64.

Die Sonne ist weg. Die Nacht legt sich über die Gassen der Berner Altstadt und füllt sie mit der sirrenden Energie, die manchen Nächten eigen ist und die den Schlaf vertreibt, sosehr er auch herbeigesehnt wird. Es ist eine jener Nächte, die ganze Städte unter Spannung setzen, in denen Dinge geschehen, die nicht geschehen sollten, und nach denen man am nächsten Morgen sagt: Ich habe geahnt, dass in dieser Nacht etwas passiert. In eben dieser Nacht, in der niemand Schlaf findet und sich alle fragen, woran es liegen mag, wo doch der Mond gar nicht mehr voll ist, lieben sich Nathaniel und Gundula in einer Heftigkeit, die sie beide nicht nur außer Atem bringt, sondern gleichsam in Erstaunen versetzt über sich selbst. Sie lieben sich, als würde noch in dieser Nacht ihr Leben ausradiert. Schwer atmend liegen Nathaniel und Gundula danach schweigend nebeneinander und halten sich an der Hand.

»Ich hoffe so sehr, dass morgen nichts passiert. Dass sie die Täter finden, bevor sie töten können«, sagt Nathaniel plötzlich ins Dunkel hinein, das ihn umgibt, egal ob Tag ist oder Nacht.

»Das hoffe ich auch. Aber sie werden sicher alles tun, was sie können. Zum Glück hast du das Gespräch mitangehört.«

Gundula fährt mit drei Fingern zärtlich Nathaniels Arm entlang.

»Zum Glück hast du mich gefunden. Ich glaube, du hast mir das Leben gerettet. Ich bezweifle, dass die mich einfach wieder hätten gehen lassen. Du bist nicht nur die intelligenteste Frau, die ich kenne, du bist die Größte und die Beste, und ich werde dich immer und immer noch und immer wieder lieben.«

»Ich finde, du neigst gerade ein bisschen zu Übertreibungen. Aber danke!« Gundula sucht im Dunkeln Nathaniels Mund, verfehlt ihn, sodass ihr Kuss feucht unter seinem Wangenknochen landet.

»Ich übertreibe nicht. Ich verdanke dir so viel. Ich liebe dich sehr.«

»Ich liebe dich auch. Auch sehr.«

Jetzt sind beide still, mehr Worte braucht es nicht. Engumschlungen liegen sie da, warten darauf, dass der Schlaf sie zudeckt wie eine sanfte Welle. Bis es klopft, die Tür sich einen Spalt weit öffnet und eine leise Stimme fragt: »Nathaniel, kann ich zu euch kommen? Ich kann nicht schlafen.«

»Klar«, sagen Nathaniel als auch Gundula gleichzeitig und rutschen auseinander. Hinter Silas ist das leise Klacksen von James’ Pfoten zu hören. Auch er wird rastlos bleiben in dieser Nacht.

In einem anderen Bett in der gleichen Stadt liegt ein junger Mann auf dem Rücken, starrt die Decke an und lauscht. Thomas Sahli weiß, dass draußen vor der Tür in einem Zivilfahrzeug zwei Polizisten sitzen. Er weiß ebenso, dass er nur ein Wort sagen muss, und sie werden innerhalb von Sekunden bei ihm sein. Trotzdem hat er Angst. So sehr, dass er sich nicht mehr bewegen kann. Er liegt starr da und lauscht. Jedes Knarren in den alten Mauern des Hauses lässt ihn zusammenfahren. Er hört sein eigenes Herz schlagen. Es rast.

Was, wenn sie schon im Haus ist? Vielleicht versteckt sie sich seit gestern im Keller, und niemand hat sie reingehen sehen. Ich darf nicht einschlafen, ich darf nicht einschlafen, sagt er in Gedanken vor sich hin, ein stilles Mantra, das niemand hört. Nicht einschlafen. Nicht einschlafen. Denn sonst bist du plötzlich tot. Es ist eigenartig. Er hat immer geglaubt, dass er nicht an seinem Leben hänge. Mehr als einmal hat er sich überlegt, seinem kümmerlichen Incel-Dasein ein Ende zu setzen. Einmal hatte er sich sogar schon Tabletten gekauft. Doch da haben sie ihn ausgelacht in der Community; nur Femoids brächten sich mit Pillen um. Also besorgte er sich ein Seil. Nur hat er diesen Knoten nie richtig hingekriegt – oder vielleicht auch nicht richtig hinkriegen wollen. Und jetzt, wo er sein Leben plötzlich bedroht sieht, merkt er, dass er gar nicht sterben will, um keinen Preis, und wenn schon, dann nicht auf diese Art und Weise. Getötet durch die Hand einer Irren!

Er hört was. Sein Körper zuckt zusammen und wird im nächsten Augenblick zu Stein. Etwas hat auf einen Schlag alle Wärme aus ihm herausgesogen. Thomas Sahli ist überzeugt, dass er, wenn ihn nicht zuvor jemand ermordet, den Erfrierungstod sterben wird. Da ist es wieder, das Geräusch. Ein leises Schaben. Auf einmal ist er sicher, dass es Schritte sind, Schritte von jemandem, der will, dass man ihn nicht hört.

»Hallo Polizei!« Thomas Sahli will die Worte in das Mikrofon flüstern, doch sie bleiben in seinem Hals stecken und hören sich an wie ein Husten. »Alarm. Alarm!«

»Wir sind hier, Herr Sahli«, sagt eine Stimme in seinem Ohr, die er keinem der Polizisten zuordnen kann, sie klingt verzerrt, wie eine automatisch generierte Stimme. Was, wenn da draußen gar keiner sitzt?

»Was ist los?«, fragt die Stimme.

»Es ist jemand in meiner Wohnung.«

»Wir kommen.«

Sie werden zu spät sein. Thomas Sahli will aufspringen, will sich verstecken, will sich zur Wehr setzen gegen die Angreiferin, die er hinter der Tür vermutet. Doch er kann sich nicht bewegen. Es ist, als wäre er gelähmt, die Befehle seines Gehirns kommen nicht mehr in den Nerven an, Reizweiterleitung abgeschnitten, zerstört, zu spät.

Er hört, dass sich die Wohnungstür öffnet.

In dem Moment, in dem Bernard Blanc in Thomas Sahlis Wohnung stürmt, sitzt Bettina in einem dunklen Raum, das Licht ist ausgeschaltet, aber die Maschinen blinken und rauschen und piepsen. Die roten und grünen Lämpchen legen einen Hauch von Licht auf Bettinas Gesicht. Sie streichelt Petras Hand, die sich anfühlt wie die Hand einer Toten. Zwei Tage noch, dann will sie Martin Fischer zurückholen in die Welt der Lebenden, sie soll wieder allein atmen können, aufwachen, wieder Petra sein. Ihre Petra. Wie viel geschehen ist, seit Petra schläft. Einerseits ist sie gerade erst noch da gewesen, andererseits fühlt es sich an, als würde zwischen dem Davor und dem Danach ein halbes Leben liegen. Der Anschlag. Das Auffinden des Attentäters. Die Festnahme. Die Toten der Stöckelschuhmörderin. Der schwere Verdacht. Sie wird Petra drei Tage lang zutexten, sobald sie wieder wach ist. Bettina muss bei dem Gedanken lächeln.

»Bald wirst du wieder bei mir sein«, flüstert Bettina. »Bald werden wir wieder zusammen lachen. Du wirst gesund werden. Wir werden leben. Wir werden nur noch tun, worauf wir Lust haben. Ich schmeiße meinen Job hin, und wir gehen auf eine nie mehr enden wollende Reise.«

Bettina streichelt Petras Hand und wünscht sich in diesem Moment nichts mehr, als dass ihre Freundin sie hört und spürt. Nichts anderes ist wichtig. Nur Petras Leben zählt.

»Es darf niemand sterben«, sagt Sandro in eben diesem Moment zu Christian Tschabold, dem Chef des Sonderkommandos, der in seinem Büro sitzt. »Ich will das gesamte Aufgebot morgen Abend in Belp. Wir müssen das Attentat verhindern.«

»Auf die Quelle, die du genannt hast, ist Verlass?«

»Ja.«

»Aber du weißt nicht mit Sicherheit, ob tatsächlich die Parteiversammlung der Bürgerlichen Frauen das Ziel ist?«

»Nein. Gesichert ist: Freitagabend, sechs Uhr, um die hundert Frauen, und vor dem Gebäude muss es einen Parkplatz geben. Passt alles zur Parteiversammlung, überdies dreht sich ein Tagesordnungspunkt um die Verschärfung des Sexualstrafrechts.«

»Leuchtet ein.«

»Es kann sein, dass ich mich irre. Aber wir können kein Risiko eingehen.«

»Verdammt wenig Zeit, um ein Sicherheitskonzept zu erstellen, aber ich fahr heut Nacht noch hin und schau mir das Gelände um das Restaurant Bären an. Morgen früh stelle ich die Gruppen zusammen und informiere sie, ab vier Uhr sind wir bereit, um die Amokläufer in Empfang zu nehmen.«

»Danke. Mehr können wir nicht machen, oder?«

»Findet den Kerl, der dahintersteckt.«

»Die Suche nach seiner Identität läuft auf Hochtouren.«

»Wir sollten ihn fassen, bevor der Angriff beginnt.«

»Und wenn ich mich mit dem Zielort doch irre?«, fragt Sandro.

»Wir behalten die einschlägigen Foren im Auge, vielleicht stellt einer eine Ankündigung ins Netz. Wir müssen flexibel bleiben.«

»Wir könnten die Bevölkerung warnen. Oder alle Veranstaltungen für Frauen absagen lassen.«

»Dann suchen sie sich ein anderes Ziel oder warten drei Wochen. Wir können nicht wegen einer sehr vagen Drohung, die wir nur aus zweiter Hand haben, das ganze Land in Panik versetzen.«

»Auch wieder wahr. Ich hoffe immer noch, dass wir Mister Sinister enttarnen und festnehmen können.«

»Machen wir morgen weiter. Morgen wird ein langer Tag.«

Als Sandro seinen Computer hinunterfährt und sich endlich auf den Heimweg macht, sitzt Milla im Schein der Tischlampe in seiner Küche vor dem Laptop. Sie durchstöbert allerlei Archive, die online zugänglich sind, nach einem Namen, der zum Glück nicht allzu häufig vorkommt: Kai Langenberger. Doch es ergeht ihr genau gleich wie Bettina: Sie findet nichts. Was fast nicht möglich ist – heutzutage hinterlässt jeder irgendwo im Netz eine Spur, insbesondere wenn er an einer öffentlichen Universität studiert, einen juristischen Werdegang zurückgelegt hat und nun ein öffentliches Amt bekleidet. Die einzige Information, die Bettina Milla zu Kai Langenberger geben konnte, war seine Telefonnummer und seine Adresse. Nur bringt sie das keinen Schritt weiter. In der internen Datenbank des Schweizer Fernsehens stößt Milla auf ein Interview, das Langenberger vor drei Jahren einem Kollegen gegeben hat. Er wurde zu einem Urteil in einem Vergewaltigungsfall befragt, bei dem er die Anklage vertreten hat. Der Kommentar, den der Staatsanwalt dazu abgibt, ist inhaltlich für Milla nicht interessant, hingegen die Art und Weise, wie Langenberger spricht: Sie hört deutlich einen Berner Oberländer-Dialekt heraus. Den kann man sich nicht antrainieren, den kriegt man in die Wiege gelegt. Er stammt also aus dem Kanton Bern, und zwar unüberhörbar aus der Bergregion. Aber er ist nicht so weit hinten in den Tälern oder Höhen der Alpen aufgewachsen, dass er wegen seines Dialekts kaum zu verstehen ist, er muss aus der Voralpenregion stammen. Milla tippt auf Thun, Interlaken, Brienz, die Region um die zwei Seen, die sich vor den Alpen zwischen die ersten Hügelketten gebettet haben. Bettina schätzte Kai Langenberger auf etwa fünfundvierzig, auch Milla denkt, dass er Mitte, Ende vierzig sein muss. Also wird er Mitte der Neunzigerjahre das Gymnasium besucht haben, bevor er höchstwahrscheinlich an der Universität Bern Jura studiert hat. Milla sucht nach Gymnasien im Berner Oberland; es gibt nur deren zwei, eines in Interlaken, das andere in Thun. Milla erinnert sich an ihre eigene Zeit im Gymnasium; ihre Abschlussklasse wurde in der lokalen Zeitung mit Bild gefeiert. Damals gab es noch fast in jedem Dorf eine eigene Lokalzeitung, die mittlerweile alle von großen Verlagen aufgekauft und wenig später eingestellt worden sind. Was aber nicht bedeutet, dass auch ihre Archive verschwunden sind. Milla tippt ihr Passwort für die elektronische Mediendatenbank ein, beschränkt die Zeitspanne auf die Jahre 1995 bis 2005 und startet eine Suche mit den Stichworten Matura, Abschlussklasse, Gymnasium Thun und Gymnasium Interlaken.

»Yes!«, sagt Milla laut, als ihr die Suchmaschine eine Liste von Artikeln ausspuckt. Das Lokalblatt Eiger-Zeitung, das tatsächlich noch immer existiert, hat jeweils über die Maturafeiern berichtet und die Fotos der Abschlussklassen dazugestellt. Unter den Bildern sind sogar die Namen der Maturandinnen und Maturanden aufgeführt. Milla startet beim Jahr 2005, liest sich durch die Namen; kein Kai Langenberger. Als sie beim Jahr 1999 ankommt, stutzt sie. In der digitalen Mediendatenbank sind die Faksimile-Artikel nur bis 1999 abgelegt. Zu den älteren Einträgen erhält sie bloß noch Hinweise mit Stichworten zu den Artikeln, keine Bilder, kein Volltext. Wie ärgerlich. Sie öffnet noch einmal einen der Artikel jüngeren Datums. Unter dem Bild steht noch etwas anderes, in kleiner Schrift. Milla greift zum Handy, um den Text unter dem Bild zu fotografieren, damit sie das Foto auf ihrem Screen vergrößern kann. Just in dem Moment, in dem ihr Handy klickt, betritt Sandro die Wohnung. Milla klappt ihren Laptop zu und legt das Handy weg.

»Milla, du bist noch wach.« Sandro nimmt Milla in die Arme.

Wie gut es tut, seinen Körper zu spüren, denkt sie, als sie den Kopf hebt und ihr Mund den seinen sucht.

Nicht nur in der Küche von Sandros Junggesellenwohnung unter den Dächern der Berner Altstadt brennt zu dieser späten Stunde noch ein Licht, auch in einer alten Villa im Berner Brunnadernquartier ist es in einem einzigen Zimmer noch hell. Kai Langenberger sitzt an seinem Mahagoni-Tisch, die Hände vor sich auf die Tischplatte gelegt, die Augen starr geradeaus gerichtet. Er sieht nicht, welche Bücher dort im Regal stehen, er nimmt nichts wahr, nicht das Ticken der Uhr, das aus der Küche herüberdringt, nicht das Radio, das die letzten Nachrichten des Tages sendet. Kai Langenberger ist mit seinen Gedanken weit weg. Sie wiegen tonnenschwer. Das Leben selbst erscheint ihm auf einmal zu gewaltig, nicht mehr tragbar, zu erdrückend. Dabei hatte er gedacht, er hätte die Dämonen besiegt. Doch selbst wenn man meint, mit der Vergangenheit abgeschlossen oder gebrochen zu haben, so holt sie einen doch irgendwann wieder ein. Seinem früheren Ich entkommt man nicht. Erst wenn man stirbt. Der Tod ist auf einmal eine Verlockung. Der Schein der Tischlampe malt tiefe Furchen in Kai Langenbergers Gesicht. Er fragt sich, wie er das hier bloß überstehen soll. Und ob er das überhaupt überstehen will.