Falls er geläutet hat, hat Milla den Wecker nicht gehört. Die Sonne hat sich durchs Fenster auf ihren nackten Rücken gelegt und sie mit ihrer Wärme aus dem Schlaf geholt. Milla setzt sich auf und stellt fest, dass die andere Seite des Bettes leer ist. Sandro ist schon weg. Ihre Augenlider wiegen schwer, sie kriegt sie kaum hoch und tastet halb blind nach dem Handy auf dem Nachttisch. Fast neun. Sie hat zu lange geschlafen. Das Display zeigt ihr drei eingegangene Nachrichten an. Alle von ihrem Chef Wolfgang.
Wo steckst du?
Milla, melde dich!
Wir brauchen dich für den Stöckelschuh-Fall.
Die Mordserie. Wenn Wolfgang wüsste … Tatsächlich steckt sie schon mitten drin im Fall, und zwar tiefer als ihr lieb ist.
Bin schon dran, schreibt sie zurück. Hatte gestern konspiratives Treffen. Falls ich auf der richtigen Spur bin, landen wir einen Coup, alles exklusiv.
Senden. Das muss reichen, um ihren Chef erst mal zu beruhigen.
Milla geht kurz unter die Dusche, stellt das Wasser zunächst auf warm, dann auf eiskalt, und zum Schluss erneut auf warm. Die Haare wäscht sie nicht, dafür hat sie zu wenig Zeit, aber eine Tasse Kaffee passt noch rein. In der Küche sieht sie ihren Laptop auf dem Tisch, genauso, wie sie ihn gestern liegen gelassen hat, als Sandro plötzlich in der Küche stand. Sie fragt sich, wie lange Bettina die Heimlichtuerei durchhalten will; sollte sich ihr Verdacht gegen den Staatsanwalt erhärten, wird sie nicht umhinkommen, es Sandro zu sagen und offiziell gegen Langenberger zu ermitteln. Aber schon klar; Bettina will etwas in der Hand haben, wenn sie den obersten Ermittler mit einem solchen Vorwurf konfrontiert.
Milla klappt den Laptop auf. Die Seite der Eiger-Zeitung mit dem Klassenfoto füllt den Bildschirm. Sie erinnert sich, dass sie es gestern abfotografiert hat, um den winzigen Text neben der Bildlegende zu entziffern. Sie öffnet das Foto auf ihrem Handy, zoomt es mit den Fingern größer und kann so die Schrift entziffern: Fotograf: Werner Abegglen . Milla wiederholt das Prozedere bei den anderen Klassenfotos der Maturanden, die sie in der Mediendatenbank gefunden hat. Allesamt sind vom selben Fotografen aufgenommen worden. Ein Dorffotograf, einmal vom Gymnasium engagiert, und jedes Jahr wieder für das obligate Abschlussfoto aufgeboten. Milla sucht im elektronischen Telefonbuch nach dem Fotografen und wird sofort fündig: Photo-Atelier Abegglen, Interlaken . Es gibt ihn noch. Milla wählt die angegebene Nummer.
»Werner Abegglen«, meldet sich eine Männerstimme, die Milla sofort sympathisch ist.
»Guten Tag, Herr Abegglen. Hier ist Milla Nova von der Sendung Wochenthemen . Ich recherchiere in einem Kriminalfall und interessiere mich für alte Klassenfotos, die Sie in den Neunzigerjahren aufgenommen haben.«
»Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse.«
Milla stutzt. »Sind Sie sicher? Unter den Fotos in der Eiger-Zeitung ist Ihr Name angegeben.«
»Mein Name gehört nicht mir allein. Mein Vater hat die Aufnahmen gemacht. Ich war in den Neunzigern noch ein Teenager.«
Milla hat nie verstanden, warum manche Eltern ihren Kindern den eigenen Namen geben, aber gerade in ländlichen Regionen war das lange Zeit üblich.
»Ist Ihr Vater … könnte ich ihn nach den Fotos fragen?«
»Leider nein. Mein Vater ist vor fünf Jahren gestorben.«
»Das tut mir leid, entschuldigen Sie die Störung. Ich wollte nicht …«
»Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen. Was wollten Sie denn genau von meinem Vater?«
»Ich suche die Abschlussfotos der Maturanden der Gymnasien Interlaken und Thun aus den Jahren 1995 bis 1998. Im Medienarchiv sind die Bilder erst ab 1999 einsehbar. Wissen Sie, ob Ihr Vater die Fotografien aufbewahrt hat?«
»Das hat er bestimmt. Mein Vater hat nie etwas weggeschmissen. Sein Archiv belegt noch immer einen ganzen Raum im Atelier. Ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, es aufzulösen. Sie werden nicht lange suchen müssen, ich bin sicher, er hat die Aufnahmen fein säuberlich nach Datum abgelegt und beschriftet. Ich kenne niemanden, der diesbezüglich pedantischer war als mein Vater.«
»Könnte ich vorbeikommen und mir die Aufnahmen ansehen?«
»Klar, ich bin da. Rufen Sie mich an, wenn Sie vor der Tür stehen. Die Klingel ist kaputt.«
Als Milla eineinhalb Stunden später vor dem alten Häuschen in Interlaken steht, das aussieht, als hätte die Zeit es vergessen, presst sie ihren Finger mit aller Kraft auf den überdimensionierten, rostigen Knopf neben der Tür. Erst nach dem dritten Versuch fällt ihr wieder ein, dass die Klingel nicht mehr funktioniert. Kein Wunder beim Zustand des Hauses. Die Fensterläden hängen schief und sind verwittert, im ersten Stock über dem Atelier ist eine Scheibe eingeschlagen, und die Fotografien in der Auslage unter dem historisch anmutenden Schriftzug Photo-Atelier Abegglen sind so stark vergilbt, dass sich nicht mehr sagen lässt, ob es Schwarz-Weiß-Aufnahmen sind oder ob sie mal farbig waren. Falls Werner Abegglen junior wie sein Vater als Fotograf arbeitet, würde eine Schaufensterneugestaltung nicht schaden.
Milla ruft nochmals an, und der Mann, der kurz darauf die knarrende Holztür öffnet, ist alles andere als altmodisch. Er ist sportlich gekleidet, braun gebrannt und verwegen gut aussehend. Milla ertappt sich bei dem Gedanken, dass sie einen Kerl wie Abegglen nicht aus ihrem Bett vertreiben würde. Er begrüßt sie mit einer natürlichen Freundlichkeit. Milla weiß auf Anhieb, dass sie sich mit Werner Abegglen verstehen wird. Er gehört zu dieser Art von Menschen, bei denen man vom ersten Moment an das Gefühl hat, sie ein Leben lang zu kennen.
»Willkommen im Reich meines Vaters.« Werner Abegglen tritt einen Schritt zurück, um Milla eintreten zu lassen.
»Arbeiten Sie auch als Fotograf?«
»Wollen wir nicht Du sagen? Wir haben es hier nicht so mit dem Siezen.«
»Einverstanden, ich bin Milla. Arbeitest du auch als Fotograf?«
»Nein, das ist heute zu wenig lukrativ. Fotografieren ist nurmehr ein Hobby. Ich verdiene mein Geld als Gleitschirmpilot.«
»Als Gleitschirmpilot? Ich dachte, das sei ein Hobby.«
»Ich biete Tandemflüge an und bringe Touristen aller Art mit meinem Schirm ins Tal.«
»Dann melde ich mich mal bei dir, sobald ich meine Höhenangst überwunden habe.«
»Ich kann dir dabei helfen.«
»Wobei?«
»Beim Überwinden der Höhenangst.«
Milla muss lachen. Von Werner Abegglen würde sie sich in der Tat gerne durch den Himmel tragen lassen. »Vielleicht kannst du mir erst mal helfen, die richtigen Fotos zu finden.«
»Klar, genau, darum bist du ja hier.«
Als Milla hinter Werner Abegglen das Archiv im oberen Stock betritt, hat sie ein Grinsen im Gesicht. Er scheint tatsächlich für einen Moment vergessen zu haben, warum sie vor seiner Tür gestanden hat.
Wie Werner vorhergesagt hatte, ist es ein Leichtes, die Aufnahmen der Abschlussklassen der Gymnasien zu finden. Werner Abegglen Senior hat sie unter den Stichworten Maturanden Interlaken und Maturanden Thun in Hängeregistern eingeordnet und nach Jahrgang sortiert. Bei manchen Jahrgängen enthält das entsprechende Kuvert nicht nur Klassenfotos, sondern auch Einzelaufnahmen, die wohl auf Wunsch der Eltern angefertigt worden sind.
Milla dreht eine der Fotografien um. Mit feinem Bleistift sind auf der Rückseite die Namen der abgebildeten Personen notiert.
»Dein Vater hat sogar die Namen aufgeschrieben, das ist großartig.«
»Nach wem suchen wir denn?«, fragt Werner, als er die Kuverts der Jahrgänge 1995 bis 1999 heraussortiert hat.
»Nach Kai Langenberger.«
»Ich hole uns zwei Lupen.«
Die Schrift von Werner Abegglen senior ist nicht ganz einfach zu entziffern. Sie ist zwar wunderschön, aber ungewohnt altmodisch, und so klein, dass sich Milla wundert, wie er so überhaupt hat schreiben können.
»Hier! Gefunden!«, ruft Werner Abegglen junior. Er weist mit dem Finger auf einen Namen auf der Rückseite eines Klassenfotos. »K. Langenberger. Zweite Reihe, der Erste von links.«
Milla blickt ihm über die Schulter, als er die Fotografie wendet, mit dem Finger über die Aufnahme fährt und bei der ersten Person in der zweiten Reihe innehält.
»Moment, das kann nicht sein.« Er prüft noch einmal die Aufschrift auf der Rückseite, zählt erneut die Reihen ab. »Wenn mein Vater nichts verwechselt hat, muss es sich hier um jemand anderes handeln«, sagt er schließlich. »K. Langenberger ist eine Frau.«