Milla ist am Verzweifeln. Jetzt ist nicht mehr nur Nathaniel verschwunden, auch Gundula kann sie auf einmal nicht mehr erreichen. Sie hat heute Morgen Sandro alle Informationen weitergegeben, die sie hatte, es waren ernüchternd wenige. Aber er hat versprochen, alles in die Wege zu leiten, um Nathaniel zu finden. Unmittelbar danach hat sie mehrmals versucht, Gundula anzurufen. Sie ist nicht rangegangen. Milla kann es sich nicht erklären.
Sie will das Handy gerade weglegen, als es Bob Marley’s Everything’s Gonna Be Alright zu spielen beginnt. Ihr Mutmacherlied, wenn in ihrer Welt gerade wieder mal das Chaos herrscht. Auf dem Display steht Kaspars Name.
»Kaspar, guten Morgen!«
»Milla, es ist kein guter Morgen, gar kein guter Morgen. Ich bringe schlechte Nachrichten. Wo bist du?«
»Ich bin in Sandros Wohnung in Bern, wollte aber gerade los.«
»Sandros Wohnung. Das ist gut, das ist sogar sehr gut. Bleib, wo du bist.«
»Kaspar, was ist los, kannst du vielleicht mal Klartext reden?«
»Ich schick dir was, aber bitte nicht erschrecken.«
Millas Handy vibriert, sie stellt das Gespräch auf Lautsprecher und öffnet die Nachricht. Kaspar hat ihr einen Screenshot geschickt. Darauf ist ein bearbeitetes Foto von ihr zu sehen; jemand hat ihr einen Galgen um den Kopf gezeichnet, in ihrer Brust steckt ein gemaltes Messer. Darunter steht: Femoid Milla Nova ist die schlimmste Vertreterin ihrer Spezies. Wer sie eliminiert, wird zum unsterblichen Helden erklärt!
»Scheiße!«, sagt Milla laut. Sie hat damit gerechnet, dass sie aus der Incel-Szene heraus angefeindet werden würde. Aber dass sie auf diese Weise zum Abschuss freigegeben wird, erschüttert sie gleichwohl.
»Du musst das ernst nehmen«, sagt Kaspar. »Dass ihre Drohungen mehr als leere Worte sind, hat das Attentat auf die Frauendisco wohl nur zu deutlich gezeigt.«
»Ich nehme das ernst.«
»Es kursieren auf den Incel-Seiten im Netz auch schon Memes von dir, die verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Du solltest dich eine Weile zurückziehen, flieg auf eine schöne Insel, mach mal Ferien, die hast du dir auch verdient.«
»Danke, Kaspar, ich denke darüber nach.«
»Nicht nachdenken, machen!«, ruft ihr Cousin. Milla hört die Sorge in seiner Stimme.
»Ich passe auf mich auf, versprochen. Kannst du mir alles schicken, was du dazu findest, damit ich es der Polizei zeigen kann?«
»Mache ich.«
»Danke.«
»Milla?«
»Ja?«
»Bitte sei vorsichtig. Keine Geschichte ist es wert, dafür sein Leben zu riskieren. Ich will, dass du uns noch eine Weile erhalten bleibst.«
»Versprochen.«
»Mach’s gut.«
Milla legt das Handy auf den Küchentisch. Sie wollte gerade los zu Gundula. Sie wollte Nathaniel suchen. Nathaniel, der womöglich von jenen Menschen gefangen gehalten wird, die ihr den Tod wünschen.
»Scheiße!«, sagt Milla noch einmal laut.
Da singt Bob Marley erneut Everything’s Gonna Be Alright. Milla schaut auf das Display. Gundula.
»Gundula!«, ruft Milla in den Hörer.
»Nein, ich bin’s, Nathaniel. Es ist alles okay. Gundula hat mich befreit.«
Eine Stunde später sitzt Milla nicht, wie Kaspar ihr geraten hat, auf einer schönen Insel, sondern in der Café-Bar Adriano’s in Bern. Obwohl noch nicht einmal Mittag ist, stehen vor Nathaniel, Gundula und ihr selbst drei Gläser Prosecco, weil Gundula darauf bestanden hat, dass Nathaniels Rettung gefeiert werden muss, und weil Nathaniel um jeden Preis auf seine Retterin anstoßen wollte, er, der eigentlich nicht trinkt.
Milla kommt gar nicht dazu, ihre vielen Fragen zu stellen. Nathaniel und Gundula wechseln sich ab in ihrer Berichterstattung und klingen dabei wie zwei Co-Moderatoren, die gerade einen True-Crime-Podcast aufnehmen. Milla ist entsetzt, als Nathaniel erzählt, wie jemand Mister Sinister mitten im Vortrag unterbrach und ihm ihren Trailer zur Wochenthemen-Reportage zeigte. Und wie ihn die Männer daraufhin überwältigt, gefesselt und gefangen gehalten haben. Sie ist beeindruckt, als sie erfährt, wie Gundula ihren Freund eigenhändig befreit hat.
»Ich konnte doch nicht zu Hause sitzen und nichts tun!«, sagt Gundula.
»Aber wie wusstest du …«
»Ich weiß nicht, woher die Idee gekommen ist, plötzlich war sie einfach da. Weil es mir bei mir selbst schon aufgefallen ist: Gebe ich auf meinem Handy auf Google Maps eine Adresse ein, um mich mit dem Navigator dorthin führen zu lassen, dann erscheint die zuletzt gesuchte Adresse ebenso auf meinem Laptop, sobald ich Google Maps öffne und ins Suchfeld klicke. Unter dem Suchfeld werden dann etwa die letzten drei gesuchten Adressen aufgelistet, in chronologischer Reihenfolge, ungeachtet dessen, ob ich die Adresse auf dem Laptop oder auf dem Handy gesucht habe.«
»Das wusste ich nicht«, sagt Milla.
»Keine Ahnung, wie das funktioniert, wahrscheinlich weil alles über denselben Google-Account läuft, der die Geräte synchronisiert. Egal, ich ging also in Nathaniels Zimmer und setzte mich an seinen Computer, öffnete Google Maps und tippte oben links in das leere Suchfeld. Und da stand sie: Die Adresse, die Nathaniel eingegeben hat, um den Veranstaltungsort zu finden. Das Satellitenbild zeigte mir, dass es sich um eine abgelegene Werkhalle am Oltner Stadtrand handelte. Also fuhr ich hin.«
»Für einmal war es ein Segen, dass Google fast alles über uns weiß!«, kommentiert Nathaniel.
»Als Erstes entdeckte ich James, der draußen im Hof angebunden war.«
»Ich hörte ihn kläffen.«
»Und dann Nathaniel.«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich war, Gundulas Stimme zu hören.«
»Er lag gefesselt auf einem Stuhl auf dem Boden. Es war entsetzlich, ihn so zu sehen.«
»Für mich war es der schönste Moment in meinem Leben.«
»Die Schweine! Zum Glück war keiner da, ich glaube, ich hätte sie umgebracht«, sagt Gundula im Brustton der Überzeugung.
Milla schaut ihre Freunde an, die kleine Gundula, die einmal mehr bewiesen hat, dass sie die Allergrößte ist, und den blinden Nathaniel, der tapferste Mensch, den Milla kennt. Am liebsten würde sie die beiden lange und innig umarmen.
»Und jetzt müssen wir zur Polizei«, fährt Gundula fort, ohne eine Atempause einzulegen. »Dringend.«
»Ich habe Sandro bereits informiert, dass Nathaniel heil zurück ist.«
»Darum geht es nicht – wir müssen ein Attentat verhindern«, sagt Nathaniel.
»Wir müssen was?«, fragt Milla.
»Sie planen ein weiteres Attentat, und zwar schon morgen Abend.«
»Wo?«
»Das weiß ich nicht.«
»Auf wen?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Nathaniel, warum glaubst du, dass sie ein Attentat geplant haben?«, fragt Milla nach.
»Sie sprachen von einem Event mit über hundert Frauen. Sie sprachen von Waffen und von einem finalen Akt.«
»Aber du hast nicht gehört, wann und wo das stattfinden soll?«
»Ich weiß nur, dass es irgendetwas sein muss, das morgen um sechs Uhr beginnt.«
»Wir müssen sofort mit Sandro reden.«
Milla blickt auf die Uhr. Der Polizei bleiben genau achtundzwanzigeinhalb Stunden, um ein weiteres Attentat auf Frauen zu verhindern.