Er hat versucht, mich anzurufen. Ich bin nicht rangegangen. Ich kann jetzt nicht mit ihm reden. Unmöglich. Ob er etwas ahnt? Er wäre der Einzige. Die Polizei hat auf jeden Fall keine Ahnung. Sie glaubt, sie habe eine Spur. Dass ich nicht lache!
Ich habe heute in einer Online-Zeitung davon gelesen. Sie haben die Medien über die drei Morde informiert, ohne die Namen der Opfer zu nennen. Das ist eine Enttäuschung. Ihre Namen gehören an einen Pranger, inklusive ihrer Schuld und ihrem Verdikt: die Todesstrafe. Sie schreiben in dem Artikel von bisher drei Toten. Also haben sie ihn doch noch gefunden. Hat lange genug gedauert.
Sie haben drei Leichen, und sie fürchten, dass es weitere geben wird, gleichzeitig sind sie völlig ahnungslos. Sie haben jemanden im Visier. Sie haben sogar ein Bild von ihm veröffentlicht, die Aufnahme einer Überwachungskamera, man sieht ihn von oben herab. Natürlich haben sie geschrieben, das sei nicht der Mann, den sie als Täter verdächtigten. Sie behaupten, das sei jemand, der ein wichtiger Zeuge sein könnte. Bullshit. Es gibt keine Zeugen. Ich habe keine Ahnung, wer der Kerl ist, war wohl im falschen Moment am falschen Ort. Auf jeden Fall fürchte ich mich nicht. Ich weiß, dass auch dieser Mann nichts weiß, er stellt für mich keine Gefahr dar. Gut für mich, wenn sie jemanden verdächtigen, der nichts damit zu tun hat. Ich frage mich, warum sie so sicher sind, dass der Täter ein Mann ist – wohl, weil sie einer Frau eine solche Mordserie nicht zutrauen.
Ich geh rüber in die Küche, fülle die Gießkanne, der Bauernkaktus auf dem Sims des Badezimmerfensters kriegt nur drei, vier Tropfen. Im Wohnzimmer gieße ich erst die Aloe Vera, danach die Amaryllis. Die Pflanzen mögen es nicht, wenn ich die Reihenfolge wechsle.
Sie haben in dem Artikel geschrieben, dass die Toten nackt waren und rote Stöckelschuhe trugen. Über die Socken und die Masken kein Wort. Dabei wäre das wichtig! Ich wollte sie bloßstellen, und jetzt sieht sie gar niemand, und die Polizei verschweigt das Essenzielle. Vielleicht sollte ich doch selbst Fotos von den Opfern machen, in ihrer lächerlichen Hilflosigkeit und männlichen Hässlichkeit, und die Bilder nach den Taten an die Medien schicken. Auch die Todesursache haben sie verschwiegen. Sie haben einzig berichtet, dass die Männer vor der Tat bedroht wurden, einen Stöckelschuh im Paketfach fanden, mit aufgespießtem Foto. Erneut haben sie dazu aufgerufen, dass sich melden soll, wer einen solchen Schuh erhalten hat. Sodass sie wie die anderen feigen Ratten gleich aus ihren Häusern flüchten können.
Die Polizei warnt davor, dass ich wieder zuschlagen könnte. Um das zu wissen, sind keine hellseherischen Fähigkeiten gefragt. Das Erbärmlichste ist ihre Täterbeschreibung: sozial verwahrloster, wenig intelligenter Narzisst, darum besonders gefährlich. Was fällt denen ein? Wie kommen die darauf? Verwahrlost und minderbemittelt! Als morde hier wahllos ein Psychopath! Nichts haben die verstanden, rein gar nichts. Es ist zum Heulen.
Ich muss mich beruhigen. Die Kanne ist leer, ich hole nochmals Wasser, gieße die Kentia-Palme und streiche ihr sanft über die Blätter.
Sie verkennen meine Mission. Ich töte nicht aus Lust, sondern aus Notwendigkeit. Im Namen der Gerechtigkeit! Weil diese Männer ihr Recht auf Leben vertan haben und die Polizei an ihnen gescheitert ist. Ich mache nur die Drecksarbeit, weil die Justiz versagt hat. Minderbemittelt! Dabei muss mir das erst mal einer nachmachen, so geschickt zu richten, dass keiner mich kriegt!
»Pachira, du Schöne«, sage ich zu meiner Pflanze im Schlafzimmer, während ich ihr Wasser gebe. Sie ist meine Liebste.
Und dann steht da noch dieser eine, kleine Satz in dem Artikel, der mich besänftigt und gleichzeitig in eine kleine Aufregung versetzt: Aus Kapazitätsgründen ist es der Polizei nicht länger möglich, die potenziellen nächsten Opfer unter Schutz zu stellen. Kein Polizeischutz. Keine Dauerüberwachung. Ich bin sicher: Wenn eine Weile nichts passiert, werden sie bald wieder in ihre Wohnungen zurückkehren. Der Mensch ist nicht so flexibel, wie er denkt. Er fühlt sich in seinem eigenen Schneckenhaus am wohlsten. Selbst wenn er ahnen müsste, dass das Schneckenhaus zur Falle wird.