78.

Das Leben ist gut. Bettina summt zufrieden eine Melodie, als sie zwei Stufen auf einmal nehmend zum Sitzungszimmer eilt. Sie hat die Nacht im Spital verbracht. Sie hat nicht viel geschlafen. Aber sie hat sich schon lange nicht mehr so gut und so glücklich gefühlt. Noch bevor die Sonne aufging, hat Petra heute Morgen die Augen aufgeschlagen. Sie hat Bettina angeschaut und sie erkannt. Noch konnte sie nicht sprechen, aber sie hat ihre Hand gedrückt. Bettina hat Petra auf die Stirn geküsst, immer wieder, ihre Tränen haben Petras Gesicht genässt, Tränen der unfassbaren Freude. Petra kommt zurück. Petra wird leben. Sie werden wieder zusammen sein. Bettina wünschte sich, das Aufwachen würde schneller gehen, sie musste so lange warten, das letzte Fünkchen Geduld ist aufgebraucht. Sie wäre gerne bei Petra geblieben, aber sie ist nach dem kurzen, wachen Moment gleich wieder eingeschlafen. Martin Fischer hat Bettina beschworen, dass Petra Ruhe brauche und dass es noch dauern könne, bis sie richtig aufwache. Darum ist sie jetzt trotzdem hier, pünktlich zum Debriefing des spektakulärsten Kriminalfalls seit Jahren, zu dessen Lösung sie maßgeblich beigetragen hat. Das Leben ist gut.

Alle anderen sind schon da, als Bettina das Zimmer betritt, Sandro, Florence, Bernard, Malou, auch Staatsanwältin Charlotte Knecht und sogar Regierungsrat Scherrer sind gekommen, sie klopfen auf die Tische, als sich Bettina in die Runde setzt. Ein anerkennender Applaus, obwohl die Freude verhalten ist. Der Fall ist zwar gelöst, der Serienmörder gestoppt – doch der Täter war einer von ihnen, noch dazu einer, den alle mögen. Alle wünschten sich, dass es ein anderer wäre.

Das Debriefing verläuft denn auch nicht in gewohntem Rahmen. Zwar bedankt sich Sandro insbesondere bei Bettina, aber auch beim gesamten Team für die geleistete Arbeit. Die folgende Diskussion gleicht dann aber eher einer Supervision. Gemeinsam versuchen sie zu begreifen, was ihnen unfassbar erscheint: dass Kai Langenberger ein Mörder ist. Der Mann, mit dem sie zusammengearbeitet haben, um Tötungsdelikte zu klären, hat selbst drei Menschen getötet, aus niederem Motiv.

»Ich hätte das nie von ihm gedacht«, sagt Bernard. »Aber wenn ich ehrlich bin: Ich hatte auch nie das Gefühl, dass ich ihn wirklich kannte, ich bin ihm nie nahegekommen.«

»Wir kennen nie jemanden richtig, jeder hat verborgene Seiten«, wirft Malou ein.

»Ich verstehe nicht, wie ein Staatsanwalt ein derart schlechter Verlierer sein kann, dass er nach Freisprüchen als selbst ernannter und mörderischer Racheengel loszieht. Er ist doch ein intelligenter Mann!«, meint Florence.

»Ein intelligenter Transmann. Auch da wäre ich nicht drauf gekommen. Ich frage mich, ob er darum den Männern rote High Heels angezogen hat, weil er ein Transmensch ist«, kommentiert Bernard.

»Ich denke nicht. Er sagte, er wollte, dass die Morde als Serie erkannt und dass die Opfer als eigentliche Täter entlarvt werden«, antwortet Bettina.

»Ich bin gespannt, was der Psychiater Franz Maniuk über Langenberger sagen wird. Ich vermute eine narzisstische Störung. Oder psychopathische Züge, wenn man bedenkt, wie die Opfer präpariert wurden. Man sagt doch, dass Kaderleute in Toppositionen nicht selten psychopathische Züge haben«, mutmaßt Sandro.

»Ich werde mir seine Computer und die anderen digitalen Geräte anschauen, vielleicht finden wir dort etwas, das sein Handeln erklärbarer macht«, sagt Florence.

»Und Stucki, der Vater?«

»Er hat Stephan Arnold aus Rache getötet, weil sein Sohn gestorben ist, als Arnold die Gruppe in den Bergen anführte.«

»Eigentlich haben beide Männer das Gesetz in die eigene Hand genommen«, meint Malou.

»Mit einem Unterschied: Die Tat Stuckis kann ich mit meinem Verstand und vom Gefühl her ein Stück weit nachvollziehen – das Handeln von Langenberger in keinster Weise.« Sandro fährt sich durch die Haare, die in alle Richtungen von seinem Kopf abstehen. Er sieht noch immer übernächtigt und ausgelaugt aus. »Nun, machen wir, was wir tun müssen. Wir durchsuchen Langenbergers Haus, Florence, du nimmst dich seiner Daten an. Auch wenn es uns schwerfällt und selbst, wenn ein Geständnis da ist, müssen wir das bestmögliche Beweismaterial zusammentragen. Es ist jederzeit möglich, dass er es sich mit seinem Geständnis auf einmal anders überlegt, dann dürfen wir nicht mit leeren Händen dastehen.« Sandro blickt zu Charlotte Knecht, die zustimmend nickt. »Wir müssen die Tatwaffen sicherstellen, den Taser, die Spritzen, das Morphin. Vielleicht finden wir auch weitere Schuhe. Bernard, kannst du die Aktenarbeit übernehmen und alle angezeigten Sexualdelikte suchen, die Langenberger betreut hat und die in einem Freispruch endeten? Vielleicht hat er noch weitere Männer bedroht. Wir brauchen alles, was wir finden können. Malou, kannst du abklären, wie Langenberger an das Morphin in der Asservatenkammer gekommen ist, vielleicht müssen wir dort die Abläufe verbessern. Es kann doch nicht sein, dass solche Mengen an Morphin einfach verschwinden, und keiner merkt etwas. Bettina und ich, wir führen heute die Einvernahme fort. Mein Ziel ist es, dass wir den Fall möglichst rasch vom Tisch haben.«

Darin sind seine Kollegen mit ihm einig. Die Aufgaben sind verteilt, Sandro will die Sitzung gerade schließen, als es klopft. Alle im Raum erstarren, als Kollege Schmid den Kopf ins Zimmer streckt.

»Ich störe ungern.«

Hoffentlich nicht schon wieder eine Leiche, denkt Bettina. Alles, aber nicht einen weiteren Toten, insbesondere keinen mit Stöckelschuhen an den Füßen.

Als hätte Schmid Bettinas Gedanken gehört, nimmt er das Stichwort auf. »Es geht um die Stöckelschuhe.«

»Was ist passiert?«, fragt Sandro.

»Bei uns hat sich vor einer Dreiviertelstunde jemand gemeldet, der einen roten Stöckelschuh in seinem Briefkasten gefunden hat. Zwanzig Minuten später kam der zweite Anruf rein. Mittlerweile haben sich sieben Männer gemeldet, die das unerwünschte Geschenk erhalten haben.« In Schmids Hosentasche piepst ein Handy. Er zieht es hervor, liest die Nachricht. »Da kommen noch weitere Meldungen rein. Neun Männer.«

»Was zum Teufel?«, ruft Sandro laut aus.

»Sind es nur die Stöckelschuhe – oder stecken Fotografien der Männer an den Absätzen?«, fragt Bettina.

»Nur Stöckelschuhe, soweit ich weiß.«

»Ich glaube, da erlaubt sich jemand einen üblen Scherz«, mutmaßt Bettina.

Ein Scherz, über den niemand in der Runde lachen mag.