Milla ist betrunken. Sie hat gerade noch das letzte Tram erwischt und lehnt den Kopf müde an die Fensterscheibe, darum bemüht, nicht wegzudämmern. Dennoch reißt sie das Vibrieren ihres Handys aus den Anfängen eines Traumes. Bis sie es im Schlund ihrer Tasche findet, ist es schon wieder still. Erschrocken stellt sie fest, dass das Display sieben unbeantwortete Anrufe von Gundula anzeigt. Milla setzt sich gerade auf und fühlt sich sofort wieder brutal nüchtern. Es muss etwas mit Nathaniel passiert sein. Sie klickt auf Rückruf .
»Milla, endlich, Nathaniel ist nicht nach Hause gekommen«, sagt Gundula ohne Umschweife. »Du musst mir sagen, wo er ist! Welche Adresse? Ich fahre sofort hin!«
Das alles geht Milla zu schnell. Sie versteht nicht.
»Entschuldige, wovon sprichst du? Ich weiß nicht, wo Nathaniel ist.«
»Natürlich weißt du, wo er ist. Du hast ihn schließlich dorthin geschickt!« Gundula klingt nicht nur aufgewühlt, sondern auch wütend.
»Wohin geschickt?«, fragt Milla nach.
»Zu diesem Vortrag! Wo der Incel erzählen wollte, wie man Frauen zum Sex zwingt. Nathaniel sollte doch für dich dort filmen. Ich brauche die Adresse, verdammt noch mal!«
»Warte einen Moment«, wendet Milla ein.
»Milla, wir haben keine Zeit!«
»Willst du damit sagen, dass Nathaniel zum Vortrag von Mister Sinister gefahren ist?«
»Ich weiß nicht, wie der Mann heißt. Du hast ihn doch damit beauftragt!«
»Nein. Habe ich nicht. Ich habe Nathaniel gesagt, dass er es bleiben lassen soll, weil es zu gefährlich ist.«
Einige Sekunden lang sind beide Frauen still.
»Er ist trotzdem hingefahren.« Die Wut ist aus Gundulas Stimme gewichen, nur noch Angst und Verunsicherung sind herauszuhören. »Und er ist noch immer nicht zurückgekehrt. Wir müssen da hin! So schnell wie möglich. Bitte, wie lautet die Adresse?«
»Ich kenne sie nicht.«
»Du kennst sie nicht?«, ruft Gundula laut aus.
»Er wurde nach dem ersten Seminar direkt eingeladen, aber hat mir nicht gesagt, wo der Vortrag stattfindet. Ich bin davon ausgegangen, dass er nicht hinfährt«, antwortet Milla konsterniert.
»Dann finde heraus, wo der Anlass stattfand! Du bist die Journalistin. Du hast ihm das eingebrockt.«
Milla versucht, sich an das Gespräch mit Nathaniel zu erinnern, sie angelt in ihrem Gedächtnis nach den Worten, die er gesagt hat. Hat der den Veranstaltungsort genannt? Eine Stadt? Eine Adresse? Nein, Milla ist sicher, dass Nathaniel keine Angaben dazu gemacht hat. Hätte er eine Stadt genannt, hätte sie sich das gemerkt.
»Wie konntest du ihn bloß in diese Sache verwickeln«, klagt Gundula.
Milla widerspricht nicht. Wahrscheinlich hat Gundula recht. Selbst wenn sie Nathaniel gesagt hat, dass er nicht da hinfahren soll – hätte sie ihn nicht an den Pick-up-Kurs geschickt, wäre er nie auch nur auf die Idee gekommen, sich mit Mister Sinister zu treffen. Sie ist schuld daran, wenn ihm etwas zugestoßen ist. Das könnte sie sich nie verzeihen.
»Gundula, ich weiß nicht, wo wir suchen müssen. Hat er dir wirklich nicht gesagt, wo er hinging? Hat er den Zug genommen?«
»Ja, ich glaube, er sagte, er müsse nach Olten.«
Olten, denkt Milla, das macht Sinn. Dort fand auch der gestrige Kurs statt.
»Der Vortrag sollte um sieben beginnen, jetzt ist Mitternacht«, überlegt Gundula laut. »Es kann nicht sein, dass er immer noch dort ist.«
Milla überschlägt im Kopf rasch die Uhrzeiten: Fünf Stunden. Nathaniel müsste längst wieder in Bern sein.
»Vielleicht sind sie noch etwas trinken gegangen, und er wird mit dem letzten Zug nach Hause fahren.« Milla hört selbst, dass sie wenig überzeugend klingt.
»Er hätte mir Bescheid gegeben. Er wusste, dass ich mir Sorgen mache.«
»Vielleicht war sein Handy-Akku tot?«
»Vielleicht, vielleicht, vielleicht … Milla, ich bin sicher, dass er gegen seinen Willen aufgehalten wird. Oder dass ihm etwas zugestoßen ist. Die Krankenhäuser in der Region habe ich bereits abtelefoniert, dort wurde niemand eingeliefert. Bestimmt ist seine Tarnung aufgeflogen. Sie haben die Kamera gefunden! Vielleicht haben sie ihn umgebracht!«
»Unsinn! Und die Kamera war vom Sender, die hat er nicht dabei«, sagt Milla, um Gundula aber auch um sich selbst zu beruhigen.
»Doch, er hat jene dabei, die er damals bei den Medikamententests benutzt hat. Warum hat er die mitgenommen, wenn er nicht für dich filmen musste?«
Weil er ein verdammter Dickkopf ist, denkt Milla. Aussprechen tut sie es nicht.
»Er wollte sein eigenes Ding durchziehen. Gundula, ich rufe sofort Sandro an. Geh du zum Bahnhof, vielleicht sitzt Nathaniel im letzten Zug. Ich sollte ebenfalls den letzten Zug nach Bern erwischen und komme kurz nach ein Uhr an.«
»Ich geh nicht zum Bahnhof. Ich lasse Silas nicht allein.«
Silas. Milla schaudert, als sie an den Jungen denkt. Es darf nicht sein, dass nur eine Woche nach Carole auch Nathaniel nicht mehr nach Hause kommt.
»Okay. Du wartest zu Hause. Ich nehme den letzten Zug und informiere Sandro.«
»Danke.« Gundulas Stimme klingt plötzlich dünn.
»Nathaniel ist nichts passiert, wir werden ihn finden.« Milla hofft, dass sie das Versprechen halten kann, und ruft dann Sandro an. Das Summen in ihrem Handy bricht abrupt ab; das bedeutet, dass er noch wach ist, aber ihren Anruf weggedrückt hat. Milla wählt ihn gleich wieder an. Dieses Mal geht Sandro ran.
»Milla, ist es wichtig?« Milla hört im Hintergrund Stimmen und Jazzmusik. Sandro kann Jazz nicht leiden.
»Ja, wichtig. Wo steckst du?«
»Ich bin im Kreissaal, mit Irena«, sagt Sandro. »Beruflich.«
»Es geht um Nathaniel, er ist verschwunden.«
»Er ist was ?« Milla hört Sandro an, dass auch er einen über den Durst getrunken hat. So viel zum Thema beruflich .
»Hör zu. Nathaniel hat heute mit versteckter Kamera an einem Vortrag eines Incels teilgenommen. Er ist nicht zurückgekehrt.«
»Was bitteschön macht Nathaniel mit einer versteckten Kamera bei einer Versammlung von Incels?«
»Er wollte dort wohl für mich Aufnahmen machen …«
»Seid ihr eigentlich alle von Sinnen? Wie lange ist er jetzt weg?«
»Etwas mehr als fünf Stunden.«
»Hast du versucht, ihn anzurufen?«
»Gundula hat es versucht. Ich habe es versucht. Sein Handy ist nicht auf Empfang. Du musst ihn suchen lassen!«
»Milla, es ist gerade erst Mitternacht vorbei. Ich kann unmöglich eine Vermisstensuche starten, weil ein erwachsener Mann um Mitternacht noch nicht nach Hause gekommen ist.«
»Ein blinder erwachsener Mann, der mit einer versteckten Kamera an einer Veranstaltung von Frauenhassern teilnahm«, hält Milla entgegen.
»Hast du eine Adresse?«
»Nein.«
»Milla!«
»Es tut mir leid.«
»Mir sind die Hände gebunden. Ich kann keine Suchaktion beantragen, weil ein Erwachsener um Mitternacht noch nicht zu Hause ist. Das bewilligt keiner, da denkt doch jeder, Nathaniel ist einfach noch auf ein Bier in irgendeine Beiz gegangen. Vielleicht ist er das ja auch, weil er für dich Aufnahmen der biertrinkenden Incels machen will.«
Es bringt nichts zu streiten. Zumal Milla Sandro recht geben muss. Es ist möglich, dass Nathaniel mit den Männern ein Bier trinken gegangen ist, dass sie ihn zum Zug brachten und er in diesem Moment in Bern aussteigt und sich von James nach Hause führen lässt. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass er wegen eines leeren Handy-Akkus den Weg nach Hause nicht mehr findet.
»Ab wann kannst du etwas tun?«, fragt Milla Sandro.
»Wenn er morgen früh nicht zurück ist, geben wir die Vermisstenmeldung raus.«
Milla schweigt. Sie hat Sandros Tonfall angehört, dass es keinen Sinn macht zu insistieren.
»Ich sitze bereits im Zug nach Bern. Kann ich zu dir kommen?«
»Okay.«
»Bis gleich.«
Als Milla erneut Gundulas Nummer einstellt, schickt sie ein Stoßgebet gen Himmel, dass Nathaniel in der Zwischenzeit nach Hause gekommen ist.
»Hallo«, sagt Gundula knapp.
»Er ist noch nicht da?«
»Nein. Sie halten ihn gefangen«, sagt Gundula. »Ich bin ganz sicher. Sie halten ihn fest, und vielleicht werden sie ihn töten. Hast du die Polizei angerufen?«
»Ja, ich habe mit Sandro geredet. Gleich morgen früh werden sie eine Suchaktion starten.«
»Morgen früh? Warum nicht jetzt?«
»Ich konnte nichts machen, Sandro sagt, Nathaniel sei erwachsen, und bei Erwachsenen warte man ab.«
»Was soll ich bloß Silas sagen?«
Milla schweigt. Wenn sie an den Kleinen denkt, trifft sie das schlechte Gewissen mit einer Wucht, die sie aus dem Gleichgewicht bringt. Silas darf nicht noch jemanden verlieren, hatte Nathaniel zu ihr gesagt, als er den Undercoverjob übernahm.
»Gundula, es tut mir schrecklich leid, es war mir nicht klar, dass so etwas passieren könnte.«
»Wir können gar nichts tun?«
»Lass uns versuchen, etwas Schlaf zu kriegen. Damit wir morgen Kraft haben, wenn die Suche startet.«
»Wie soll ich denn schlafen können?«
Wieder weiß Milla keine Antwort.
»Ich melde mich gleich morgen früh.«
»Okay.«
»Okay.«
Vierzig Minuten später klopft Milla an Sandros Wohnungstür. Drinnen ist kein Geräusch zu vernehmen. Sie tritt leise ein und sieht, dass in der Küche Licht brennt. Sandro sitzt am Tisch und starrt hoch konzentriert in seinen Laptop.
»Hey, ich bin da.«
Sandro fährt erschrocken zusammen. »Himmel, Milla, hast du mich erschreckt.«
»Ich habe geklopft.«
»Ich hab’s nicht gehört.«
Sandro steht auf und begrüßt Milla mit einem Kuss.
»Nathaniel ist noch immer nicht zurück.« Milla lässt sich schwer auf einen Stuhl fallen. Sandro stoppt das Video, das er auf seinem Computer angeschaut hat.
»Cola?«
»Gerne.«
Sandro nimmt die Cola-Flasche aus dem Kühlschrank, schenkt ein Glas voll, greift zu einer Limette, schneidet eine Scheibe ab, gibt sie der Cola bei, klaubt Eiswürfel aus dem Tiefkühlfach und drückt sie ins Glas. Während Milla ihm dabei zusieht, beginnt sie zu erzählen. Sie berichtet Sandro von ihren Recherchen, von ihrem Beitrag über die Incels, der derzeit für Aufsehen sorgt, und darüber, dass Nathaniel am Abend, als der Film ausgestrahlt wurde, einen Vortrag eines gewissen Mister Sinister besuchen wollte, der Anleitungen für »unfreiwilligen Geschlechtsverkehr« versprochen hatte. Sandro schüttelt während ihren Ausführungen immer wieder den Kopf. Milla ist froh, dass er sich kritische Kommentare verkneift.
»Kennst du Mister Sinisters richtigen Namen?«
»Leider nein.«
»Du hast einzig eine anonyme Mailadresse?«
»Ja.«
Millas Blick fällt auf Sandros Bildschirm. Er zeigt ein Schwarz-Weiß-Bild, das von einer Überwachungskamera zu stammen scheint.
»Doch, ich habe mehr als nur die Adresse!«, fällt ihr ein. »Ich habe sein Gesicht! Mister Sinister ist auf Nathaniels Aufnahmen vom ersten Tag drauf. Im Beitrag haben wir sein Gesicht verpixelt, aber auf dem Rohmaterial ist er erkennbar.«
»Gut. Lass dir das morgen früh schicken. Das könnte wichtig sein. Schicke mir auch die Mails, vielleicht kann Florence den Absender zurückverfolgen.« Sandro versucht ein Gähnen zu unterdrücken, was nur halbwegs gelingt. »Wollen wir ins Bett? Ich bin total am Ende.«
»Du siehst müde aus. Wie geht es dir?«
»Frag nicht. Immer muss alles gleichzeitig passieren. Als wäre ein Attentat nicht genug. Ich ermittle gleich in mehreren Tötungsdelikten. Wenigstens haben wir endlich eine Spur – einzig, weil der Barkeeper vom Kreissaal die Aufnahmen der Überwachungskameras nicht fristgerecht gelöscht hat.«
»Du hast den Täter auf Band?«
»Vielleicht. Zumindest einen Verdächtigen.«
Sandro zieht seinen Laptop näher zu sich, lässt die Sequenz von vorn laufen. Man sieht den Eingangsbereich der Bar. Ein Mann tritt ins Bild, der Milla an den amerikanischen Schauspieler Danny de Vito erinnert, nur dass dieser hier noch mehr Haare hat und etwas größer wirkt. Für den Bruchteil einer Sekunde blickt er nach oben, fast direkt in die Kamera.
»Ich glaub, ich kenn den!«, ruft Milla.
Sandro spult etwas zurück und friert das Bild ein.
Milla schaut genauer hin.
»Du kennst ihn?«
»Nein«, sagt Milla langsam. »Aber ich weiß, dass ich ihm schon mal begegnet bin. Nur habe ich keine Ahnung, wann und wo das gewesen ist.«