63.

Aus Millas Handy erklingt Bob Marleys Stimme. Sie kennt die Nummer nicht, sie wird den Anruf nicht annehmen, nicht jetzt, sie will nicht gestört werden. Der Song verklingt – und beginnt gleich nochmals von vorne. Jetzt geht Milla doch ran. Als wäre sie so programmiert worden: Wenn jemand zweimal hintereinander versucht, sie zu erreichen, dann wird es wichtig sein.

»Nova«, meldet sie sich.

»Hallo Milla. Hier ist Bettina Flückiger.«

Milla geht in Gedanken blitzschnell alle Bettinas durch, die sie kennt. Sandros Kollegin?

»Ich bin Sandros Kollegin, Abteilung Leib und Leben.«

Millas Herz setzt einen Moment lang aus, um dann sofort in doppelter Geschwindigkeit weiterzurasen.

»Ist etwas passiert? Was ist mit Sandro?«

»Nein, keine Sorge, ich rufe nicht wegen Sandro an.«

Bettina, jetzt fällt es Milla wieder ein, ist jene Kollegin von Sandro, die vor der Frauendisco die verletzte Frau begleitet hat und die die Hand vor ihre Kamera hielt. Die Bilder der schrecklichen Nacht flammen erneut vor Millas innerem Auge auf.

»Ich melde mich privat. Also schon auch beruflich. Aber – Sandro weiß nicht, dass ich dich anrufe, und er sollte es auch nicht erfahren. Können wir uns treffen?«

»Gerne. Ich bin gerade in Bern. Wann und wo wollen wir uns sehen?«, fragt Milla kurz entschlossen.

Der Treffpunkt, den Bettina Milla genannt hat, ist unkonventionell, aber mit Bedacht gewählt; dass sie hier jemandem begegnen, der sie kennt, ist so unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Als Milla die Heiliggeistkirche betritt, das Wahrzeichen unmittelbar neben dem Bahnhof Bern, versucht sie sich zu erinnern, wann sie zum letzten Mal ein Gotteshaus von innen gesehen hat. Es ist so lange her, dass sie es vergessen hat. Es muss bei einer Beerdigung gewesen sein.

Die Kirche ist viel heller, breiter und offener, als Milla es erwartet hat. Sie ist bestimmt schon Tausende Male draußen an der Kirche vorbeigegangen, ohne zu ahnen, wie sie im Inneren aussieht. Sie blickt sich um. Rechts, in einer Reihe etwa in der Mitte des Kirchenschiffs, sitzt eine Person auf einer Bank. Eine Frau. Milla geht auf sie zu und erkennt Bettina wieder, als sie sich neben sie setzt. Bettina, die burschikose, sportlich gebaute Polizistin, stark wie ein Mann, mit breiten Augenbrauen; ein Gesicht, das Milla an eine Skirennfahrerin erinnert, deren Namen ihr nicht einfällt.

»Hallo Bettina«, sagt Milla.

Die beiden Frauen geben sich die Hand.

»Du bist wahrscheinlich überrascht, dass wir uns hier treffen.«

»Geht es um das Attentat in der Reitschule?«, fragt Milla direkt. Das war das letzte Mal, dass sie sich gesehen haben. Milla kommt es vor, als sei es Monate her, dabei war es gerade erst letzte Woche. Die Zeit erscheint verzerrt, wenn zu viel Dramatisches passiert, alles gerät aus dem Rhythmus.

»Nein. Du hast Sandro nicht erzählt, dass du mich dort gesehen hast?«

»Nein.« Das war nicht mal Absicht. Milla hat schlicht nicht mehr daran gedacht, dass sie Bettina dort erkannt hatte.

»Bitte erzähle es ihm nicht, es wissen nicht viele, dass ich vom Attentat persönlich betroffen bin.«

»In Ordnung.«

Milla wartet. Das kann nicht alles gewesen sein.

»Es geht um die Mordserie«, sagt Bettina schließlich. »Du hast davon gehört?«

Milla nickt. »Aber ich weiß nicht viel, nur das, was heute in den Medien erschienen ist. Ich habe die Artikel gerade erst gesehen. Es gibt drei Opfer, sie waren nackt und trugen rote Stöckelschuhe?« Tatsächlich hat sich Milla erst vor weniger als einer Stunde kurz durch die Schlagzeilen des Tages geblättert, als sie versuchte, sich vom geplanten Attentat abzulenken. Auch das nun offiziell publizierte Bild der Überwachungskamera hat sie erneut studiert. Wiederum wurde sie das Gefühl nicht los, den gesuchten Mann von irgendwoher zu kennen. »Der Mann auf dem Bild – ist er verdächtig?«

»Jein, er könnte eventuell ein Nachahmungstäter sein, aber er ist nicht unser Hauptverdächtiger. Ich habe einen anderen Verdacht, der überaus heikel ist. Wenn ich ihn laut ausspreche, gegen die Person vorgehe und sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass ich mich getäuscht habe, riskiere ich meinen Job. Darum sind wir hier.«

In der Sekunde, in der Bettina den Satz ausspricht, ist Milla überzeugt, dass sie von Sandro redet. Dass Bettina sie gleich bitten wird, ihren eigenen Freund auszuspionieren. Doch das kann nicht sein, unmöglich. Nie würde Sandro einen Mord begehen.

»Um wen geht es?«, fragt Milla unsicher.

»Um den verfahrensleitenden Staatsanwalt.«

»Um wen bitte?« Milla ist erleichtert, dass sich die Sache hier nicht um Sandro dreht, und doch kann sie nicht glauben, was sie gerade hört.

»Um Kai Langenberger«, sagt Bettina

»Du glaubst, der Staatsanwalt, der die Ermittlungen in dieser Mordserie leitet, ist selbst der Täter?«

»Ich bin nicht sicher, es ist nur ein vager Verdacht. Aber ich kann ihn nicht ignorieren. Alles, was ich dir jetzt erzähle, ist off the record. Wenn aber was dran ist an der Sache, hast du sie exklusiv. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

In den nächsten fünfzehn Minuten erklärt Bettina Milla im Flüsterton, warum sie Kai Langenberger verdächtigt. Sie erzählt Milla von den Opfern, die alle bereits vor Gericht gestanden haben, fünf von sechs wegen Sexualdelikten. Sie berichtet, dass diese fünf alle freigesprochen worden sind und dass in jedem Fall Kai Langenberger die Anklage geführt hat.

»Das an sich ist zwar auffällig, es kann aber auch Zufall sein«, sagt Bettina. »Sehr seltsam aber mutet an, dass ich bei meiner Recherche über den Staatsanwalt nichts gefunden habe.«

»Wie meinst du das?«

»Es gibt keine Informationen über ihn. Ich habe nicht einmal herausgefunden, wo er studiert hat. Es ist, als würde er außerhalb seines Büros in der Staatsanwaltschaft nicht existieren, und als hätte er keine Vergangenheit.«

»Okay.« In Millas Kopf rotieren die Gedanken. »Ich sehe noch nicht ganz klar. Warum erzählst du mir das alles, und was erwartest du von mir?«

»Ich kann nicht von mir aus gegen den Staatsanwalt ermitteln. Nicht, bevor ich ganz sicher bin, dass mein Verdacht zumindest begründet ist. Du bist Journalistin. Ich weiß, dass du deine Quellen hast und dass du gut bist.«

»Du willst, dass ich in der Vergangenheit von Staatsanwalt Langenberger herumschnüffle?«

»Ich möchte, dass du herausfindest, ob er überhaupt eine Vergangenheit hat.«