55.

Bettina geht im Zimmer auf und ab, stellt sich vor die Magnetwand, betrachtet sie, reibt sich die Hände, geht zurück zur Tür, schaut auf die Uhr, macht kehrt, stellt sich vor die Magnetwand, geht um den Tisch herum, begibt sich erneut zur Tür, blickt hinaus, noch immer liegt der Flur leer vor ihr, zurück zur Magnetwand, sie reibt sich die Hände, wo bleiben die bloß? Um fünf vor neun hört sie draußen etwas. Sie könnte darauf wetten, dass es Sandro ist; energische, große Schritte. Er ist es tatsächlich.

»Bettina, kannst du die Sitzung leiten?«, fragt er, ohne sich mit irgendwelchen Floskeln aufzuhalten. »Ich musste mich um einen Vermisstenfall kümmern und konnte mich nicht vorbereiten. Du bist voll im Thema drin.«

»Ein Vermisstenfall?«

Mit so wenig Worten wie möglich schildert Sandro seiner Mitarbeiterin, was sich in der letzten Nacht zugetragen hat. Bettina wird sofort hellhörig, als sie erfährt, dass die Vermisstenanzeige in Zusammenhang mit einer Reportage über Incels steht, die mit Sascha Vogt in Verbindung gestanden haben. Allein der Name jagt ihren Puls hoch. Sie muss sich die Wochenthemen unbedingt noch ansehen.

»Hat sich schon was ergeben?«, fragt sie Sandro.

»Negativ. Die Handyortung hat nichts gebracht, Nathaniels Gerät ist nicht eingeschaltet. Die nachträgliche Rückverfolgung der Handydaten muss erst noch bewilligt werden, das dauert ein paar Stunden.«

»Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen.«

Als hätte jemand auf einen unsichtbaren Startknopf gedrückt, strömen auf einen Schlag alle anderen Mitglieder der Soko High Heels ins Sitzungszimmer. Auch die Rechtsmedizinerin Irena Jundt ist anwesend sowie Staatsanwalt Langenberger persönlich, der Fall ist zu wichtig, als dass er ihn nur von Weitem mitverfolgen kann. Sandro nickt Bettina zu, sie begibt sich zur Magnetwand, räuspert sich, reibt sich die Hände erneut. Als Malou als Letzte die Tür hinter sich geschlossen hat und sich alle hingesetzt haben, eröffnet Bettina die Sitzung.

»Bevor ich das Wort in die Runde gebe und wir unsere Ergebnisse zusammentragen, möchte ich über meine neuesten Erkenntnisse berichten, ich denke, sie werden die weiteren Ermittlungen beeinflussen.«

Erneut räuspert sie sich. Normalerweise ist Bettina nicht nervös, wenn sie vor anderen Leuten sprechen muss. Erst recht nicht, wenn es sich dabei um ihr eigenes Team handelt. Überdies hat sie sich sorgfältig zurechtgelegt, was sie sagen wird – und was nicht. Doch genau dieser Punkt ist das Problem: Sie wird eben nicht alles sagen. Das Verheimlichen von wichtigen Informationen wird ihr langsam zur Gewohnheit, was es nicht besser macht. Das Erschreckendste ist, dass sie dabei nicht einmal mehr ein schlechtes Gewissen hat.

»Ich habe herausgefunden, was die Fälle miteinander verbindet.« Im Sitzungszimmer ist es totenstill. Einzig das Ticken der Uhr ist zu hören. Die angespannte Stimmung verleiht dem harmlosen Geräusch eine bedeutsame Schwere. »Nicht nur Jürgen Bräutigam, Klaus Tanner und Stephan Arnold standen bereits als Beschuldigte vor Gericht. Auch Peter Bannholzer, Thomas Sahli und Bendicht Kerner waren Beschuldigte und wurden von den Richtern freigesprochen.«

»Das ist es!« Bernard klatscht in die Hände.

Sandro nickt anerkennend.

»Wegen welcher Delikte?«, fragt Malou nach.

»Mit Ausnahme von Arnold handelte es sich bei allen um Sexualdelikte. Vergewaltigung, Nötigung, das ganze Programm.«

»Hängen die einzelnen Fälle zusammen?«, will Kai Langenberger wissen.

Bettina schaut ihn an. Sie kann seinen Blick nicht lesen. Erinnert er sich wirklich nicht daran, dass er selbst in den fünf Fällen die Anklage vertreten hat?

»Das weiß ich noch nicht«, sagt Bettina betont langsam. Noch immer ist Kai Langenberger äußerlich keine Reaktion anzusehen. Bettina zögert. Am liebsten würde sie ihm sagen: Der einzige ersichtliche Zusammenhang bist du, deine Person. Doch sie entscheidet sich dagegen. Es ist zu früh. Sie muss sich erst sicher sein, dass er wirklich nichts damit zu tun hat.

»Ich habe mich überdies wegen des Tasers mit dem Materialchef Max Spycher unterhalten«, sagt sie stattdessen. »Er meint, dass solche Taser im Darknet problemlos illegal beschafft werden können. Aber er sagte auch: Jeder Polizist und jede Polizistin, der Grenzschutz, der sicherheitspolizeiliche Einsatzdienst, das Gefängnispersonal – alle, die im Dienst eine Schusswaffe tragen, sind auch mit einem Taser ausgestattet oder können einen beantragen. Alle Opfer standen in Kontakt mit den Justizbehörden – und demnach auch mit der Polizei. Vielleicht ist die Täterin eine von uns.«

»Du meinst eine Polizistin?«, fragt Sandro.

»Ich denke in erster Linie an die Kolleginnen des sicherheitspolizeilichen Einsatzdienstes, die während der Gerichtsverhandlungen anwesend sind. Vielleicht war in all den Fällen die gleiche Kollegin im Einsatz – eine Kollegin, die die Verhandlung und den Freispruch mitverfolgt und ihn als nicht gerecht empfunden hat. Darum wurde sie zur selbst ernannten Rächerin; weil der Frust zu groß war, dass es nach all dem Aufwand und zum wiederholten Male zu einem Freispruch kam.«

So abstrus die Idee im ersten Moment klingen mag – seit letzter Woche kann Bettina ein solches Handeln sogar nachvollziehen. Noch immer steckt der Hass in ihren Knochen, in all ihren Zellen, er vereinnahmt sie als Ganzes; der Hass auf den Mann, der auf Petra geschossen hat. Auch sie würde ihn eigenhändig richten, wenn ein Richter auf die Idee käme, ihn freizusprechen. Doch das wird Gott sei Dank nicht passieren.

»Das hat was«, kommentiert Bernard. »Soll ich das prüfen? Es gibt bestimmt detaillierte Einsatzpläne, wer in welcher Verhandlung sitzt.«

»Gerne.«

»Ich habe eine Frage.«

Bettina nickt Kai Langenberger zu.

»War es immer das gleiche Gericht, das in all den Fällen auf Freispruch entschied?«

»Nein. Verschiedene Gerichtspräsidenten und verschiedene Beisitzende.«

»Ich sehe noch eine andere mögliche Verbindung«, fährt Kai Langenberger fort.

Einen Moment lang rechnet Bettina damit, dass er sich nun doch selbst ins Spiel bringt.

»Es gibt eine Opferhilfestelle speziell für vergewaltigte Frauen, sie nennt sich Femiscura. Die Sozialarbeiterinnen begleiten die Opfer vor Gericht, damit sie nicht allein hingehen müssen.«

»Die Vergewaltigungsopfer?«, fragt Malou nach.

»Ja.«

»Arbeiten viele Sozialarbeiterinnen bei Femiscura?«

»Nein, ich sehe immer wieder die gleichen Gesichter.«

»Das hat auch was«, kommentiert Bernard. »Eine Sozialarbeiterin, die es mit ihrem Einsatz für die Klientinnen übertreibt und sich selbst zur Richterin aufspielt, wenn der ordentliche Richter einen Freispruch verkündet.«

»Malou, könntest du dem nachgehen?«, fragt Bettina.

»Mach ich.«

»Ich habe auch noch etwas.« Sandro berichtet seinem Team vom psychiatrischen Profil, das Franz Maniuk von der Täterin erstellt hat. Er steht auf und schreibt die wichtigsten Stichworte auf den Flipchart. »Damit wir nicht aus den Augen verlieren, wen wir suchen. Überdies bin ich der These Nachahmungstäter im Fall Arnold weiter nachgegangen.«

Sandro befestigt eine qualitativ mangelhafte Fotografie an der Magnetwand. Allen ist sofort klar, dass sie von einer Überwachungskamera stammen muss. Ohne dass sie es voneinander wissen, ergeht es Sandro in diesem Augenblick genau so, wie Bettina vor einigen Minuten: Auch er hat eine Neuigkeit zu verkünden – auch er hält einen Teil der Informationen zurück. Allerdings aus anderen Gründen.

»Ich habe die Meldung erhalten, dass sich Kollegen in einer Bar über die Stöckelschuh-Morde ausgetauscht haben. Konkret sprachen sie über Leichen in Stöckelschuhen und auch über den Socken am Penis. Es tut hier nichts zur Sache, wer so unvorsichtig war, sich in einem öffentlichen Lokal über Interna zu unterhalten.« Sandro vermeidet es bewusst, zu Irena zu blicken. »Wenigstens wurde mir sofort Bericht erstattet. Es ist möglich, dass ein Mann, der ein Stück weiter weg an der Bartheke saß, etwas von dem Gespräch aufgeschnappt haben könnte. Mit der Auswertung der Aufnahmen der Überwachungskamera hatten wir ausnahmsweise mal Glück: Wir haben eine ziemlich gute Aufnahme des Mannes. Florence …«

»Ja, ich geb’s ein ins Gesichtserkennungsprogramm und durchstöbere das Netz«, antwortet Florence, ohne die Frage abzuwarten.

»Ich frage mich …« Kai Langenberger scheint laut nachzudenken. Erst als alle um ihn herum schweigen, realisiert er, dass er laut gesprochen hat. »Die anderen Männer, die einen Schuh im Paketfach fanden – stehen die immer noch unter Polizeischutz?«

»Ja. Jene, von denen wir wissen, dass sie die Drohung erhalten haben. Womöglich gibt es weitere, die wir mit unserem Aufruf nicht erreicht haben«, antwortet Bettina.

»Gut.«

»Vielleicht genügt das nicht«, wirft Sandro ein. »Der Faktor Zeit arbeitet wie so oft gegen uns, aber in diesem Fall kann es dramatische Auswirkungen haben, wenn wir die Täterin nicht rechtzeitig finden.« Sandro muss nicht erläutern, was er damit meint. »Ich denke, wir sollten einen Lockvogel einsetzen.«

»Einen Lockvogel? Wie möchtest du vorgehen?«, fragt Bettina.

»Wir informieren die Medien offensiv über die Fälle, auch darüber, dass weitere Personen in Gefahr sind. Gleichzeitig verbreiten wir die Nachricht, dass potenzielle Opfer zunächst unter Polizeischutz standen, dass der aber aus Kostengründen eingestellt werden musste – was natürlich nur ein Bluff ist. Mindestens eines der potenziellen Opfer zieht sodann in die eigene Wohnung zurück, während wir im Haus ein Einsatzteam positionieren. Schlägt die Täterin zu, sind wir vor Ort und können sie in flagranti verhaften.«

»Interessante Idee. Sie birgt aber gleich mehrere Risiken«, gibt Kai Langenberger zu bedenken.

»Das Risiko, dass dabei etwas passiert, ist klein – die Chance aber, dass wir die Täterin erwischen, ist dafür umso größer«, hält Sandro entgegen. »Wir müssen ihr zuvorkommen, statt immer einen Schritt hinter ihr herzurennen. Natürlich muss die Zielperson sich damit einverstanden erklären. Was meint ihr?«

»Guter Plan«, sagt Bernard.

»Risikoreich, aber ich bin dafür«, meint Florence.

Kai Langenberger nickt zustimmend.

»Ja, das machen wir«, erklärt Bettina.

»Gibt es eine Zielperson, die sich besonders eignet?«

Malou zögert nicht den Bruchteil einer Sekunde. »Thomas Sahli. Allerdings muss ihm ein Mann unsere Idee verklickern.«