53.

In dieser Nacht küsst der Tod das Leben, und ich streiche wie ein Schatten durch die Straßen Berns. Ich muss mir nicht erst Mühe geben, unsichtbar zu sein. Ich bin ein Schattenkind. Selbst wenn ich wahrgenommen werden will, werde ich übersehen. So war es, als ich klein war und auch als ich größer wurde, so ist es bis heute geblieben. Manchmal fühle ich mich, als sei ich nur halb von dieser Welt, halb sichtbar, halb durchscheinend, sodass jeder durch mich durchblicken kann. Das mache ich mir jetzt zunutze.

Denn ich bin losgezogen, um zu töten. Ich werde nicht noch einmal unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren. Ich war heute Nachmittag an seiner Wohnung. Ich sah ihn heimkommen, früher Feierabend. Er ist nicht geflohen, nicht ausgezogen, sondern in seinem vermeintlich sicheren Nest geblieben. Vielleicht, weil der Aufruf der Polizei unbemerkt an ihm vorbeigegangen ist. Vielleicht, weil er sich zu sicher fühlt. Auf jeden Fall muss es heute geschehen. Morgen könnte zu spät sein. Zögern wird bestraft, diese Lektion habe ich gelernt.

Als ich in die Straße einbiege, sehe ich schon von Weitem, dass er zu Hause ist. In seiner Wohnung brennt Licht. Ich habe alles exakt vorbereitet, ich war schon immer sehr gewissenhaft. Was sich beim ersten Mal völlig fremd anfühlte, was mich hochputschte wie ein Drogentrip, ist jetzt fast schon Routine, zumindest die Vorbereitung auf die Tat. Doch ich bin vorsichtiger geworden. Ich habe mir in einem afrikanischen Laden eine Perücke besorgt. Es ist ein gutes Gefühl, sie zu tragen. Fast so, als wäre ich nicht mehr ich selbst, als wäre ich jemand anderes, der macht, was ich so lange für unmöglich hielt, und was mir nun Befriedigung und Erleichterung und Befreiung bringt. Und den ultimativen Kick.

Ein Mehrfamilienhaus. Ich gehe gleich vor wie bei Bräutigam und klingle im obersten Stock. Ich weiß, es ist schon spät. Aber noch nicht zu spät, um bei fremden Leuten zu klingeln, wenn man den Schlüssel vergessen hat.

»Ja?«, rattert eine Stimme aus der Gegensprechanlage.

»Hallo, hier ist Berger vom zweiten Stock, ich habe meinen Schlüssel in der Wohnung vergessen und komm unten nicht rein.«

Der Türöffner summt. Ich rufe »Danke!« und verschwinde im Treppenhaus. Ich gehe nicht hoch in den zweiten Stock, sondern steige hinab in den Keller. Ich werde mich eine Weile gedulden müssen, es muss genügend Zeit vergehen, die Nachbarn dürfen nicht mehr wachsam sein.

Wie ich da sitze, den Rücken an die Kellerwand gelehnt, stelle ich mir vor, was ich über mich denken würde, wenn ich jemand anderes wäre. Wenn ich zum Beispiel die Frau am Kiosk wäre, bei der ich immer Zigaretten hole. Was würde sie über mich denken, wenn sie wüsste, dass ich in meiner Freizeit Männer töte? Nicht irgendwelche Männer. Böse Männer. Gewalttätige Männer. Vergewaltiger. Würde sie mich verstehen, wenn ich ihr erklären würde, warum ich das tue? Würde die Kioskfrau zustimmend nicken und die Notwendigkeit meines Handelns anerkennen? Könnte sie nachvollziehen, dass ich es tun muss ? Dass ich nicht anders kann? Dass ich keine Wahl habe?

Es sind zwanzig oder dreißig Minuten vergangen, vielleicht auch mehr, das Gefühl für die Zeit hat sich verflüchtigt. Ich stehe auf, streiche mir eine Strähne des falschen Haares aus dem Gesicht. Ich öffne die Handtasche, die Spritze liegt bereit. Ich greife nach dem Taser, nehme ihn in die rechte Hand, die ich in der Handtasche behalte, sodass er ihn nicht gleich sieht, wenn er die Tür öffnet, wenn ich eintrete, und ich bin sicher, dass er mich eintreten lässt. Dann: Taser ziehen, abdrücken, Tür schließen, nach fünf Sekunden die zweite Ladung Strom durch den Gelähmten jagen, Taser in die linke Hand wechseln, mit der rechten die Spritze aus der Tasche holen, sie so fassen, dass sie richtig in meiner Hand liegt, Spritze ansetzen und Morphin in seinen Körper drücken.

Warten.

Und wieder schießen, wenn er sich noch regen sollte. So lange, bis er sich nicht mehr bewegt, bis das Leben weg ist und der Tod sich seinen Körper genommen hat. Dann erst folgt die Belohnung. Dann mache ich ihn lächerlich und präsentiere ihn der Nachwelt in seiner ganzen Erbärmlichkeit.

Ich steige die Treppe hoch. Die Handtasche steht offen. Meine Hand umschließt den Griff des Tasers. Ich lege mir das bezauberndste Lächeln auf die Lippen und drücke auf den Klingelknopf.