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Sandro geht in seinem Büro auf und ab wie ein Tiger in einem viel zu engen Käfig. Er zwingt sich, vor dem Fenster stehen zu bleiben, blickt hinaus, sammelt seine Gedanken.

Es darf nicht zu einem weiteren Attentat kommen. Das muss um jeden Preis verhindert werden. Das ist im Moment das prioritäre Ziel.

Die Bundespolizei ist informiert und wird tun, was sie kann. Sandro hat den Kollegen auch die Chats und Mails von Mister Sinister zugestellt, die er von Milla erhalten hat, sowie das Bild von Mister Sinister, das sofort in alle Systeme eingegeben worden ist, allerdings ohne klares Resultat. Der junge Mann hat ein so durchschnittliches Gesicht, dass das Fotovergleichsprogramm gleich mehrere Dutzend Namen ausgespuckt hat von Männern, die ihm ähnlich sehen. Alle werden jetzt überprüft. Der Besitzer der Lagerhalle, in der Nathaniel den Vortrag besucht hatte und gefangen gehalten wurde, war auch keine Hilfe. Er hat die Halle gar nicht vermietet. Sie steht schon seit längerer Zeit leer – wahrscheinlich haben sich die Incels illegal Zugang verschafft. Fehlanzeige auch hier.

Sandro hat Florence damit beauftragt herauszufinden, wer der Mann hinter dem Pseudonym Mister Sinister ist. Sie ist besser und schneller als ihre Kollegen bei der Bundespolizei, das war mit ein Grund, warum er sie ins Team geholt hat. Sandro überlegt unterdessen, welches das Ziel der Attentäter sein könnte. Er setzt sich an den Computer und scrollt durch alle Veranstaltungskalender des Kantons Bern. Er schreibt sämtliche Anlässe heraus, die morgen Freitag um achtzehn Uhr beginnen. Es sind viele. Die ganze Schweiz scheint an diesem Freitag irgendwo zu feiern oder ein Konzert zu besuchen oder ein Theater oder eine Disco. Trotzdem hat er das Gefühl, dass keiner dem Beuteschema der Incels entspricht. Gut möglich, dass sie nicht im Kanton Bern zuschlagen wollen, was das Ganze nicht besser macht. Seine Kollegen in den anderen Kantonen sind ebenfalls informiert, er kann nur hoffen, dass sie die Angelegenheit ernst genug nehmen. Er wünscht niemandem ein Massaker, wie sie es letzte Woche erlebt haben.

Auf einmal fühlt sich Sandro unendlich müde. Seit dem Attentat hat er sich nicht einmal zurücklehnen können. Erst die vielen toten Frauen, dann die Mordserie, in der sie immer noch keine Fährte haben, nur viele Spuren, die sich alle in nichts aufzulösen scheinen. Er möchte nur noch eines: Sich hinlegen, die Augen schließen, alle seine Sorgen vergessen und so lange schlafen, bis er ausgeruht und entspannt von selbst wieder aufwacht. Doch das ist nicht drin.

Vielleicht, überlegt Sandro, handelt es sich gar nicht um einen offiziellen Anlass, der im Veranstaltungskalender zu finden ist. Er öffnet eine Suchmaske und tippt die Begriffe Veranstaltungen für Frauen Kanton Bern ein. Schon der erste Blick auf die Liste der Ergebnisse zeigt ihm, dass er hier thematisch richtig liegt. Er klickt eine Webseite mit dem Titel Zwölf Aktionstage gegen Gewalt an. Darauf wird für morgen Freitag ein Selbstverteidigungskurs für Queers angekündigt. Damit du wieder sicherer auf der Straße unterwegs sein kannst, genau so, wie du bist, steht im Begleittext. Wie weit ist unsere Gesellschaft gekommen, dass solche Kurse nötig sind, fragt sich Sandro. Ort wird nach Anmeldung bekannt gegeben. Auch das verrät ihm, dass sich die Queer-Community nicht sicher fühlt; es steht da nur, dass der Kurs in der Stadt Bern stattfindet. Als Veranstalter ist eine Schwulen- und Lesbenorganisation angegeben. Sandro sucht nach einer Telefonnummer, findet sie im Netz und ruft an.

Es braucht einiges an Überzeugungsarbeit, bis ihm der Mann am anderen Ende der Leitung glaubt, dass er wirklich für die Polizei arbeitet und nicht unter Vorhalt falscher Tatsachen versucht, den Veranstaltungsort in Erfahrung zu bringen. Der Mann, der sich mit Giorgio vorgestellt hat, verrät ihm zwar »aus Sicherheitsgründen« noch immer nicht, wo der Verteidigungskurs stattfindet, aber immerhin bringt Sandro in Erfahrung, dass der Kurs erst um zwanzig Uhr beginnt. Auf die Nachfrage, ob er von Versammlungen oder Veranstaltungen explizit für Frauen oder Queers wisse, die Freitagabend um achtzehn Uhr begännen, verneint Giorgio. Eine große Hilfe ist er nicht.

Sandro arbeitet sich weiter durch die Liste der Suchergebnisse. Er stößt auf Schulungen und Referate für Frauen des Schweizerischen Bibelbundes, die aber allesamt erst am Wochenende stattfinden. Eine andere religiöse Gruppierung bietet unter dem Namen Frauen- und Mütterliga verschiedene Termine für Begegnungen, Austausch und gemeinsames Sein an, doch auch hier stimmen die Anfangszeiten nicht mit dem überein, was Nathaniel gehört hat. Eine Webseite mit dem Namen Frauen im Tourismus lädt ebenfalls ausschließlich Frauen zu Veranstaltungen ein, die nächste findet am Freitag in einer Weinhandlung statt. Abends um sechs. Aber die Teilnehmerzahl ist auf zwanzig beschränkt; keine hundert Frauen, wie Nathaniel erzählt hat. Der nächste Link führt zur Partei Die Bürgerlichen – Frauen: Die Frauensektion der Bürgerlichen, die sich als Mittepartei verkauft, obwohl sie fast immer rechte Positionen vertritt. Auf der Seite der Bürgerlichen Frauen wird zur Delegiertenversammlung eingeladen: Freitagabend um achtzehn Uhr im Restaurant Bären in Belp.

Freitagabend um sechs. Eine Delegiertenversammlung einer Frauensektion. Könnte es das sein? Doch woher sollen die Incels von der Versammlung wissen? Sandro klickt das Programm an. Liest die Tagesordnungspunkte, beim siebten hält er inne: Die Bürgerlichen Frauen wollen Frauen besser vor Gewalt schützen – Diskussion über Motion für eine Revision des Sexualstrafrechts.

Sandro klickt auf die Zeile, die mit einem Artikel verlinkt ist. Er liest den kurzen Text, der zum Traktandum sieben aufgeführt ist.

Allein im Kanton Bern kommt es fast jeden zweiten Tag zu einer Anzeige wegen Vergewaltigung. Dabei werden nur etwa zehn Prozent der Delikte auch angezeigt. Und nur wenige der Täter werden nach einer Anzeige zur Rechenschaft gezogen. »Zu Vergewaltigung kann man sagen: Es ist ein nahezu straffreies Delikt«, erklärt Brigit Vogel, Präsidentin der Bürgerlichen Frauen. »Das Problem ist, es handelt sich um ein Vier-Augen-Delikt, und das Gesetz verlangt heute ein ›Nötigungsmittel‹.« Der Täter müsse Druck oder Zwang ausgeübt haben, um verurteilt werden zu können, das Opfer müsse sich dagegen zur Wehr gesetzt haben. Dabei werde verkannt, dass es viele Opfer gebe, die sich eben gerade nicht wehren könnten, aus Angst oder auch wegen eines Loyalitätskonflikts. »Hier braucht es ganz klar eine Gesetzesänderung.«

Sandro spürt ein leichtes Kribbeln auf der Haut. Mister Sinister, der Vergewaltigungen als sein legitimes Recht ansieht und sogar Kurse anbietet, wie man dabei am besten vorgeht, um nicht erwischt zu werden, wird kaum Freude an einer angestrebten Gesetzesverschärfung haben. Es ist möglich, dass Sandro falschliegt. Aber ebenso besteht die Möglichkeit, dass er gefunden hat, wonach er sucht; dass Mister Sinister und seine Anhänger die Bürgerlichen Frauen im Visier haben, in einem Saal, der bestimmt dreihundert Leute fasst, ohne dass es polizeiliche Schutzmaßnahmen oder Eingangskontrollen gibt. Ein Ort, an dem jeder ohne Weiteres mit einem Gewehr hineinspazieren und wahllos um sich schießen kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sandro recht hat, liegt vielleicht bei zwanzig Prozent. Das ist mehr als genug. Er greift zum Telefon.