49.

Das ist die Verbindung, denkt Bettina. Vor ihr liegen die Fotografien von sechs Anklageschriften. Auf fünf davon findet sich am Ende die gleiche Unterschrift: In den Verfahren gegen Jürgen Bräutigam, Bendicht Kerner, Thomas Sahli, Klaus Tanner und Peter Bannholzer hat Staatsanwalt Kai Langenberger die Anklage vertreten. Einzig im Verfahren gegen den Bergführer Stephan Arnold, das in einem anderen Gerichtskreis geführt wurde, war Staatsanwalt Michel Grütter der Ankläger. Dass Langenberger in fünf der sechs Fälle verantwortlich zeichnete, ist an sich nichts Besonderes: Bevor er das Ressort seines Vorgängers Diego Lopez übernahm, der zum Generalstaatsanwalt befördert worden ist, war Langenberger auf Sexualdelikte spezialisiert. Im Normalfall würde sich Bettina also nicht viel dabei denken, wenn sie fünf Anklageschriften in der Hand hielte, die alle von ein und demselben Staatsanwalt verfasst worden sind. Aber das hier ist kein normaler Fall. Das hier scheint der Auftakt einer brutalen Mordserie zu sein, in der trotz intensiver Suche bislang kein Zusammenhang zwischen den Opfern zu erkennen war – bis jetzt. Jetzt gibt es eine Verbindung: Sie heißt Kai Langenberger.

Bettinas erster Impuls ist, ihn anzurufen. Vielleicht kann er sich daran erinnern, dass in seinen Verhandlungen mehrmals die gleiche Zuschauerin auftauchte. Womöglich ist ihm etwas aufgefallen, das diese fünf Verfahren auf andere Art und Weise miteinander verbindet. Doch ein diffuses Gefühl hindert Bettina daran, zum Hörer zu greifen. Was, wenn er selbst in die Sache verstrickt ist? Das ist zwar kaum denkbar, aber nicht unmöglich. Nichts ist unmöglich, wenn es um Mord und Totschlag geht, das hat Bettina längst gelernt.

Sie versucht, sich zu erinnern, wie sie an die Information über Bräutigams Freispruch gelangt sind. Was hatte Sandro gesagt? Der Hinweis kam von Kai Langenberger persönlich; er hatte sich an den ungewöhnlichen Familiennamen erinnert und Sandro darauf aufmerksam gemacht, dass er gegen Bräutigam wegen Vergewaltigung Anklage erhoben und den Prozess verloren habe. Hätte Langenberger etwas mit Bräutigams Tod zu tun, hätte er Sandro kaum von sich aus darauf hingewiesen, denkt Bettina. Aber warum hat er in den vier anderen Fällen geschwiegen? Weil er die weniger einprägsamen Namen vergessen hat? Oder weil er etwas vertuschen will? Weiß Langenberger mehr über die grausamen Taten, als er zugibt? Spielt der ermittelnde Staatsanwalt in diesem Fall eine Doppelrolle?

Bettina kommt allein nicht weiter. Die Sache ist zu groß. Sie muss mit Sandro darüber reden, und zwar sofort.

Ohne sich bei ihrem Chef anzumelden, klopft sie wenig später an seine Bürotür.

»Herein!«, hört sie Sandro rufen.

»Sandro, ich muss dir …«

Bettina bricht mitten im Satz ab, als sie realisiert, dass Sandro nicht allein ist. Zu ihrer Rechten hängt der forensische Psychiater Franz Maniuk gerade eine Jacke an den Haken, er wendet sich um und legt seine Akten auf den Besprechungstisch, an dem bereits Kai Langenberger sitzt. Ausgerechnet.

»Bettina, gut, dass du hier bist, hol dir einen Stuhl, ich bin froh, wenn du grad mithörst, was Franz Maniuks Analyse ergeben hat.«

Franz Maniuk hat sich durch alle Berichte und Protokolle gelesen, die bis jetzt verfügbar sind. Aufgrund der Tötungsmethode, der Inszenierung der Leichen, der wenigen Spuren am Tatort, der Auswahl der Opfer sowie der speziellen Drohung oder Warnung mit dem Stöckelschuh-Geschenk hat er ein psychologisches Profil der mutmaßlichen Täterschaft erstellt.

»Die Art und Weise, wie die ersten beiden Opfer umgebracht worden sind, sprechen ganz klar dafür, dass wir nach einer Frau suchen«, stellt Maniuk gleich zu Beginn klar. »Der gefundene Schuhabdruck am Tatort eins mag dies bestätigen, die psychologischen Spuren, welche die Täterin hinterlassen hat, sind aber noch eindeutiger. Die Vorgehensweise, einen Mann mit einem Taser außer Gefecht zu setzen, um ihm dann eine Giftspritze zu verabreichen, trägt eine klar weibliche Handschrift. Die Frau, die wir suchen, ist zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, womöglich bis zu vierzig Jahre alt – also im gleichen Altersspektrum wie ihre Opfer. Sie hat nicht die billigsten, doch günstige Schuhe gekauft, vor allem aber hat sie sie in Italien erworben, sie hielt sich in Venedig auf; ich schließe daraus, dass sie mindestens aus der Mittelschicht stammt und über ein geregeltes Einkommen verfügt. Ich vermute, dass sie in einem medizinischen Beruf tätig ist – sie muss Zugang zu Morphin haben und hat vermutlich Erfahrung mit Spritzen. Es ist trotz allem nicht einfach, einen Mann mit dem Taser in Schach zu halten und gleichzeitig innerhalb weniger Sekunden eine Spritze zu setzen, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Täterin verfügt über einen mittleren bis höheren Bildungsstand: Sie geht geschickt vor, hinterlässt keine Spuren – bis auf den Schuhabdruck – und scheint bislang auch keine Fehler begangen zu haben.«

»Falls der Schuhabdruck von ihr stammt«, wendet Sandro ein.

»Falls er von ihr stammt«, bestätigt Maniuk. »Zur psychiatrischen Komponente: Ich gehe davon aus, dass die Täterin aus Wut oder Rache handelt. Auf jeden Fall aus einem persönlichen Motiv heraus. Ich tippe auf eine Persönlichkeitsstörung mit mindestens narzisstischen Zügen und einer ausgeprägten Empathielosigkeit. Die Frau ist zutiefst verletzt worden und hat jetzt ihren Rachefeldzug gestartet – und zwar so, dass nicht nur wir, sondern jeder es mitbekommt: Sie würde die Leichen sonst nicht so inszenieren. Sie will, dass jeder weiß, dass sie am Werk ist. Kommen wir zur Schnabelmaske: Angeblich wurde sie im Mittelalter vom Pestdoktor getragen, auf jeden Fall steht sie symbolisch für die Pest. Das kann dahingehend gedeutet werden, dass die Täterin die Männer als eigentliche Pest betrachtet, wobei sich diese Haltung explizit auf ihre Opfer beziehen kann oder aber auf Männer im Allgemeinen.«

Bettina wirft unauffällig einen Blick auf Staatsanwalt Kai Langenberger, der den Ausführungen des Psychiaters gebannt folgt. Sie muss sich geirrt haben. Er weiß nichts. Auch kann er nicht der Täter sein, wenn Maniuk sich so sicher ist, dass es sich um eine Täterin handelt.

»Die Schuhe«, fährt Maniuk fort, »sind schon schwieriger zu deuten. Auch hier gehe ich davon aus, dass es sich um eine Gender-Angelegenheit handelt: Die Frau besiegt den Mann – die Schuhe sind das Zeichen für die weibliche Überlegenheit, den weiblichen Sieg. Womöglich ist es auch ein Versuch, den Mann als lächerlich und schwach darzustellen.«

»Und die Socke über dem Penis?«, fragt Sandro.

»Gehört ins gleiche Kapitel: Das Körperteil, das für Manneskraft steht, wird nicht nur abgedeckt, versteckt, sondern auch mit der Kindersocke als klein und lächerlich dargestellt. Es kann aber auch darauf hindeuten, dass die Täterin Traumatisches erlebt hat, vielleicht ist auch sie ein Opfer einer Vergewaltigung gewesen. Selbst wenn sie keinen direkten Bezug zu den Opfern gehabt haben sollte, kann sie sich doch stellvertretend an ihnen gerächt haben. Es geht auf jeden Fall um Rache und Strafe. Um ehrlich zu sein: Für mich ist Annette Stern, die Bräutigam der Vergewaltigung bezichtigt hat, noch immer hochverdächtig. Sie entspricht genau dem Profil.«

»Sogar die Schuhgröße passt«, murmelt Bettina.

Sie weiß, jetzt wäre der Moment, ihre neuesten Erkenntnisse zu präsentieren. Mitzuteilen, dass fünf der getöteten oder bedrohten Opfer tatsächlich alle wegen eines Sexualdeliktes vor einem Richter gestanden haben – und freigesprochen worden sind. Aber es geht nicht. Nicht, solange Kai Langenberger mit am Tisch sitzt.

»Was ist mit dem Bergführer?«, fragt sie stattdessen.

»Ich vermute, dass wir es im Fall Arnold mit einer anderen Täterschaft zu tun haben«, sagt Franz Maniuk.

»Weil er erschossen wurde?«

»Nicht nur. Die veränderte Tötungsmethode könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass die Täterschaft gestört worden ist. Die Frage, die ich mir trotzdem stelle: Warum hat sie nicht schon früher zur Pistole gegriffen, was eine viel einfachere Art ist, um jemanden zu töten? Wenn du jemandem eine Spritze setzt und das Gift in ihn hineindrückst, ist das eine intime Art des Tötens; du kommst dem Opfer dabei sehr nahe, berührst es, du spürst den Tod. Mit der Pistole ist es ein Töten auf Distanz. Doch es sind vor allem auch die anderen Punkte, die für eine zweite Täterschaft sprechen.«

»Welche konkret?«

»Das Opfer trug keine Maske. Sein Penis steckte in einer anderen Socke. Eine schwarze Herrensocke. Das ist nicht die Sprache unserer Täterin, die in den beiden Fällen zuvor so viel Wert aufs Detail gelegt hat.«

»Das Problem ist, dass niemand davon gewusst haben kann, weder von der Socke noch von den Stöckelschuhen an den Füßen der Toten. Es kann kein Nachahmungstäter gewesen sein«, hält Sandro entgegen.

»Irgendwer hat geplaudert.« Es ist das erste Mal, dass Kai Langenberger das Wort ergreift. »Ich finde deine Analyse sehr schlüssig, Franz, auch ich vermute, dass wir nach zwei verschiedenen Personen suchen. Wie hoch schätzt du die Gefahr ein, dass die Täterin wieder zuschlagen wird?«

»Als sehr hoch. Sie wird es erneut versuchen, und zwar bald. Ich hoffe, dass sich alle potenziellen Opfer gemeldet haben und nicht noch weitere Männer ahnungslos ins Visier einer Mörderin geraten sind.«

»Wir müssen alles dransetzen, ihr zuvorzukommen.« Kai Langenberger sagt es in einer Entschlossenheit, die Bettina ihre Zweifel an seiner Integrität lächerlich erscheinen lässt.

»Es tut mir leid, ich muss hier abbrechen, die nächste Sitzung wartet«, sagt Sandro. »Vielen Dank, Franz.«

Damit ist die Besprechung beendet. Sandro steht auf, greift zum Handy und steht schon in der Tür, als er sich noch einmal zu Bettina umdreht.

»Bettina?«

»Ja?«

»Du wolltest mir doch etwas sagen?«

»Ach …« Bettina blickt auf Maniuk und Langenberger, die noch immer am Tisch sitzen und miteinander reden. »Ich weiß nicht mehr, was es war, wird wohl nicht wichtig gewesen sein.«

Das Lügen fällt ihr von Mal zu Mal leichter, stellt Bettina fest. Sie lügt mittlerweile so gut, sie würde sich selbst Glauben schenken.