Mister Sinister. »Es gibt Alphas, Betas, Gammas und Omegas.«

Nathaniel versucht, seinen Oberkörper in Richtung des Vortragenden auszurichten, damit die Kamera ihn auch wirklich einfängt. Zwei, drei Mal dreht er sich, um auch die Zuhörenden im Bild zu haben. Milla hat ihm erklärt, dass der kleine schwarze Knopf an seinem Hemd über ein Weitwinkelobjektiv verfügt, trotzdem befürchtet er, dass er auf der Aufnahme Mister Sinister womöglich den Kopf wegschneidet. Obwohl das, wie Nathaniel findet, kein Verlust wäre.

»Alphas und Betas machen jene zwanzig Prozent aus, die über achtzig Prozent der Frauen abkriegen. Gammas sind unattraktive und sozial inkompetente Männer, die keine oder nur hässliche, fette Femoids bekommen, die sowieso niemand will. Und ihr alle …«, Mister Sinister legt eine Spannungspause ein, »… seid ganz klar Omegas. Omegas haben die totale Arschkarte gezogen; ihr seid die absoluten Verlierer in unserer feministischen Gesellschaft.«

Nathaniel fragt sich, wo er hier bloß hineingeraten ist. Das Unwohlsein überträgt sich auf seinen Körper. Er merkt, dass er zu schwitzen beginnt.

»Omegas sind Incels und befinden sich in der Hierarchie der Männlichkeit auf der untersten Stufe, sowohl was Aussehen und Sexleben und Sozialisierung betrifft. Also im Keller. Es gibt keine Aufstiegsmöglichkeit. Das ist die Herausforderung eures Lebens. Auch dieser Kurs hier kann das nicht ändern, einmal ein Incel, immer ein Incel, aber ich kann euch mit ein paar Tricks, die wir heute lernen, das Leben etwas erträglicher machen. Beginnen wir mit der praktischen Übung.«

Die Aufgabe hat Mister Sinister schnell erklärt: Nathaniel und seine Mitstreiter müssen in einem Einkaufszentrum Frauen anquatschen.

»Wer am meisten Femoids anspricht, kriegt am meisten Striche. Wer die meisten Striche hat, ist eine Stufe weiter und kann zum halben Preis am Fortsetzungsabend teilnehmen. Dort werdet ihr lernen, wie man sich das Recht auf Sex nimmt, selbst wenn es einem niemand geben will.«

Nathaniel wiederholt Mister Sinisters letzten Satz in Gedanken. Er schaudert.

»Was ist, wenn ich weniger Frauen anspreche als andere, aber eine entscheidet sich, mit mir mitzugehen? Bin dann nicht ich der Gewinner?«, fragt eine dünne Männerstimme.

»Das wird nicht passieren«, antwortet Mister Sinister.

»Und wie genau sollen wir sie ansprechen?«, fragt ein anderer.

»Die wichtigste Regel lautet: Vergesst den Scheiß mit Komplimenten und Schmeicheleien – ihr müsst gegenüber Femoids nicht charmant sein, die stehen nicht auf Freundlichkeit. Geht die Femoid barsch an, stellt klar, dass ihr das Sagen habt, dass ihr allein bestimmt, wo es langgeht, eine andere Sprache versteht sie nicht.«

»Kannst du ein Beispiel bringen?«

»Klar, wie wäre es mit: ›Hey, Bitch, fett wie du aussiehst, sitzt du heut Abend bestimmt wieder allein zu Hause rum. Ich hab Mitleid. Geh mit mir aus, dann erlebst du die heißeste Nacht deines Lebens!‹«

Nathaniel verzieht das Gesicht, reißt sich in der gleichen Sekunde wieder zusammen, in der Hoffnung, dass ihn niemand angesehen hat.

»Echt jetzt?«, fragt die dünne Stimme.

»Natürlich. Merkt euch: Wenn ihr bei einer Femoid Erfolg haben wollt, müsst ihr drei Punkte erfüllen: Sei nicht hässlich, sei nicht farblos, sei nicht nerdig. Wenn ihr euch an diese Regeln haltet, kriegt ihr jedes Mal, wenn ihr einen Club betretet, gratis Sex.«

Die Männer um Mister Sinister bleiben stumm, weil sie glauben, dass sie alles, was sie nicht sein sollen, tatsächlich sind.

»Das Problem ist«, fährt Mister Sinister fort, »dass alle Incels blass, hässlich und nerdig sind. Ihr erfüllt alle Attribute, mit denen man auch den gruseligen Serienkiller beschreiben könnte.« Mister Sinister stößt ein gemeines Fauchen aus, bevor er in ein falsches Lachen ausbricht. »Darum: Vergesst das mit der Freundlichkeit. Incels kriegen Frauen so nicht rum. So ernten wir nur Ablehnung und Erniedrigung. Sind sie nicht nett zu uns, sind wir auch nicht nett zu ihnen.«

Wüsste Nathaniel es nicht besser, würde er denken, er sei in eine satirische Komödie geraten. Die Gedanken und Worte von Mister Sinister sind zu schräg und zu weltfremd und zu frauenverachtend, um real zu sein. Doch Nathaniel ist sich sicher, dass Mister Sinister keine filmreife Rolle spielt, sondern dass er genauso ist, wie er sich gibt. Seine Worte sind seine Überzeugung.

»Also, los geht’s, zeigen wir’s ihnen.« Mister Sinister klatscht in die Hände, wie ein Fußballtrainer, der sein Team kurz vor dem Anpfiff anspornt.

In den folgenden zwei Stunden schämt sich Nathaniel so sehr, wie nie zuvor in seinem Leben und hoffentlich nie wieder danach. Er fühlt sich völlig verloren, als er im Bereich der Kassen des Supermarktes steht, dessen Namen er schon wieder vergessen hat. Er hofft, dass er – wenn das hier mal vorüber ist – auch diese zwei Stunden so schnell wie möglich aus seiner Erinnerung verdrängen kann. Er wird Milla zwingen, dass sie diesen Teil der Filmaufnahmen sofort löscht, ohne sie sich anzuschauen. Peinlicher geht nicht mehr. Niemand darf zu Gesicht bekommen, was er hier gerade treibt. Am liebsten würde sich Nathaniel unsichtbar machen, oder sich im nächsten Kühlfach verstecken, oder sich nackt auf das Kassenband legen – alles wäre ihm lieber, als unter Beobachtung der Incels Frauen auf unflätige Weise anzubaggern.

»Hallo, darf ich dich was fragen?«, fragt Nathaniel, als er merkt, dass jemand auf ihn zutritt.

»Klar, brauchst du Hilfe?«, fragt eine Männerstimme zurück.

»Nein, entschuldige, ich dachte, du seist jemand anderes.«

Hinter sich hört Nathaniel hämisches Gekicher.

Nächster Versuch.

»Hallo, darf ich dich was fragen?«

»Ja, klar.« Dieses Mal antwortet eine Frau. Hohe Stimme. Eher jung.

»Willst du mit mir ausgehen?«

Nathaniel merkt, dass die Frau einen Schritt zurücktritt. Eine Sekunde lang fürchtet er, sie sage ja. Ein Ja aus Mitleid, das wäre nicht das erste Mal.

»Nein, entschuldige, ich habe schon einen Freund.«

Er hört, dass sie sich entfernt.

Nathaniel fährt zusammen, als er Mister Sinisters Stimme direkt neben seinem Ohr hört.

»Du bist viel zu nett! Sei aggressiv! Sie muss mit dir ausgehen, es ist keine Frage, ob sie will!«, zischt er ihm zu.

Nathaniel wird unsanft am Ellenbogen gepackt, Mister Sinister zerrt ihn nach rechts, stoppt, Nathaniel fühlt, dass jemand unmittelbar vor ihm steht.

»Hey, Chick, der Behindi hier will mit dir ins Bett!«, hört er Mister Sinister sagen. »Blinde sollen wahre Sexgötter sein!«

Nathaniel schießt alles Blut in den Kopf. Instinktiv will er die Flucht ergreifen. Er fasst das Geschirr von James fester, bereit wegzurennen, nur wohin, welche Richtung, wo ist der Ausgang?

»Nathaniel, was geht hier ab? Wer ist das? Was macht der Mann mit dir?«, fragt ihn eine Frau, deren Stimme er nur allzu gut kennt.

Nathaniel ist überzeugt, dass er noch in derselben Sekunde tot umfällt.