Der Fall liegt wie ein Spinnennetz vor Bettina: Dutzende Fäden führen in verschiedene Richtungen, doch sie weiß nicht, welcher von ihnen ins Ziel führt, in die Mitte des Netzes, dorthin, wo die Spinne sitzt. Die Kolleginnen und Kollegen sind alle auf eine Spur angesetzt, bleibt nur zu hoffen, dass eine davon die richtige ist. Bernard kümmert sich um Thomas Sahli, den sie heute zum Lockvogel auserwählt haben. Bernard hat den Auftrag übernehmen müssen, einzig, weil er ein Mann ist, was völlig absurd klingt, aber nur so haben sie eine Chance, dass Sahli das Spiel mitspielt. Es wäre zu schön, wenn die Killerin in die Falle tappen würde. Florence wird sich an Bernards Stelle um die Kollegen kümmern, die bei Gericht für die Bewachung zuständig sind. Die Einsatzpläne sollten einfach zu beschaffen sein und werden sie hoffentlich einen Schritt weiterbringen. Malou ist auf dem Weg zur Organisation Femiscura, die Vergewaltigungsopfer begleitet, um dort die Sozialarbeiterinnen zu befragen. Sandro bereitet die Pressemeldung vor, mit der sie einerseits über die Mordserie informieren, andererseits den Köder für die Täterin auswerfen.
Sie selbst sitzt vor jenem Spinnenfaden, von dem sie sich wünschte, dass er sich wie von Zauberhand in Luft auflöste. An den sie eigentlich gar nicht denken mag und den sie dennoch nicht einfach übergehen kann. Am Anfang des Fadens steht der Name Kai Langenberger: Der Staatsanwalt, der das einzige verbindende Element zwischen den Opfern ist – mit Ausnahme von Stephan Arnold. Was nichts bedeuten muss, aber alles bedeuten kann. Nur weiß Bettina nicht so recht, wie sie diese Spur verfolgen soll. Also beginnt sie mit dem Naheliegendsten, was man tut, wenn man etwas mehr über einen Menschen erfahren will, den man kennt und doch nicht kennt: Sie gibt den Namen Kai Langenberger in die Suchmaschine ein.
Zuoberst auf der Resultate-Liste erscheint der Link zur offiziellen Webseite der Berner Staatsanwaltschaft, auf der Langenberger aufgeführt ist. Alle anderen Links führen zu Medienseiten und Artikeln, in denen Aussagen des Staatsanwalts zitiert werden. Die Interviews sind alle beruflicher Natur und drehen sich meist um Gewalttaten, die vor Gericht verhandelt wurden.
Ansonsten findet Bettina nichts. Kein LinkedIn- und kein Facebook-Profil des Staatsanwalts, kein Instagram-, kein Twitteraccount. Kai Langenberger scheint nirgends in den sozialen Medien aktiv zu sein. Das ist an sich nicht verwunderlich; die meisten Staatsanwälte schützen ihr Privatleben, weil sie sich in ihrem Job mehr Feinde als Freunde machen, und zwar die Art von Feinden, die vor nichts zurückschrecken. Doch Bettina stößt auch auf keine beruflichen Hinweise. Sie findet weder heraus, wo Langenberger studiert hat, noch stößt sie auf Fachpublikationen, die er verfasst hat, oder auf berufliche Stationen vor seiner Zeit als Staatsanwalt.
Bettina schlägt Kai Langenberger im polizeiinternen Personenverzeichnis nach. Die einzige zusätzliche Information, die sie hier findet, ist seine Festnetz-Telefonnummer und die Wohnadresse im Berner Brunnadernquartier. Sie tippt zuerst die Festnetznummer, dann die Adresse in das allgemeine elektronische Telefonbuch ein. Auch hier: kein Treffer. Also ist niemand sonst unter seiner Nummer oder seiner Adresse eingetragen, keine Familie. Bettina versucht, sich Kai Langenberger als Vater vorzustellen oder als späten Single, aber keines der Bilder will richtig zu ihm passen.
Sie hat damit gerechnet, dass sie auf diesem Weg nicht viel über ihn in Erfahrung bringen wird, aber so gut wie gar nichts? Irritierend. Selbst für einen Staatsanwalt ist es nahezu unmöglich, keine Spuren im Internet zu hinterlassen.
Eigenartig. Spontan greift Bettina zum Autoschlüssel. Wenige Minuten später fährt sie aus der Einstellhalle und lässt sich von ihrem Navi zu Langenbergers Wohnadresse dirigieren. Dort angekommen, stellt sie den Wagen auf einem Parkfeld am Straßenrand ab. Bettina blickt auf das zweigeschossige Einfamilienhaus, ein alter Sandsteinbau, wohl aus den frühen Neunzehnerjahren, umgeben von einem üppigen Garten. Die Villa liegt verlassen da. Kein Auto in der Einfahrt, keine Fahrräder, nichts, das auf ein Familienleben hindeuten würde. Für eine alleinstehende Person wirkt das Haus viel zu groß.
Bettina bleibt eine Weile sitzen und fragt sich, was sie hier genau macht. Was das bringen soll: Auf die verlassene Villa des Staatsanwalts zu starren, einzig, weil er in mehreren Vergewaltigungsdelikten die Anklage geführt hat. Auf einmal glaubt sie, sich verrannt zu haben. Sie wird tun, was sie von Anfang an hätte tun müssen: Sie wird ihn darauf ansprechen. Sie wird merken, dass sich in ihrem Kopf grundlos ein abstruser Verdacht zusammengebraut hat, der sich im Nu in nichts auflösen wird.
Trotzdem stoppt Bettina ihren Wagen auf dem Weg zurück zum Präsidium ein weiteres Mal – vor der Wohnung eines Mannes, der ebenfalls im Dienste des Rechts stand und der sich in falsch verstandener Pflichtausübung schuldig gemacht hat. Bettina steigt aus und drückt auf die Klingel ihres früheren Kollegen Felix Winter, der erst vor Kurzem unfreiwillig in den vorzeitigen Ruhestand geschickt worden ist.
Hinter der Tür vernimmt sie Musik, Verdi. Der Schlüssel dreht sich im Schloss.
»Bettina!«, ruft Winter laut aus, als er sie erblickt. Er sieht zufrieden aus und trägt zu ihrer Überraschung eine Kochschürze mit roten Herzen drauf. »Wie schön, dich zu sehen, komm rein, ich kann die Küche nicht verwaist lassen.«
Schon sieht sie nur noch seinen Rücken, der in der Wohnung verschwindet. Sie schüttelt amüsiert den Kopf und folgt ihm in die Küche, aus der ihr ein hervorragendes Duftgemisch entgegenströmt. Es riecht in Winters Küche wie auf einem Markt in Indien.
»Ich teste gerade ein neues Rezept. Indisches Butterhühnchen, begleitet von einem Palak Paneer, Dal und Chapati. Hätte ich gewusst, dass du kommst, hätte ich etwas mehr gemacht.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass du kochen kannst.«
»Ich hatte ja früher nie Zeit dafür. Aber Kochen hat mich schon immer fasziniert. Wenn mich jeweils ein Fall umtrieb und um den Schlaf brachte, habe ich mir zur Entspannung Kochsendungen angeschaut. Jetzt komme ich endlich dazu, alles auszuprobieren.« Felix Winter sagt es mit einem Lachen im braun gebrannten Gesicht. Er sieht um Jahre jünger aus als früher, als er noch im Dienst stand. Bettina fühlt sich daneben alt und ausgepowert.
»Aber du bist wohl kaum wegen meiner Kochkünste hier.«
»Ich wünschte, es wäre anders, aber ich habe tatsächlich ein Problem.«
»Erzähl. Ich höre zu. Es stört dich doch nicht, wenn ich hier weiterarbeite?« Felix Winter rührt in der Pfanne, in der die Linsen kochen.
So erzählt Bettina ihrem früheren Kollegen von den Mordfällen, den Leichen, die nackt gefunden wurden, mit den roten Schuhen an den Füßen, während Felix Winter den Spinat mit dem Frischkäse würzt. Sie berichtet ihm, was sie über die Gerichtsverfahren und die Freisprüche herausgefunden hat, als er den Ingwer schält und die Frühlingszwiebeln schneidet. Sie schildert, dass Staatsanwalt Kai Langenberger in fünf der sechs Fälle die Anklage führte, und sieht zu, wie Winter aus verschiedenen Gewürzen eine Curry-Paste zaubert.
»Kai Langenberger ist der einzige Verbindungspunkt zwischen den Fällen«, schließt Bettina ihre Ausführungen. »Ich kann nicht benennen warum, aber ich habe ein seltsames Gefühl.«
»Du hast ihn noch nicht darauf angesprochen?«, fragt Felix Winter, ohne vom Schneidebrett aufzublicken.
»Nein.«
»Gut. Ich verstehe dein Gefühl. Wenn es keine andere Verbindung gibt, gehört Kai Langenberger zu den Verdächtigen.«
Bettina ist einerseits erleichtert, dass Felix Winter das ebenso sieht, andererseits beunruhigt. Insgeheim hat sie sich gewünscht, dass Winter ihren Verdacht als Unfug abtut und die Ermittlungen ihren normalen Verlauf nehmen könnten. Gleichzeitig fühlt sie sich bestätigt: Sie hat keine Hirngespinste. Ihr Verdacht ist nicht aus der Luft gegriffen – selbst, wenn es um einen Staatsanwalt geht.
»Was würdest du tun?«
»Hast du mit Sandro geredet?«
»Nein, noch nicht. Ich habe heute versucht, etwas über Kai Langenbergers Privatleben herauszufinden. Aber ich habe nichts gefunden. Ich weiß nicht einmal, wo Langenberger studiert oder gearbeitet hat, bevor er zu uns gestoßen ist.«
Jetzt blickt Felix Winter zum ersten Mal auf. »Du hast gar nichts gefunden?«
»Nein.«
Felix Winter legt das Messer beiseite, dreht sich zum Spülbecken und wäscht sich die Hände. Dann wendet er sich Bettina zu.
»Sei vorsichtig. Du verdächtigst jenen Mann eines Verbrechens, der die Ermittlungen zu eben diesem Verbrechen leitet. Bevor du den Verdacht aussprichst, muss du dir ganz sicher sein. Du musst etwas in der Hand haben, es braucht mehr als ein ungutes Gefühl. Denn wenn du mit deinem Verdacht falschliegst, kann das fatale Konsequenzen haben. Wenn er will, kann er erwirken, dass du vom Dienst suspendiert wirst.«
»Das scheint einem ja nicht schlecht zu bekommen, wenn ich dich so ansehe«, wirft Bettina ein.
»Ich kann mich nicht beklagen, mir geht es so gut wie schon lange nicht mehr.« Felix sagt es mit einem Lachen, doch er wird sofort wieder ernst. »Aber du bist nicht ich. Du bist zu jung. Du darfst nicht deine Karriere riskieren.«
»Aber wie soll ich etwas herausfinden, solange ich nicht offiziell gegen ihn ermitteln kann?«
»Setze jemand anderes auf ihn an.«
»Wie? Einen Privatdetektiv? Oder was stellst du dir vor? Ich kann doch nicht jemanden mit dem Job beauftragen, das Leben des Staatsanwalts zu durchleuchten.«
»Ich denke nicht an einen Auftrag.«
»An was dann?«
»Eine Mordserie und ein Staatsanwalt unter Verdacht – das klingt doch nach einer spannenden Geschichte.«
»Wie meinst du das?« Bettina zieht den Satz in die Länge, sie glaubt zu verstehen, ist aber nicht sicher, ob sie richtig liegt.
»Für gewisse Leute wäre das ein gefundenes Fressen.« Felix Winter schaut Bettina direkt in die Augen.
»Du denkst an jemand bestimmten«, stellt sie fest.
»Ja. Setze einen investigativen Journalisten auf die Story an.«