Clemens Eisenschmid, Hinterbergweg 37, Langenthal. Angestellter bei einem Schlüsselservice. Sechsundzwanzig Jahre alt, keine Vorstrafen, nicht einmal eine Geschwindigkeitsübertretung. Kein Waffenschein. Nichts.
Sandro studiert noch einmal alle Angaben, die er zu Clemens Eisenschmid finden konnte. Doch selbst wenn er sie mehrmals durchliest, bringt es ihn nicht weiter. Der Mann, der laut Milla angeblich hinter dem Nickname Mister Sinister steckt, hat sich noch nie etwas zu Schulden kommen lassen und hat sich auch noch nie verdächtig gemacht.
Sandro hat praktisch nichts gegen den jungen Mann in der Hand. Nichts außer einem blinden Zeugen, der behauptet, Mister Sinister habe einen Terroranschlag auf Frauen geplant – und eine Journalistin, zufälligerweise seine Freundin, die beteuert, Clemens Eisenschmid sei Mister Sinister. Milla wollte ihm partout nicht verraten, warum sie das zu wissen meint. Allerdings hat der Vergleich von Eisenschmids Personalausweis mit den Filmaufnahmen, die Nathaniel von Mister Sinisters Pick-up-Seminar gemacht hat, Millas Aussage bestätigt: Der Kursleiter sieht aus wie der Mann auf dem Passfoto in Eisenschmids Ausweis. Aber hat er wirklich ein Attentat geplant? Mehr als einen Internet-Post eines unbekannten AllDead, der schrieb, Mister Sinisters Jünger würden die Allmend in Blut tränken, gibt es nicht. Und passiert ist auch nichts. Es ist nicht einmal bewiesen, ob es Mister Sinister war, der Nathaniel gegen seinen Willen festgehalten hat. Mit derart wenig in der Hand kann Sandro unmöglich Eisenschmids Wohnung stürmen lassen.
In dem Moment klingelt Sandros Telefon. Christian Tschabold ruft an, als hätte er seine Gedanken gelesen.
»Wir sind jetzt vor Ort.«
»Wie sieht’s aus?«
»Ein einfaches Mehrfamilienhaus. Seine Wohnung liegt im dritten Stock. Es brennt Licht.«
»Er ist zu Hause.«
»Sieht danach aus. Sollen wir ihn festnehmen?«
»Ich habe zu wenig gegen ihn in der Hand. Ohne eindeutige Hinweise kann ich nicht behaupten, dass Gefahr im Verzug ist. Wir müssen auf den Haftbefehl warten.«
»Ich kann auch einfach mal klingeln und ihn freundlich fragen.«
»Ich will nicht, dass er gewarnt ist.«
»Dann warten wir ab und beobachten.«
»Sobald wir das Okay von oben kriegen, nageln wir ihn fest. Spätestens morgen früh, bevor er das Haus verlässt. Bis es so weit ist, lassen wir ihn nicht aus den Augen.«
»In Ordnung. Geh nach Hause und ruhe dich aus, ich melde mich, wenn sich hier etwas regt.«
»Danke.«
Als Sandro die Stufen im Treppenhaus hochsteigt, weiß er, dass Milla bei ihm in der Wohnung ist. Er kann nicht erklären, warum er es weiß. Er weiß es jedes Mal, und er hat sich noch fast nie geirrt. Er öffnet die Wohnungstür langsam, um zu vermeiden, dass sie knarrt, um Milla nicht zu wecken, falls sie schon schläft. Die Wohnung ist dunkel. Doch er sieht ihre Tasche auf dem Stuhl in der Küche stehen. Sie ist da, sie schläft. Obwohl Sandro sie am liebsten wecken und mit ihr reden würde, zieht er sich leise im Badezimmer aus und schlüpft so sachte wie möglich zu ihr ins Bett. Mit einem unverständlichen Murmeln dreht sich Milla auf die andere Seite und schläft weiter. Ihr regelmäßiger Atem beruhigt Sandro, doch Schlaf findet er nicht. Zu viele Gedanken drehen ihre Runden.
Nichts ist passiert heute Abend um Viertel vor sieben. Sandro fragt sich, ob sich Nathaniel im Tag geirrt hat. Oder ob er grundsätzlich etwas falsch verstanden hat. Wer wollte es ihm verübeln? Er war gefesselt und wurde gefangen gehalten. Da ist es schnell möglich, dass man etwas falsch interpretiert. Aber der Internet-Post von AllDead – nichts als große Worte ohne etwas dahinter? Möglich.
Gleichzeitig verspürt Sandro eine unbeschreibliche Erleichterung darüber, dass nichts passiert ist. Es spielt keine Rolle, wo die Gründe dafür liegen; Hauptsache kein weiteres Attentat. Nicht wieder tote Frauen. Das disharmonische Klingeln der Handys im Dachstock der Disco hallt noch immer in seinem Kopf nach. Nicht auszudenken, was die Attentäter auf der Großen Allmend für ein Gemetzel hätten anrichten können. Sobald sie Mister Sinister festgenommen haben, wird Sandro jeden einzelnen Stein umdrehen, um auch die anderen Incels aufzuspüren, die gewaltbereit und hochgefährlich sind.
Auch der andere Fall bringt Sandro um den Schlaf: Die toten Männer, die makabre Inszenierung ihrer Leichen. Noch immer haben sie keine Spur. Viele Verdachtsmomente, doch nichts, das zum Ziel zu führen scheint. Als wären seine Leute ein Haufen wilder Hühner, jeder findet mal hier, mal dort ein einzelnes Korn, doch es zeichnet sich kein Weg ab, der zur Täterin führt. Noch nicht. Früher oder später werden sie sie kriegen, daran zweifelt Sandro nicht. Das Wichtigste ist, dass sie sie kriegen, bevor es einen weiteren Toten gibt.
Die Müdigkeit macht Sandros Gedanken noch schwerer, als sie sonst schon sind. Irgendwann dämmert er dann doch langsam weg und spürt, dass er endlich einschlafen könnte. Doch beim Blick hinüber auf den Nachttisch leuchten ihn vier Zahlen an, die ihm den Schlaf verbieten. Zu spät. Es ist schon halb sechs.
Sandro setzt sich auf. Milla liegt noch immer in der genau gleichen Position am Rand seines Bettes wie vor ein paar Stunden, als er nach Hause gekommen ist. Er fragt sich, wie sie das macht, so reglos zu schlafen. Er wälzt sich immer von hier nach dort und wieder zurück. Leise steht Sandro auf, im Bad putzt er sich die Zähne und wäscht sich das Gesicht, schlüpft in seine Kleidung. In der Küche checkt er die Mails.
»Da haben wir ihn ja«, flüstert Sandro, als er Kai Langenbergers Haftbefehl in seinem Postfach entdeckt. Kaum steht Sandro draußen in der Gasse, ruft er Christian Tschabold an.
»Alles ruhig hier«, sagt der Einsatzleiter des Sonderkommandos auf Sandros Frage. »So ruhig, dass ich mir nicht mal mehr sicher bin, ob Eisenschmid überhaupt da ist. Das Licht in seiner Wohnung brannte die ganze Nacht. Am Fenster hat er sich nicht blicken lassen.«
»Wir haben den Haftbefehl.«
»Also Zugriff?«
»Zugriff.«
Sandro bleibt in der Leitung. Er hört, wie Christian Tschabold seinen Männern den Zugriff befiehlt, etwas leiser vernimmt er indirekt aus Tschabolds Funkgerät deren Antworten, dann ein Hämmern an die Tür, das Rufen: »Polizei, aufmachen!«, und schließlich ein Krachen und erneute Rufe. Plötzlich flucht jemand laut, es folgt ein nicht definierbares Rauschen.
»Was ist los?«, ruft Sandro ins Telefon.
»Warte einen Moment«, sagt Tschabold. »Ich gehe rein.«
Wieder ein Rauschen, das Schaben von Stoff, Schritte, hallende Worte in einem Treppenhaus, die Sandro nicht versteht, dann ist die Stimme von Christian Tschabold wieder ganz nah.
»Sandro, du musst herkommen. Und bring die Spurensicherung und die Rechtsmedizinerin mit.«
»Was ist los?«
»Wir sind zu spät. Jemand war vor uns hier.«