Im ersten Moment dachte Milla, dass sich Hans-Peter Stucki erschossen hat – oder dass er auf die Polizisten geschossen hat. Doch es zeigt sich, dass der Knall, den sie gehört hat, von der Tür gestammt haben muss, als sie mit Wucht auf- und gegen die Wand geschlagen wurde.
Hans-Peter Stucki hat sich widerstandslos ergeben. Das Interview für die Wochenthemen sah er als sein Vermächtnis an, wohl auch um zu verhindern, dass man in ihm den kaltblütigen Serienmörder sieht – der er höchstwahrscheinlich tatsächlich nicht ist. Aber er ist ein Mörder, und nichts rechtfertigt seine Tat. Kein Schmerz, keine Trauer, keine Rache, keine Selbstjustiz.
Milla hat sich von ihm noch rasch eine Einverständniserklärung unterschreiben lassen, dass sie das Interview ausstrahlen darf; sie will auf der sicheren Seite sein. Hans-Peter Stucki hat noch einmal bekräftigt, wie wichtig ihm die Botschaft ist. Milla wird seine Worte einordnen müssen; sie will einem Mörder nicht unwidersprochen eine Plattform bieten, doch verwenden will sie das Interview unbedingt. Sie hat versucht, Sandro anzurufen, um sich zu entschuldigen und vor allem um ihm zu danken. Doch sie hat ihn nicht erreichen können. Jetzt, im Nachhinein, ist sie zwar sicher, dass sie nie in Gefahr gewesen ist – aber als Hans-Peter Stucki seine Waffe unter dem Kissen hervorgezogen hat, war völlig ungewiss, wie die Begegnung enden würde. Zum Glück ist alles gut gegangen.
Auf dem Weg zurück nach Bern überlegt Milla, ob sie genug Material beisammen hat, um über die Mordserie zu berichten. Obwohl sie über die meisten Taten fast gar nichts weiß, kann sie im Mordfall Stephan Arnold aus dem Vollen schöpfen. Sie hat damals über den Fall berichtet und kann das Archivmaterial verwenden. Sie kann erzählen, wie sie selbst den gesuchten Mann auf dem Überwachungsbild erkannt und ihn aufgesucht hat – und wie er ihr die Tat gestanden hat. Allein das Geständnis vor laufender Kamera ist eine Premiere im Fernsehen, die Aufsehen erregen wird. Sie wird den Fall als Mord eines Trittbrettfahrers herausgreifen – und sozusagen als Cliffhanger offen lassen, wer die anderen Morde begangen hat. Milla ist zufrieden mit dem, was sie hat. Daraus lässt sich eine spannende Reportage stricken.
We are all fucked up spielt in dem Moment Muse aus ihrem Handy. Milla muss über ihren neuen Klingelton schmunzeln. Der Songtext trifft die allgemeine Weltlage gerade sehr präzise. Sie sieht, dass Nathaniel sie sprechen will.
»Nathaniel, ich wollte dich auch schon anrufen«, sagt Milla zur Begrüßung. »Wie geht es dir? Hast du dich erholt?«
»Danke, mir geht es gut. Ich habe viel geschlafen und fühle mich besser. Ich war heute bei der Polizei, um gegen Mister Sinister Anzeige wegen Geiselnahme zu erstatten, also gegen Clemens Eisenschmid, wie du herausgefunden hast.«
»Danach wollte ich dich fragen.«
»Sie haben mir gesagt, dass Eisenschmid nicht angezeigt werden kann.«
»Bitte was?«, ruft Milla laut.
»Sie haben meine Anzeige nicht entgegengenommen, weil Clemens Eisenschmid nicht mehr lebt. Gegen Tote werde nicht ermittelt.«
»Mister Sinister ist tot?«
»Ich konnte es auch kaum glauben. Natürlich habe ich gefragt, woran er gestorben sei, er war ja noch jung. Die Polizistin erklärte, es sei kein natürlicher Todesfall gewesen.«
»Hat er sich umgebracht?«
»Vielleicht war’s auch ein Unfall. Ich weiß es nicht, mehr wollte sie mir nicht sagen. Aber das muss der Grund sein, warum er an jenem Morgen nicht mehr in Olten aufgetaucht ist.«
»Und darum wurde kein Attentat verübt.«
»Weil der Anführer der Attentäter selbst gestorben ist.«
»Wie krass ist das denn. Danke, dass du mich informiert hast.«
»Kommst du mal vorbei?«, fragt Nathaniel. »Gundula und Silas und ich würden dich gerne zum Abendessen einladen.«
»Ich dachte schon, dass Gundula mich jetzt für immer und ewig hassen wird, weil ich dich mit den Incels bekannt gemacht habe.«
»Ach, weißt du, Gundula ist kein nachtragender Mensch.«
Wie gut es tut, Nathaniel wieder lachen zu hören, denkt Milla.
Nachdem sie das Gespräch beendet hat, sucht sie in den Online-Medien nach Unfallmeldungen der letzten achtundvierzig Stunden, ein Suizid würde kaum vermeldet. Sie stößt auf mehrere Verkehrsunfälle mit Todesopfern, doch nirgends passen Alter oder Geschlecht mit Clemens Eisenschmid überein. Also öffnet sie die Webseite mit den Medienmitteilungen der Kantonspolizei. Auch hier findet sie nichts, das einen Bezug zu Clemens Eisenschmids Tod haben könnte. Doch just, als sie die Seite wieder schließen will, aktualisiert sie sich, und eine neue Meldung erscheint. Milla beginnt zu lesen.
Tötungsdelikt in Langenthal
In Langenthal wurde heute Morgen ein junger Mann tot in seiner Wohnung aufgefunden. Die Polizei geht von einem Tötungsdelikt aus. Die Auffindesituation des Opfers lässt darauf schließen, dass das Tötungsdelikt auf dieselbe Täterschaft zurückzuführen ist, die in den vergangenen Tagen bereits mehrere ähnlich gelagerte Delikte begangen hat. Die Polizei bittet Zeugen, die sachdienliche Angaben machen können, sich mit der nächsten Polizeistelle in Verbindung zu setzen.
Auch wenn die wichtigste Aussage der Medienmitteilung vor lauter Beamtendeutsch beinahe verloren geht, ist Milla sofort klar, dass der Stöckelschuh-Mörder wieder zugeschlagen hat – und wer sein Opfer war: Mister Sinister. Der Zynismus des Lebens. Oder das Glück! Wurde tatsächlich Clemens Eisenschmid getötet, hat sein Mörder womöglich vielen Frauen das Leben gerettet. Milla schämt sich ihres Gedankens; aber sie ist froh, dass es diesmal den Richtigen getroffen hat.