73.

Milla steht vor einem Einfamilienhaus in einem ruhigen Wohnquartier von Biel. Der Rasen ist akkurat gemäht, die Hecke zu übereinandergestapelten Bällen zurechtgestutzt, sodass sie eher einer Reihe grüner Schneemänner gleicht als einer natürlichen Pflanze. Das Namensschild am Briefkasten ist leicht angerostet und nur noch knapp lesbar: H. P. Stucki. Milla fragt sich, ob es keine Frau Stucki gibt oder gegeben hat, sie wundert sich jedes Mal, wenn bei Familien einzig der Name des Mannes an der Klingel oder im Telefonbuch steht.

Milla hat ihre VJ -Kamera eingepackt. Sie wird vorsichtig vorgehen müssen, aber wenn ihr wirklich gelingt, was sie sich ausgedacht hat … dann wird Wolfgang ihr einen Sonderbonus zahlen müssen. Sie drückt auf den Klingelknopf und hofft, dass jemand zu Hause ist.

Der Mann, der die Tür öffnet, ist zweifelsfrei Hans-Peter Stucki – ihn hat sie interviewt, ihn hat sie auf dem Fahndungsbild erkannt. Er schaut erst Milla in die Augen, dann auf die Kamera in ihrer Hand, dann wieder in ihr Gesicht.

»Ist das ein Überfall?« Er fragt es mit einem Lachen, doch in seiner Stimme schwingt Verunsicherung mit.

»Es tut mir leid, ich hätte mich anmelden sollen, aber ich war gerade in der Gegend und dachte, ich versuche mal mein Glück. Wir hatten schon einmal miteinander zu tun, ich bin Milla Nova von der Sendung Wochenthemen und habe damals den Prozess begleitet.«

Milla redet ohne Punkt und Komma, in der Hoffnung, dass Hans-Peter Stucki ob ihres Redeflusses vergisst, dass er ihr einfach die Tür vor der Nase zuschlagen könnte. Das macht er nicht, im Gegenteil, er öffnet sie ganz und bittet Milla hinein. Sie hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein würde.

»Nehmen Sie doch erst mal Platz«, sagt Stucki, während er mit der Hand aufs Wohnzimmer weist.

Der Raum ist altmodisch eingerichtet. Eine hellbraune Lederpolstergruppe, wie sie in den Neunzigern chic war, eine ockergelbe Wohnwand gefüllt mit Bildbänden, eine kugelrunde Deckenlampe, gebastelt aus verleimten Schnüren.

»Möchten Sie ein Wasser?«

»Ja, gerne.«

Während Milla im Wohnzimmer auf Stucki wartet, geht sie im Kopf noch einmal die Worte durch, die sie sich auf dem Weg hierher zurechtgelegt hat.

Hans-Peter Stucki stellt zwei Gläser auf die Marmorplatte des Salontisches, setzt sich auf den zweiten Sessel und schaut Milla mit einem Blick an, der schwierig zu deuten ist; eine Mischung aus neugierig, herausfordernd und ängstlich.

»Ich arbeite an einer Reportage über die Justiz und über fragwürdige Gerichtsurteile«, erklärt Milla. »Ich erinnere mich, dass Sie damals nach dem Prozess sehr aufgebracht waren über den Freispruch. Darum möchte ich mit Ihnen ein Interview dazu führen, was das Urteil mit Ihnen gemacht hat, ob sich Ihre Haltung gegenüber dem Rechtsstaat verändert hat. Wären Sie bereit dafür?«

»Ich habe dazu eine dezidierte Meinung. Ich bin bereit, mit Ihnen darüber zu reden.«

»Ist Ihre Frau auch da?«, fragt Milla.

»Nein, meine Frau ist nicht mehr da. Sie hat den Tod unseres Sohnes nicht verkraftet.«

»Das tut mir leid.«

Milla fragt nicht weiter nach. Auf einmal tut ihr der Mann schrecklich leid. Er hat alles verloren.

»Vielleicht wäre meine Frau noch hier, wenn der Richter damals Gerechtigkeit gesprochen hätte.«

Ein Gericht kann zwar Strafen aussprechen, aber nicht Gerechtigkeit schaffen, denkt Milla. Sie spricht den Gedanken nicht laut aus.

»Darf ich die Kamera einschalten?«, fragt sie stattdessen.

»Ja.«

Milla braucht einen Moment, um die Kamera auf dem Stativ zu fixieren und das Ansteckmikrofon an Hans-Peters Stuckis Pulloverkragen zu befestigen.

»Kamera läuft«, sagt sie schließlich, mehr zu sich selbst als zu ihrem Gegenüber.

»Ist das wirklich der Grund, warum Sie hier sind?«, fragt Stucki plötzlich, bevor Milla die erste Frage stellen kann.

»Ja.« Ihr Puls beschleunigt sich. Etwas an Stuckis Tonfall hat sie alarmiert. Vielleicht war es doch ein Fehler, allein herzukommen. Unwillkürlich blickt sie zur Glastür, die auf die Terrasse führt. Sie steht offen.

»Weil Sie eine Reportage über Stärken und Schwächen des Schweizer Justizsystems drehen?«, hakt Stucki nach.

»Ja.« Milla nestelt noch einmal an der Kamera herum. »Kann ich noch rasch auf die Toilette?«

»Klar, die zweite Tür links.«

Auf dem Klo versucht Milla hektisch, Sandro anzurufen. Es geht nur der automatische Anrufbeantworter ran. Sie verflucht ihren Freund innerlich, dass er immer dann, wenn es wirklich wichtig ist, nicht erreichbar ist. Sie will ihm gerade auf das Band sprechen, da hält sie inne, weil sie meint, vor der Badezimmertür ein Geräusch vernommen zu haben. Milla drückt die Spülung, sendet Sandro ihren Live-Standort, damit er wenigstens sieht, wo sie ist – sie hofft, dass er von selbst darauf kommt, dass es einen Grund geben muss, warum sie ihm den Standort schickt. Dann wählt sie erneut seine Nummer, hört, dass sie mit der Antwortbox verbunden ist, und lässt den Anruf laufen. Sie wäscht sich die Hände, schaut sich im Spiegel an, sieht ihr ernstes Gesicht, die Anspannung, versucht, sie zu vertreiben. Schließlich begibt sie sich zurück ins Wohnzimmer, wo Hans-Peter Stucki auf dem Sessel sitzt, als habe er sich nicht gerührt.

»Sind Sie jetzt so weit?«, fragt er Milla, obwohl in der Regel sie diejenige ist, die diese Frage stellt.

»Ja. Alles klar. Fangen wir an.« Milla räuspert sich. »Ihr Sohn kam bei einem Lawinenniedergang am Eiger ums Leben. Der Bergführer, der die Verantwortung für die Gruppe trug, wurde freigesprochen. Wie war das für Sie?«

»Es war der Beweis, dass die Schweizer Justiz nicht funktioniert. Es steht außer Zweifel, dass mein Sohn noch leben würde, wenn sich der Bergführer Stephan Arnold an die elementarsten Regeln gehalten hätte. Die Lawinengefahr war an jenem Morgen erheblich – und bei erheblicher Lawinengefahr begibt man sich nicht in einen Steilhang. Er hat bewusst das Leben der jungen Männer aufs Spiel gesetzt, er hat ihren Tod verschuldet – und was passiert? Nichts. Wir leben in einem Land der Justizwillkür. Wer sich einen guten Anwalt leisten kann, gewinnt.«

»Sie hätten das Urteil anfechten können.«

»Wissen Sie, was das gekostet hätte – um dann erneut zu verlieren, weil das Spiel auf allen Ebenen das gleiche ist? Man muss selbst für Gerechtigkeit sorgen in diesem Land. Darum sind Sie doch hier, oder?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie sind hier wegen des Fotos. Sie sind nicht die Einzige, die mich erkannt hat. Einige meiner Freunde haben mich darauf angesprochen, aber ich habe behauptet, dass ich das unmöglich sein könne.«

»Sind Sie denn der Mann auf dem Fahndungsbild der Polizei?«

»Ja. Aber ich habe mit der Mordserie nichts zu tun.«

Milla spürt, dass eine Anspannung von ihr abfällt. Sie glaubt dem Mann.

»Aber es ist gut, dass Sie da sind. Ich habe nämlich etwas zu erzählen. Ich habe tatsächlich einen Mord begangen, mit Betonung auf einen.«

Hans-Peter Stucki greift unter das Sofakissen und zieht eine Pistole hervor. Er muss sie geholt haben, als Milla auf dem Klo war. Er legt die Waffe neben sich auf den Beistelltisch, sodass Milla sie sieht, sie aber nicht im Bild ist. Milla stellt überrascht fest, dass sie ganz ruhig bleibt.

»Ich möchte, dass Sie alles aufnehmen. Ich möchte, dass die Leute begreifen. Sie müssen meine Worte weitertragen, damit die Menschen erkennen, dass meine Tat gerecht war.«

Milla weiß nicht, warum die Angst verschwunden ist. Als ob da keine Pistole läge, als ob es sie nichts anginge. Gleichzeitig ist sie hellwach und hoch konzentriert. Sie ist nicht mehr Milla, sie ist jetzt nur noch Journalistin – sie ist die Journalistin, vor deren Kamera ein Mann einen Mord gestehen will. Milla ist so sehr auf ihre Aufgabe und auf Hans-Peter Stucki fokussiert, dass sie alles andere um sich herum vergisst. Die Furcht hat im Moment keinen Platz. Es gibt nur noch die Journalistin, die Kamera und den Mörder, der vor ihr sitzt, um von seiner Tat zu berichten.

»Ich habe Stephan Arnold getötet, weil er meinen Sohn auf dem Gewissen hat und von der Justiz nicht zur Rechenschaft gezogen worden ist. Er hat meinen Sohn und seine Freunde in den Tod geführt, hat minimalste Vorsichtsregeln missachtet, und er hat sich nie mit einem einzigen Wort entschuldigt. Hat behauptet, ihn treffe keine Schuld. Das sei die Macht der Natur. Dabei war die Lawinengefahr erheblich! Das Gericht hat ihm geglaubt und ihn freigesprochen, er hat weitergelebt, als wäre nichts passiert, hat sogar weiterhin an der Sportschule unterrichtet – während meine Frau an ihrem Kummer zugrunde gegangen ist. Es gab für mich keinen anderen Weg, um mit dem Leben wieder Frieden zu schließen. Ich musste ihn töten.«

Hans-Peter Stucki hält inne, greift zum Glas, nimmt einen Schluck Wasser. Die kurze Pause stört Millas Konzentration. Erst jetzt stürzen die Gedanken auf sie ein, alle auf einmal. Warum erzählt er ihr das alles? Will er sich danach stellen? Ist das sein letztes Vermächtnis, bevor er sich selbst richtet? Will er nicht nur sich, sondern auch sie umbringen?

»Ich dachte, ich komme damit davon«, fährt Hans-Peter Stucki fort. »Ich hörte eine Frau von der Polizei über die Mordserie sprechen. Ich dachte, wenn ich den Toten so liegen lasse, wie der Serienmörder die Opfer zurücklässt, dann würde jeder denken, dass er auch in diesem Fall der Täter ist. Das war vielleicht naiv. Sie sind der Beweis dafür. Nach Ihnen wird die Polizei mich finden. Es gibt kein Davonkommen auf dieser Welt, Gerechtigkeit existiert nicht. Meine Tat hat meinen Sohn nicht wieder lebendig gemacht, aber wenigstens ist Stephan Arnold jetzt ebenfalls tot. Das ist gut so. Das bereue ich nicht.«

»Herr Stucki, warum erzählen Sie mir das alles?«, fragt Milla. »Was haben Sie jetzt vor?«

»Ich gehe davon aus, dass Sie vorhin im Badezimmer die Polizei gerufen haben.«

Milla spürt, dass ihr augenblicklich die Röte ins Gesicht schießt. Stucki blickt auf die Uhr.

»Ich denke, sie sollte bald hier sein, oder?«

Milla weiß es nicht. Sie hat keine Ahnung, ob ihr Handy in ihrer Tasche noch immer mit Sandros Antwortbox verbunden ist oder ob die Aufnahme gestoppt hat und Sandro sie abhören konnte. Sie kann auch nicht sicher sein, dass Sandro den Live-Standort als Hilferuf gedeutet hat. Vielleicht nimmt er gerade an einer Besprechung teil und kann gar nicht erst aufs Telefon schauen.

»Ich habe die Polizei nicht angerufen«, sagt Milla knapp.

»Haben Sie Angst vor mir?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Sie werden mir nichts tun, weil ich Ihnen nichts getan habe.«

Hans-Peter Stucki beginnt zu lachen, laut zu lachen, er klingt hysterisch. Vorhin hatte Milla keine Angst, aber jetzt will sie nur noch raus hier. Sie springt hoch, bringt die Kamera zu Fall, sieht, dass auch Stucki aufsteht, sie rennt zur Terrassentür, doch bevor sie sie erreicht, schrillt die Türglocke durch das Haus. Milla erstarrt in der Bewegung, blickt zu Stucki, der sich ebenfalls nicht rührt.

»Herr Stucki! Polizei! Öffnen Sie die Tür!«

Es ist nicht Sandros Stimme. Aber er hat jemanden hergeschickt.

»Er hat eine Waffe!«, schreit Milla Richtung Tür, als sie sich wieder in Bewegung setzt und Richtung Gartenterrasse stürzt. Kaum ist sie draußen, erschüttert ein Knall ihren Körper. Sie schreit auf, setzt zu einem Sprung an, fliegt und landet auf dem Boden. Sie bleibt flach liegen und drückt ihr Gesicht in den akkurat gemähten Rasen.