Eigentlich müsste Milla zufrieden sein: Ihr Beitrag wurde gesendet, ihr ist trotz des hohen Zeitdrucks eine hervorragende Hintergrundreportage über ein hochbrisantes Thema gelungen. Aber Milla hat ein ungutes Gefühl. Das hat sie selten, doch wenn sie es mal hat, stellt sich meistens im Nachhinein heraus, dass es nicht unbegründet war. Ohne es zu ahnen, hat sie Nathaniel ausgerechnet bei jenem Incel in ein »Anmach-Seminar« geschickt, der den Attentäter zu seiner Mordtat angestiftet hat. Der Nachrichtenwechsel zwischen Mister Sinister und Sascha Vogt, den ihr Cousin Kaspar gehackt hat, gleicht einer veritablen Gehirnwäsche. Zwar fantasiert Sascha Vogt selbst von einem Attentat, davon, dass er möglichst viele Femoids mit in den Tod nehmen möchte, doch Mister Sinister stachelt ihn mit seinen Worten zusätzlich an, schimpft ihn einen Feigling, ein Opfer und einen Verlierer, der große Reden schwinge und es dann doch nicht durchziehen werde. In einer anderen Nachricht verspricht er Sascha Vogt Heldenruhm und Unsterblichkeit, wenn er ein Massaker anrichten werde. Mister Sinister ist ein hochgefährlicher Manipulator.
Milla hat vergebens versucht, Nathaniel zu erreichen. Sie muss ihn warnen: Wenn Mister Sinister den TV -Beitrag sieht, wird er wissen, dass einer seiner Kursbesucher in Olten die Aufnahmen heimlich gemacht hat. Nathaniel wird unter den Verdächtigen sein. Hoffentlich hat er niemandem seinen richtigen Namen genannt. Milla fürchtet, er könnte sich in ein Gespräch verwickelt und etwas erwähnt haben, das Rückschlüsse auf seine Identität zulässt, auf seinen Wohnort oder auf seine Arbeitsstelle – zum Beispiel, als er von der Köchin des Restaurants Blinde Kuh angesprochen worden ist. Es wäre fatal, wenn Mister Sinister herausfinden könnte, wer Nathaniel ist. Milla flucht innerlich. Es war ein Fehler, Nathaniel zum Pick-up-Seminar zu schicken. Erneut wählt sie seine Nummer, doch er geht immer noch nicht ran. Vielleicht macht sie sich vergebens einen Kopf, versucht sich Milla zu beruhigen. Wahrscheinlich sitzt Nathaniel mit Gundula und Silas zu Hause und spielt etwas mit ihnen, während er das Handy auf stumm geschaltet hat. Sie wird es morgen früh nochmals versuchen.
Milla packt ihre Tasche und wirft sie sich über die Schulter. Das nächste Tram, das sie vom Leutschenbach ins Stadtzentrum bringen wird, fährt in fünf Minuten. Sie will nur noch nach Hause. Die letzten Tage waren zu viel, zu viel von allem: zu viel Tod, zu viel Leid, zu viel Hass, auch zu viel Arbeit. Als sie in den Flur tritt, kommen ihr Karin, die Moderatorin, Marc, der Produzent, und ihr Chef Wolfgang entgegen. Die Sendung ist demnach vorbei.
»Da haben wir ja unsere Heldin«, ruft Wolfgang überschwänglich. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Quote der Sendung über den Erwartungen lag. »Du kannst dich jetzt nicht nach Hause verkriechen, wir gehen noch ein Bier trinken«, verkündet er in einem Tonfall, der keine Widerrede duldet.
Milla schert sich nicht darum. »Wolfgang, ich bin hundemüde.«
»Ach, komm schon, wir haben so selten die Gelegenheit. Und wir wollen dich feiern. Hast du gesehen, die ersten Online-Medien haben deine Reportage bereits zitiert.«
Obwohl sich Milla gerade eben noch nichts sehnlicher wünschte, als einen Abend allein bei sich zu Hause auf dem Sofa zu sitzen und eine Serie reinzuziehen, im besten Falle mit einem schnurrenden Kater Iggy auf dem Schoß, lässt sie sich nun doch von Wolfgangs guter Laune anstecken und fragt sich: Warum eigentlich nicht? Ist lange her, dass sie mit ihrem Team auf eine Sendung angestoßen hat. Etwas Fröhlichkeit wird ihr nach all dem Üblen guttun, mit dem sie sich in den letzten Tagen beschäftigt hat.
»In Ordnung. Ich bin dabei.«
Zur gleichen Zeit in einer anderen Stadt macht sich auch Millas Freund Sandro auf, um sich einen Feierabenddrink zu gönnen. Irenas Nachricht kam überraschend. Sie fragte, ob er frei sei heute, ob sie sich im Kreissaal treffen könnten, auf einen schnellen Drink. Noch vor ein paar Monaten hätte Sandro Nein gesagt. Die eine Nacht, die er mit der Rechtsmedizinerin verbrachte und von der Milla bis heute nichts ahnt, wäre noch zu nah gewesen. Doch jetzt nimmt er die Anfrage als freundschaftlich an, er denkt nicht, dass Irena Hintergedanken hat. Zumal sie Milla sehr mag. Das damals war ein einmaliger Ausrutscher, als sie sich in einem Ausnahmezustand befand, den er, wie er nachträglich zugeben muss, womöglich ausgenutzt hat. Zwar war die Initiative von ihr aus gegangen. Doch er hätte, wäre er integer gewesen, ablehnen müssen. Aber zu Irena Nein zu sagen ist schwer. Lange vor Milla war Sandro mal in die Rechtsmedizinerin verliebt gewesen. Selbst jetzt noch fühlt er bei dem Gedanken, dass es für immer nur bei dieser einen Nacht bleiben wird, ein leises Bedauern. Trotzdem muss es möglich sein, sich mit seiner langjährigen Freundin und beruflichen Kollegin auf einen harmlosen Drink zu treffen.
Als Sandro den Kreissaal betritt, sitzt Irena bereits an der Bar. Vor sich einen Gin Tonic mit Gurke und Pfeffer. Ihr Lieblingsgetränk. Sie begrüßen sich mit zwei flüchtigen Küssen auf die Wange. So flüchtig, dass für Theneyan hinter der Bar zu erkennen sein muss, dass sie versuchen zu verbergen, dass da mal mehr war als flüchtige Küsschen. Sandro nickt dem dunkelhäutigen Mann zu und registriert den Edelstein, der an seinem Eckzahn aufblitzt, als er ihm zugrinst.
»Ich habe mir Mut angetrunken.« Irena streicht sich fahrig mit der Hand durchs Haar und bleibt mit einem Finger in einer Strähne hängen.
»Ist etwas passiert?« Sandro lässt sich seine Verunsicherung nicht anmerken. Er zeigt auf Irenas Drink und nickt Theneyan zu, auch er wird wohl einen brauchen können. Sandro hofft, dass es hier nicht um etwas Privates geht, insbesondere um nichts, das ihn und Irena betrifft.
»Darf ich vorstellen, das ist Theneyan.« Irena weist auf den Barkeeper, der nun nicht mehr grinst, jetzt scheint auch er nervös zu werden. »Theneyan ist nicht nur mein Lieblingsbarkeeper, sondern auch mein bester Freund. Und mein bester Zuhörer. Und verschwiegen wie ein Grab.«
Sandro versteht nicht.
»Wenn es schwierig ist in meinem Job – und du weißt, der ist nicht immer einfach –, ist Theneyan für mich da und hört mir zu«, setzt Irena ihren Monolog fort.
Einen Moment lang glaubt Sandro irritiert, sie werde ihm gleich berichten, dass sie und Theneyan heiraten wollen.
»Er würde nie, ich betone – nie – etwas weitererzählen, er weiß, dass alles unter uns bleiben muss.«
»Irena, was genau willst du mir sagen?«
Endlich stellt Theneyan Sandro den Drink hin. Er nimmt einen Schluck.
»Theneyan ist gut vernetzt mit der Szene, also eigentlich mit allen Szenen, um genau zu sein.«
»Irena, worum geht es?«
»Darum habe ich ihn nach unseren Stöckelschuh-Fällen über die Fetisch- und die Transszene ausgefragt.«
»Das heißt?«
»Ich habe im Gespräch mit Theneyan erwähnt, dass wir zwei Leichen haben, die in Stöckelschuhen und mit Penis-Socke aufgefunden worden sind.«
»Irena!« Sandro schaut seine Kollegin entgeistert an.
»Ich erzählte es ihm im Vertrauen. Theneyan würde nie etwas weitererzählen.«
Sandro blickt den Barkeeper an, der übertrieben nickt.
»Aber?«
»Aber an jenem Abend saß ein anderer Gast dort drüben, am Ende der Theke. Wir haben nicht auf ihn geachtet. Er saß in sich zusammengesunken und wirkte abwesend.«
»Konnte er euch hören?«, fragt Sandro.
»Ich bin mir nicht sicher …«
»… aber es könnte sein.« Theneyan beendet Irenas Satz.
»Scheiße.« Sandro nimmt einen zweiten, größeren Schluck. So hat er sich seinen Feierabenddrink nicht vorgestellt. »Wisst ihr, wer der Mann ist?«
»Leider nein«, antwortet Irena. »Wir haben versucht, es herauszufinden. Aber er hat bar bezahlt. Keine Kreditkarte, kein Twint. Kein Name.«
Sandro schweigt. Schwenkt sein Glas und starrt auf die Gurke, die darin schwimmt. Plötzlich steht er auf, geht zur Tür und tritt hinaus, um kurz darauf wieder zurückzukommen.
»Vor dem Eingang ist eine Überwachungskamera montiert.«
Sandro sieht, wie sich Irena und Theneyan anschauen, und erkennt in ihren Blicken, dass sie überhaupt nicht daran gedacht haben.
Nur wenige Hundert Meter vom Kreissaal entfernt, streicht Gundula mit der Hand über Silas’ Stirn.
»Wann kommt Nathaniel nach Hause?« In Silas Stimme schwingt Besorgnis mit.
»Sicher bald. Er ist bestimmt schon auf dem Nachhauseweg.«
»Warum kann ich dann nicht aufbleiben, bis er wieder da ist?«
»Weil du morgen zur Schule musst. Und weil ich nicht sicher bin, wann genau Nathaniel zu Hause sein wird.«
Silas grummelt etwas Unverständliches vor sich hin, drückt seinen Stofftiger an sich und dreht sich der Wand zu.
»Ich will nicht, dass Nathaniel so lange wegbleibt«, schmollt er.
Noch einmal fährt Gundula Silas über den Lockenkopf.
»Gute Nacht, Silas, du musst dir keine Sorgen machen. Schlaf gut.«
Aber ich mache mir Sorgen, denkt Gundula, als sie die Tür zu Silas’ Zimmer bis auf einen Spaltbreit hinter sich zuzieht. Es ist schon nach zehn, und Nathaniel ist noch immer nicht zurück. Auch hat er sich nicht gemeldet. Warum muss er sich immer und immer wieder in solch wilde Geschichten stürzen? Bereits kurz nachdem sie sich in ihrer Zoohandlung begegnet sind und sie sich in ihn verliebt hat – was praktisch zeitgleich geschah –, realisierte sie, dass Nathaniel kein Mann ist, mit dem man die Sonntagabende gemütlich zu Hause vor dem Fernseher verbringt. Sie kannten sich noch keine zwei Wochen, als sie sich plötzlich mitten in der Nacht gemeinsam in einer fremden Wohnung wiederfanden, wo sie einen Kinderschänder bewachen mussten, bis die Polizei eintraf. Sie hatte das damals als krasse einmalige Ausnahmesituation abgetan – nicht ahnend, dass Ausnahmesituation ein Synonym für Nathaniels Alltag ist.
Gundula weiß, wie viel Nathaniel die Freundschaft zu Milla bedeutet. Aber sie könnte der TV -Journalistin den Hals umdrehen, wenn sie Nathaniel wieder in eine gefährliche Sache mit reinzieht, weil er sich jedes Mal dazu überreden lässt. Manchmal versteht sie diesen Mann nicht.
Gundula hat sich von Anfang an bemüht, Nathaniel nicht anders zu behandeln als alle anderen Menschen, sich also nicht mehr Sorgen um ihren blinden Freund zu machen, nur weil er eben blind ist. Doch jetzt ist sie auf einmal nicht mehr sicher, ob das richtig war. Es macht einen Unterschied, wenn sich ein Mensch in Gefahr begibt, der diese wenigstens sehen kann. Wenn er sieht , wo der Fluchtweg liegt, wenn es darum geht zu fliehen. Kommt hinzu, dass Nathaniel mit James unterwegs ist, dem Gundula noch nicht das nötige Vertrauen schenkt. Der Hund ist zu jung und hat zu viele Flausen im Kopf, sie wäre ruhiger, wenn Nathaniel heute von seiner früheren Blindenhündin begleitet würde.
Gundula blickt auf die Uhr. Viertel nach zehn. Sie will sich nicht wie eine überbemutternde Henne aufführen, doch sie kann nicht länger warten, greift zum Telefon und stellt Nathaniels Nummer ein. Sofort erklingt ein Piepsen, gefolgt von der Ansage der Mailbox. Es klingt, als wäre das Telefon ausgeschaltet oder als habe es keinen Empfang. Gundula erhebt sich, geht in die Küche, bleibt dort stehen, geht zurück ins Wohnzimmer, nimmt erneut das Telefon zur Hand, zögert. Dann wählt sie Millas Nummer. Sie hört, dass es am anderen Ende der Leitung läutet. Wartet. Lässt es klingeln. Doch Milla geht nicht ran.
Während Theneyan im Büro des Kreissaals nach den Aufnahmen der Überwachungskamera sucht und Irena und Sandro hoffen, dass sie nicht bereits gelöscht worden sind, während Milla mit ihrem Chef Wolfgang und dem Team in Zürich auf die erfolgreiche Sendung anstößt, während Gundula verzweifelt versucht, jemanden zu erreichen und sich zusammenreißen muss, um nicht vor lauter Sorge durchzudrehen, während die Welt unaufhaltsam durch das Universum rast und Schauplatz von Milliarden kleinerer und größerer Dramen ist, fragt sich Nathaniel, ob er das hier überleben wird. Die Kabelbinder, mit denen sie seine Hände hinter dem Rücken an den Stuhl gebunden haben, schürfen ihm die Haut auf. Immer wieder versucht er, die Fesselung zu lösen, doch sie lockert sich nicht, und der Schmerz wird nur noch größer. Auch die Beine sind mit Kabelbindern an den Stuhlbeinen fixiert. Sein Rücken schmerzt wie Hölle, ebenso der Hintern. Nathaniel ist sicher: Selbst wenn man ihn irgendwann wieder losbindet, wird er sich nicht mehr bewegen können und für immer in dieser Position verharren müssen. So fühlt sich sein Körper an. Am schlimmsten aber ist, dass sie ihm ein Tuch als Knebel in den Mund gesteckt haben. Zunächst meinte er zu ersticken, erst als er sich zwang, sich zu beruhigen, kriegte er genug Luft zum Atmen.
Er hat sie noch lange diskutieren hören, in einem anderen Raum, ohne die Worte zu verstehen. Irgendwann sind sie einfach gegangen. Nathaniel hat kein Gespür für die Zeit. Es kann noch immer später Abend sein oder schon mitten in der Nacht, vielleicht ist auch bereits ein neuer Tag angebrochen. Hoffentlich wird er besser als jener, der gerade hinter ihm liegt. Schlimmer geht kaum mehr.
Es war ein fataler Fehler, an jenem Abend auf Mister Sinister zu treffen, an dem Millas Reportage am TV ausgestrahlt wurde. Aber wie hätte er ahnen sollen, dass der Trailer zu ihrem Beitrag bereits am Nachmittag über den Sender gehen würde? Trotzdem flucht Nathaniel innerlich über sich selbst. Er hat Gundula nicht einmal die Adresse genannt, zu der er gefahren ist. Niemand weiß, wo er sich befindet. Er weiß es nicht einmal selbst genau. An einem Ort irgendwo in Olten, der nach Benzin und Öl und Gummi und kaltem Beton riecht. Eine Autowerkstatt vielleicht, am Rande der Stadt, die er überhaupt nicht kennt, weil er hier sonst immer nur mit dem Zug durchgebraust ist. Warum bloß ist er dieses Mal ausgestiegen.
Es ist kein Geräusch zu hören. Nur Nathaniels Atmen. Der Rücken schmerzt. Er will nicht einschlafen. Hoffentlich behandeln sie wenigstens James anständig. Silas darf sich keine Sorgen machen. Die Gedanken kommen und gehen völlig zusammenhangslos. Vermisst Gundula ihn schon? Wie müde er auf einmal ist. Hoffentlich kommt er hier lebend wieder raus. Wenn er bloß diese Fesseln aufkriegen würde.
Je länger das Gedanken-Pingpong andauert, desto mehr Raum nimmt ein anderes Gefühl ein, das er bis jetzt erfolgreich verdrängt hat: die Angst. Sie kriecht von den Füßen über die Beine durch seinen Körper hoch, setzt sich als Klumpen in seinen Bauch, drückt ihm den Hals zu und macht sein Herz zu schwer. Auf einmal gibt es nur noch vier Worte in seinem Kopf, vier Worte, die sich wiederholen, die auf ihn einhämmern, die alles übertönen: Ich will nicht sterben.