Der Mond steht voll am Himmel und macht die Nacht zu hell. Ich mag ihn nicht. Er peitscht mich auf, die Unruhe in mir wächst, rastlos meine Nervosität. Der Vollmond ist nicht das Einzige, das mich umtreibt. Meine Mission ist ins Stocken geraten. Vier Namen stehen noch auf meiner Liste, aber ich komme nicht weiter.
So wie’s aussieht, bin ich heute bereits zum zweiten Mal vergebens losgezogen. Klaus Tanner ist nicht zu Hause. Die Zeitung von heute steckt noch in seinem Briefkasten, er ist also gar nicht von der Arbeit zurückgekehrt. Wahrscheinlich hat ihm die Polizei geraten, das Weite zu suchen. Schlecht für mich. Wenigstens tut es gut zu wissen, dass sie sich fürchten. Sie sollen sich vor Angst in die Hose machen! Was ist das bisschen Furcht verglichen mit dem, was sie verursacht haben; Panik und Schmerz und Leid, ein Leid, das nie vorübergeht und immer in einem drinbleibt. Ich weiß das. Mein Vater weiß das. Und so viele andere, die durch die Hölle mussten.
Die Stadt ist leer, ihre Stille ein Versprechen. Am Ende der Nacht, kurz bevor der Tag beginnt, zieht sich selbst das Böse in seine Nischen zurück. Nur weit weg höre ich hin und wieder ein Auto einer anderen verlorenen Seele, die noch unterwegs ist. Die Nacht ist meine Freundin und war bisher eine verlässliche Komplizin. Aber jetzt ist alles kompliziert geworden. Ich muss meine Pläne ändern, wieder von vorne beginnen, erneut unsichtbar werden und beobachten und herausfinden, wann der richtige Augenblick gekommen ist. Und vor allem: Wo ich das Urteil vollstrecken kann.
Noch mache ich es nicht für mich, ich mache es für die anderen. Ich bin nur ein kleiner Stern im Universum der Ungerechtigkeit, das ist mir bewusst. Aber ein Stern ist besser als absolute Finsternis. Mein Vater hat mir mal eine Geschichte erzählt, damals, als ich noch ein Kind war, als er noch die schönen Geschichten erzählte und nicht die schlimmen. Sie drehte sich um einen kleinen Jungen am Strand, er nannte ihn Flo.
Es war die Stunde nach dem Sturm. Die Wellen schäumten und bäumten sich auf und warfen Seesterne ans Ufer. Seesterne sterben, sobald sie nicht mehr im Wasser sind, das wusste Flo, obwohl er noch keine neun Jahre alt war. Also hob er einen Seestern auf und warf ihn zurück ins Meer. Fand den nächsten und schleuderte ihn ebenfalls weit ins Wasser hinaus. Auch einen dritten hob er behutsam auf, um ihn dem Meer zurückzugeben. Bald rannte er den Strand entlang und versuchte einen Seestern nach dem anderen zu retten.
»Was machst du da?«, fragte plötzlich eine Stimme.
Flo hielt inne. Ein alter, schwerfälliger Mann stand vor ihm und schüttelte tadelnd den Kopf.
»Das bringt nichts, wenn du die ins Wasser wirfst, sieh doch, die Wellen spülen sie immer wieder an Land zurück.«
Jetzt war es Flo, der energisch den Kopf schüttelte. »Möglich, dass es manche Sterne zurück an Land spült. Aber wenn es ein einziger Seestern hinaus ins Meer schafft und überlebt, dann hat es sich schon gelohnt.«
Flo bückte sich, griff zum nächsten Seestern und ließ ihn zurück ins Leben fliegen.
Ich habe die Geschichte geliebt. Heute bin ich Flo. Ich weiß, ich kann nicht alle rächen, kann nicht wiedergutmachen, was geschehen ist. Aber wenn ich auch nur eine einzige weitere Tat verhindern kann, dann hat sich das alles gelohnt. Und zwar so was von!
Mit lautlosen Schritten mache ich mich auf den Nachhauseweg. Er führt mich über die Monbijoubrücke, kein Mensch ist zu sehen. Ich bin allein. Nur ich, eine winzige Person auf der hohen Brücke, die Aare in der Tiefe unter mir. Der Fluss ist ein breites schwarzes Band. Ich halte an, lausche dem unaufhaltsamen Strom. Wie beruhigend zu wissen, dass er schon floss, bevor es mich gab, und dass er noch immer fließen wird, wenn ich längst weg bin. Das Wasser als letztes Grab. Vor vielen Jahren hat die Stadt hier Netze montiert, um Selbstmörder am Springen zu hindern. Doch das stärkste Netz wird mich nicht fangen können, wenn es so weit ist.
Wie ferngesteuert schlage ich den immer gleichen Umweg ein. Obwohl ich gar nicht will, mache ich es trotzdem immer wieder. Wie um sicherzugehen, dass er noch da ist. Dass er nicht weggelaufen ist wie die anderen Feiglinge. Als ich vor dem alten Backsteinhaus stehe, schaue ich hoch zum dritten Stock. Das Fenster ein schwarzes Rechteck, vermutlich die Küche. Das Schlafzimmer wird auf den Innenhof ausgerichtet sein. Die Haustür liegt im Dunkeln, nur schemenhaft sind die Buchstaben auf den Klingelschildern zu erkennen. Doch seinen sehe ich sofort. Er ist noch da. Er ist nicht gewarnt. Sein Name steht auf keiner Liste. Der ist eingebrannt in meinem Kopf, unlöschbar. Er wird mein letztes Opfer sein. Ich atme ein. Drücke auf die Klingel, drücke so fest, dass der Finger schmerzt, zähle einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, ich muss mich zwingen fortzufahren, vierundzwanzig, fünfundzwanzig. Jetzt. Ich löse mich vom Klingelknopf und renne los. Drei Sekunden, und ich bin um die Hausecke verschwunden. Niemand hat mich gesehen. Ich hoffe, dass er nicht mehr in den Schlaf zurückfinden wird. Dass er nie mehr Ruhe finden wird.
Seine Nächte sind gezählt.