»Du … machst … was?«
Gundula klingt, als würde sie in Großbuchstaben sprechen, mit Wörtern, die durch Gedankenstriche statt durch Leerschläge getrennt sind. Im Hintergrund zwitschern die Vögel in ihren Käfigen. Trotz ihres Flairs für Reptilien verkauft Gundula in ihrer Zoohandlung alle Arten von Kleintieren. Ein Papagei krächzt Nathaniel unangenehm laut ins Ohr.
»Ich muss das machen, es ist wichtig, diese Menschen müssen gestoppt werden.«
Nathaniel findet, er hört sich wie ein Schuljunge an, der sich rechtfertigen muss, obwohl es nichts zu rechtfertigen gibt. Zumindest aus seiner Sicht. Vielleicht hätte er besser einfach nichts gesagt – aber er kann Gundula nicht darum bitten, nach Silas zu schauen, und ihr nicht erklären, warum sie für ihn einspringen muss. Schon klar, dass sein Unterfangen in ihren Ohren etwas eigenartig klingen muss. Er hat sich nämlich trotz Millas klarem Nein dazu entschieden, Mister Sinisters Einladung an- und an seinem Vortrag teilzunehmen, den er heute vor seinen Incel-Genossen führen wird. Was hat er schon zu verlieren, abgesehen von einem freien Abend und womöglich ein paar Nerven? Zu gewinnen gibt es für Nathaniel freilich auch nicht viel, aber wenn alles klappt, wird er ein paar Bilder aufnehmen können, die bestenfalls dazu führen, dass Mister Sinisters Machenschaften ein für alle Mal unterbunden werden. Sollte das gelingen, hätte sich sein Einsatz mehr als gelohnt. Milla wird sich nicht mehr sperren, wenn sie die Aufnahmen erst in den Händen hat, und falls doch, wird er damit direkt zur Polizei gehen.
Nathaniel versteht durchaus, dass es für Gundula nicht ganz einfach ist, ihren Freund zu einem Vortrag fahren zu lassen, der sich darum dreht, wie man Frauen zum Geschlechtsverkehr zwingt. Aber er macht das schließlich nicht für seine persönliche Weiterbildung.
»Ich begreife nicht, was diese Incels wollen: Einerseits hassen sie Frauen, andererseits wollen sie unbedingt eine abkriegen, das versteht doch kein Mensch«, meint Gundula. »Du sagst, auch der Attentäter war ein Incel?«
»Ja, er hat in den Foren verkehrt, zu denen man nur Zutritt hat, wenn man ein Incel ist. Dort wird er im Moment auch wie ein Held gefeiert.«
»Das ist widerlich. Er ist also nicht eine einmalige Ausnahme, es gibt weitere Typen, die so denken wie er?«
»Ich fürchte, mehr als uns lieb ist.«
»Und du hilfst Milla, das aufzudecken – obwohl es für dich mit einigen Peinlichkeiten verbunden ist.«
Nathaniel hört Gundula an, dass sie schmunzelt. Er hat ihr – wohlweislich ohne zu sehr ins Detail zu gehen – erzählt, dass er seiner Arbeitskollegin im Supermarkt begegnet ist, in dem er einen Kurs der Incels absolviert hat.
»Ja. Heute geht Millas Beitrag über den Sender. Wenn der Vortrag etwas hergibt, kann sie das Thema nächste Woche noch mal aufgreifen.«
»Okay, ich sehe ein, dass es wichtig ist. Mir ist auch klar, dass du da nicht aus persönlichem Interesse hinfährst. Wer weiß besser als ich, dass du keine Anleitung dafür brauchst, wie man Frauen ins Bett kriegt.« Gundula lacht jetzt laut. »Ich finde, du bist darin geradezu ein Weltmeister.«
Nathaniel atmet beruhigt auf. Gundula ist nicht mehr sauer, und er hört auch noch etwas anderes in ihrer Stimme, etwas Vielversprechendes. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie in der kleinen Kammer hinter dem Vorhang, die sie ihr Büro nennt, übereinander herfallen würden. Es scheint für sie beide einen besonderen Reiz zu haben, mitten in der Tierhandlung mit der Geräuschkulisse eines kleinen Dschungels und mit einigen tierischen Beobachtern Sex zu haben. Nathaniel verspürt sofort Lust, aber er hat keine Zeit. Er muss los, wenn er rechtzeitig zur Veranstaltung kommen will. Er sieht darum über die Andeutung in Gundulas Stimme hinweg.
»Könntest du mir mit der Kamera helfen?«
»Du musst schon los?«
»Leider.«
»Also gut.«
Nathaniel drückt Gundula die Kamera in die Hand. Es ist nicht Millas Knopfkamera, die hat sie wieder mitgenommen, sondern seine eigene Mini-Kamera, die er einst für versteckte Aufnahmen in einer Klinik für Medikamententests an Menschen beschafft hatte.
»Kannst du mir sagen, ob sie eingeschaltet ist?«
»Sie ist ausgeschaltet.«
Nathaniel tastet nach dem winzigen Schalter, schiebt ihn nach rechts.
»Jetzt nimmt sie auf?«
»Ja.«
»Die Batterie ist geladen?«
Wieder prüft Gundula das Display eingehend.
»Voll geladen.«
»Danke.«
Nathaniel klippt sich die Kamera an den Hemdkragen.
»So willst du losgehen?«, fragt Gundula.
»Zu auffällig?«
»Viel zu auffällig.«
Gundula entfernt die Kamera von Nathaniels Kragen, mustert ihn von oben bis unten und entschließt sich, die Kamera an jener Stelle am Hemd zu befestigen, wo ein Knopf fehlt.
»So sollte es gehen. Schwarz auf schwarz. Wenn man nicht explizit nach einer Kamera sucht, fällt sie so niemandem auf. Viel Glück, mein Undercover-Agent!« Gundula küsst Nathaniel zärtlich auf den Mund. »Pass auf dich auf.«
»Immer. Und sonst wird mich James beschützen. Wo steckt er eigentlich?«
»Er flirtet mit Churchill.«
Churchill, das Chinchilla, das Gundula schon x-mal hätte verkaufen können und es dennoch nie weggegeben hat. James düst stets schnurstracks in die Ecke mit Churchills Käfig, kaum haben sie Gundulas Zoohandlung betreten. Dort sitzt er dann, um das graue Knäuel pausenlos anzustarren, fast so, als hätte Churchill ihn hypnotisiert.
»James!«, ruft Nathaniel.
James denkt nicht daran, sich von Churchill zu verabschieden. Also geht Gundula zu ihm hinüber und zerrt ihn am Geschirr zurück zu seinem Chef.
»Ich bin nicht sicher, ob er dich beschützen könnte. Er hat noch viel zu lernen. Aber hoffen wir mal das Beste.« Gundula sagt es mit einem Schmunzeln, bevor sie sich von Nathaniel und seinem noch nicht allzu folgsamen Blindenhund verabschiedet.
Die Anreise dauert eine Dreiviertelstunde. Nathaniel hat die Adresse des Veranstaltungsortes in seine Navigations-App eingegeben und steht nun vor einem Gebäude in einem abgelegenen Quartier der Stadt Olten, ohne den Eingang zu finden.
»James, ricerca, wo ist die Tür?«
Erst, als ein weiterer Teilnehmer auftaucht, löst sich das Rätsel. Der Eingang ist nicht eine Tür, sondern ein riesiges Schiebetor, das James nicht als solches erkannt hat. Das Lokal, in dem Mister Sinister seine Weisheiten von sich geben wird, ist nicht ein Veranstaltungssaal, das merkt Nathaniel sofort, sondern wohl eine Art Lagerhalle, in der es nach Staub, Gummi, Öl und nach Benzin riecht und in der die Worte von den Wänden widerhallen.
Nathaniel hält sich an den Mann, der ihm den Eingang gezeigt hat. Sie haben sich nicht namentlich vorgestellt, aber der Fremde hat ihm seinen Ellenbogen angeboten, ihn hineingeführt und ihm schließlich auch einen Stuhl aus Stoff, wahrscheinlich ein Campingstuhl, in die Kniekehlen geschoben. Den Stimmen nach zu urteilen sind nicht viele Leute hier, wenn’s hochkommt, ein Dutzend.
»Wie viele Leute sind denn da?«, fragt Nathaniel seinen unbekannten Begleiter.
»Neun, oder zehn, wenn du den Redner mitzählst.«
»Alles Männer?«
Das Zögern seines Gegenübers zeigt Nathaniel, dass das eine unkluge Frage war.
»Ich meinte, alles junge Männer oder sind auch ältere dabei?«
»Ich denke, du bist der älteste.«
Der Mann lacht. Nathaniel verzieht die Mundwinkel, aber ein Lächeln will ihm nicht gelingen. In dem Moment macht sich Nathaniels Handy bemerkbar. Die automatisierte Frauenstimme teilt ihm mit: »Milla ruft an! Milla ruft an!« Hastig sucht Nathaniel nach dem Gerät und schaltet den Ton aus.
»Eine Femoid ruft dich an?«, fragt sein Sitznachbar überrascht.
»Meine Schwester«, erwidert Nathaniel rasch. »Diese Nervensäge«, schiebt er nach, um seine Lüge möglichst glaubwürdig klingen zu lassen.
»Ach so. Um zu deiner Frage zurückzukommen: Die Jungs hier sind alle etwa zwischen zwanzig und vierzig, also ziemlich durchmischt, würd ich sagen.«
Wer alles mit ihm im Publikum sitzt, erfährt Nathaniel wenig später von Mister Sinister persönlich.
»Hallo Incels! Ich begrüße euch zu unserem heutigen Fortbildungsanlass. Ich sehe: Ich stehe vor einer Runde erstklassiger Verlierer. Omegas, so weit das Auge reicht. Gut, dass ihr hier seid. Denn freiwillig werdet ihr nie kriegen, was euch zusteht. Ich lehre euch heute, wie ihr es schafft, eine Frau so zu beeinflussen, dass sie am Ende trotzdem mit euch geht – und wenn nicht, wie ihr euer Recht auf Sex einfordern könnt, und was es dabei zu beachten gibt.«
Nathaniel wird bereits übel. Er findet den Typen zum Kotzen. Gleichzeitig ist ihm bewusst, wie wichtig seine Aufgabe ist: Er muss das hier dokumentieren, es darf nicht im Verborgenen bleiben. Am liebsten würde er aufstehen, um sicherzugehen, dass Mister Sinister von der Kamera eingefangen wird. Aber das wäre zu riskant.
»Bevor ich mit meinem Exkurs beginne, wollen wir uns aber erheben und unserem Bruder Blackpill95 danken«, sagt Mister Sinister im selben Moment mit bedeutungsschwerer Stimme. »Er ist für uns aufgestanden und hat sich gegen Feministinnen gewehrt. Er hat Femoids ausgelöscht und sich zum Helden gemacht.«
Stühle werden gerückt, zustimmendes Raunen ertönt. Die Männer um Nathaniel herum stehen auf. Er will sich nicht erheben, er will um keinen Preis aufstehen, nicht für den Menschen, der Carole getötet hat, und doch zwingt sich Nathaniel, es zu tun. Er kann nicht nicht aufstehen und als Einziger sitzen bleiben. Er fühlt sich schrecklich und schämt sich vor sich selbst.
»Aber das«, bellt Mister Sinister in den Raum, »das war erst der Anfang!«
Er klingt ein bisschen wie Hitler, denkt Nathaniel. Sein Instinkt und jede Faser seines Körpers will nur noch eines: Raus hier. Doch er bleibt.
»Ihr könnt euch wieder setzen. Ich freue mich, hier ankündigen zu können, dass bald etwas Großes passieren wird. Jeder wird von uns reden, wir werden Helden sein, weil wir die feministische Weltordnung stürzen. Hunderte Frauen werden sterben! Nichts mehr wird sein wie zuvor! Wir werden endlich bekommen, was uns zusteht. Wir werden nicht länger Incels sein, weil die Zeit der Chads und Femoids abgelaufen ist. Wir – werden – siegen!«
Wo bin ich hier hineingeraten?, fragt sich Nathaniel, der sich so klein wie möglich macht. Hat Mister Sinister gerade den nächsten Terroranschlag auf Frauen angekündigt? Nathaniel merkt, dass er zittert. Er muss sich zusammenreißen. Als ob nichts gewesen wäre, fährt Mister Sinister mit allgemeinem misogynem Geplänkel fort, das Nathaniel schon vom Vortag kennt. Er referiert über Chads und über Femoids, über Alphas und Omegas und das Leben als Verlierer. Nathaniel mag es nicht mehr hören, er denkt sich weg, sodass die Worte an ihm abprallen, bevor sie in seinem Hirn ankommen. Ich muss die Polizei einschalten, denkt er verzweifelt. Am besten sofort, aber das geht nicht. Er wird unmittelbar nach der Veranstaltung mit Sandro Kontakt aufnehmen. Nur: Was soll er ihm sagen? Mister Sinister hat weder verraten, wann noch wo ein Attentat geplant ist.
Plötzlich stellt Nathaniel fest, dass sich etwas verändert im Raum um ihn herum. Mister Sinister spricht nicht mehr laut, sondern flüstert mit jemandem. Im Publikum macht sich Unruhe breit.
»Was ist los?«, fragt Nathaniel seinen Sitznachbarn.
»Keine Ahnung, da ist wer auf die Bühne gegangen. Scheint was passiert zu sein.«
»Wir machen fünf Minuten Pause«, verkündet Mister Sinister in dem Moment. Anschließend ist nichts mehr von ihm zu hören, er scheint den Raum verlassen zu haben.
Die Pause dauert länger als vorgesehen. Die Leute um Nathaniel sind aufgestanden, manche haben sich nach draußen begeben. Auch er erhebt sich, damit James rasch seine Blase erleichtern kann. Er wird es schon mitkriegen, wenn es drinnen weitergeht. Kaum betritt Nathaniel den Vorplatz, tritt jemand an ihn heran.
»Wie alt ist er denn?«
»James? Noch nicht ganz ein Jahr alt.«
»Was bist du denn für ein schöner Kerl.« Die Stimme kommt jetzt von unten, der Mann ist anscheinend in die Hocke gegangen und streichelt James, Nathaniel hört, dass das Geschirr bewegt wird.
»Darf ich mal fühlen, wie das ist, wenn der Hund dich führt?«, fragt ein anderer Mann.
»Lieber nicht …« Bevor Nathaniel zu Ende gesprochen hat, wird ihm das Geschirr aus der Hand genommen und James von ihm weggezogen. In der gleichen Sekunde realisiert er, dass jemand hinter ihm steht, zu nah, schon wird er gepackt, seine Arme werden nach hinten gerissen und ihm auf den Rücken gepresst.
»Komm Blinder, wir haben etwas zu besprechen«, sagt Mister Sinister übertrieben freundlich, gleichzeitig klingt er, als würde er die Zähne aufeinanderpressen. Er schubst Nathaniel vor sich her, sodass er beinahe ins Stolpern gerät. Alles geht so schnell, dass Nathaniel im ersten Moment gar nicht reagieren kann.
»Lasst mich!«, ruft er, als er sich wieder gefasst hat. Er wird von draußen in einen Raum geführt, nicht derselbe wie vorher, er ist kleiner und riecht anders.
»Schnauze halten, du Scheißverräter!« Die aufgesetzte Freundlichkeit ist aus Mister Sinisters Stimme verschwunden. Nathaniel spürt eine Hand an seiner Brust, die Kamera wird weggerissen. Er ist aufgeflogen.
»Ich wollte das nur für mich aufzeichnen, weil ich mir keine Notizen machen kann«, sagt Nathaniel hastig.
»Jetzt lügt er auch noch!«
Nathaniel wird rückwärts auf einen Stuhl gestoßen, er ringt um das Gleichgewicht, wieder packt jemand seine Arme, reißt sie nach hinten und bindet seine Hände hinter seinem Rücken mit einem Plastikdraht zusammen. Kabelbinder. Wut und Angst und Verzweiflung überfluten Nathaniel. Wie tief er im Schlamassel steckt, realisiert er in dem Moment, als er Stimmen vernimmt, sie scheinen aus einem Handy zu kommen, das ihm jemand vors Gesicht hält.
»Ich habe noch nie etwas freiwillig gekriegt und das wird sich auch nicht ändern«, hört er einen Mann sagen. Dann vernimmt er eine Stimme, die er sehr gut kennt. »Aber unfreiwillig, unfreiwilligen Sex haben Sie sich schon geholt?«, hört Nathaniel Milla fragen. »Diese Frage beantworte ich nicht«, erwidert der Mann. Es dauert einen Moment, bis Nathaniel realisiert, dass es sich bei dem Video um einen Trailer für Millas TV -Beitrag handelt. Jetzt kündet die Kommentarstimme an, dass es der Sendung Wochenthemen gelungen ist, exklusiv an einem Seminar teilzunehmen, an dem Incels lernen sollen, wie man Frauen anbaggert. Kurz darauf hört Nathaniel, wie Mister Sinister im Bahnhofbuffet Olten die Kursteilnehmer mit wenig schmeichelhaften Worten begrüßt.
Das Video wird gestoppt.
»Willst du etwas dazu sagen?«, fragt Mister Sinister.
Nathaniel will gerade zu einer Erklärung ansetzen, doch Mister Sinister verweigert ihm das Wort.
»Vergiss es. Ich will deine Ausreden gar nicht hören. Die Beweise sprechen für sich. Du bist überführt. Dafür wirst du büßen.«