79.

»Wir hatten gestern Spitzenquoten! Gratuliere, Milla!«

Wolfgang strahlt. Millas Kollegen klopfen mit Kugelschreibern und Fingerknöcheln auf den Sitzungstisch. Sie ahnen nicht, dass kurz zuvor in einer anderen Stadt ein anderes Team einer Kollegin auf gleiche Art und Weise Anerkennung zollte – und dass es dabei um denselben Kriminalfall ging. Milla nimmt das Kompliment gerne an, doch wirklich zufrieden ist sie nicht. Der Beitrag ist zwar eindrücklich geworden – wenn da nur dieses seltsame Gefühl nicht wäre, dass sie etwas vergessen oder übersehen hat, dass sie einen Fehler gemacht haben könnte, ohne zu ahnen, wo und wie und wann.

»Deine Arbeit war großartig, die Geschichte ist ja aber auch unglaublich – der ermittelnde Staatsanwalt entpuppt sich als Serienmörder … das kann man nicht mal erfinden«, fährt Wolfgang mit seiner Lobeshymne fort. »Und erst das Geständnis des Trittbrettfahrers vor laufender Kamera! Chapeau! Aber ihr wisst, nach der Sendung ist vor der Sendung. Milla, was machen wir als Nächstes? Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt.«

Milla würde ihrem Chef am liebsten antworten, dass sie erst mal Urlaub brauche. Zuerst das Attentat auf die Reitschule, dann der Report über die Incels, jetzt die Mordserie. Als sie gestern Nacht endlich im Bett lag, konnte sie lange nicht einschlafen, weil ihr linkes Augenlid unangenehm zuckte; ein untrügliches Zeichen, dass sie eine Pause nötig hat. Doch dieses Mal stimmt sie mit ihrem Chef überein; die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt, die Pause muss warten.

»Ich war bereits in Interlaken, ich habe mit Langenbergers Vater gesprochen, ich hatte von dem Verdacht gehört – ich kann da wieder andocken und ein Porträt über Langenberger drehen: Wer ist der Mann, der zuerst als Vertreter des Staates das Recht durchsetzen wollte, das er danach selbst brach?«

»Find ich gut«, kommentiert Wolfgang.

Milla möchte anfügen, dass bei der Pressekonferenz nicht alles gesagt worden ist. Dass verschwiegen wurde, dass Langenberger ein Transmann ist. Aber sie sagt nichts. Wolfgang würde zweifellos sofort auf das Thema Transmenschen anspringen und das groß rausbringen wollen. Aber darum geht es hier nicht. Es geht um einen Staatsanwalt, der zum Mörder wurde, und um die Frage nach dem Grund – sein Geschlecht spielt hierbei keine Rolle. Milla ist sich nicht mal sicher, ob sie jemanden öffentlich als Transmann outen darf, nur weil er jetzt zum Straftäter geworden ist. Andererseits gehört die Geschlechtsumwandlung nun mal zu seiner Geschichte. Doch es ist etwas anderes, das Milla antreibt, noch einmal in Langenbergers Vergangenheit zu recherchieren. Sie möchte verstehen, was ihn antrieb – und sie will ebenfalls herausfinden, wer seine Opfer waren. Ob sie nur Opfer sind – oder ebenfalls Täter waren, Täter, die erst ungeschoren davongekommen sind, um dann ihre Schuld mit dem Tod zu bezahlen.

Wenig später sitzt Milla auf dem Beifahrersitz neben Ivan im Kastenwagen, sie durchqueren das Schweizer Mittelland, Ziel ist Interlaken im Berner Oberland.

»Wohin fahren wir genau?«, fragt Ivan.

»Nach Interlaken.«

»Wohin in Interlaken?«

»Das weiß ich noch nicht.« Milla dehnt die Worte in die Länge. »Lass mich erst mal in Ruhe recherchieren.«

Ivan verdreht die Augen, während Milla neben ihm auf ihren Laptop einhämmert, obwohl sie beide wissen, dass das nie gut geht: Spätestens nach fünfzehn Minuten wird ihr so übel werden, dass Ivan bei der erstbesten Raststätte einen Halt einlegen muss. Aber anders geht’s grad nicht. Milla hat sich die Bilder angesehen, die sie vom Klassenfoto und von dessen Rückseite gemacht hat, und sich die Namen jener Mädchen und Jungen herausgeschrieben, die bei der Aufnahme direkt neben Karin Langenberger gestanden haben. Wenn schon der Vater nicht bereit ist, über Kai zu sprechen, dann sind es vielleicht die ehemaligen Klassenkameraden. Millas Recherche zeigt, dass Werner Abegglen, der Sohn des Fotografen, recht hatte: Man zieht nicht so schnell weg aus der Region, wenn man in den Bergen aufgewachsen ist. Sowohl Luciana Da Silva als auch Samuel Käser, die für das Klassenfoto neben Karin Langenberger posierten, sind noch immer in Interlaken wohnhaft, aus Luciana ist mittlerweile eine Meyer-Da Silva geworden. Milla versucht es zuerst unter ihrer Nummer, ein Festnetzanschluss. Sie lässt es eine Weile läuten, doch keiner geht ran. Also versucht sie es mit der Mobilnummer, die bei Samuel Käser im elektronischen Telefonbuch eingetragen ist. Dreimal erklingt der Summton, dann sagt eine tiefe Stimme: »Käser.«

»Guten Tag, Herr Käser, hier ist Milla Nova von der Sendung Wochenthemen , Schweizer Fernsehen. Ich rufe Sie an, weil ich ein Porträt über Staatsanwalt Kai Langenberger drehe, der einst Karin Langenberger war, mit der Sie zur Schule gegangen sind. Ich wollte …«

»Sagen Sie, dass das nicht wahr ist«, unterbricht sie Samuel Käser.

»Was meinen Sie?«

»Ich habe gestern die Nachrichten gelesen. Staatsanwalt K.L. Ich dachte, es müsse eine Verwechslung sein, jemand, der die gleichen Initialen hat. Es ist nicht möglich, dass Kai der Serienmörder ist. Aber Ihr Anruf jetzt – sagen Sie mir: Hat er das getan? Kai?«

»Es tut mir leid, ich fürchte, ja, zumindest ist es das, was die Polizei gestern berichtet hat. Ich möchte herausfinden, wer Kai Langenberger ist und warum er das getan hat. Wären Sie bereit, mit mir zu reden?«

»Schweizer Fernsehen, sagen Sie?«

»Ja.«

»Gut. Kommen Sie vorbei. Es wird sowieso viel Mist geschrieben werden, da kann es nicht schaden, wenn wenigstens jemand die Wahrheit erzählt. Meine Adresse haben Sie ja bereits herausgefunden, denke ich. Ich bin in drei Stunden zu Hause.«

»Bingo!«, ruft Milla laut, nachdem sie das Gespräch beendet hat. »Wir haben jemanden, der mit uns spricht – allerdings ist er erst in drei Stunden zu Hause.«

»So wie ich dich kenne, hast du schon eine Idee, was wir in den drei Stunden zu tun haben, sodass trotzdem keine Pause drin ist.«

»Genau. Wir fahren ins Foto-Atelier Abegglen, um die Schulfotos von Karin Langenberger sorgfältig abzufilmen. Dann machen wir eine Außenaufnahme von Langenbergers Elternhaus, und zwar aus der Distanz; der Vater ist nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Ich versuche währenddessen noch weitere Personen aufzutreiben, die uns etwas über Karin oder Kai Langenberger erzählen können. Er muss ein Privatleben geführt haben, es gibt niemanden, der keines hat.«

»Und zwischendurch machen wir mal Pause?«, fragt Ivan.

»Zwischendurch machen wir mal Pause.«

Milla muss lachen. Wenn sie in die Arbeit eintaucht, vergisst sie immer, dass irgendwann Ivans Magen zu knurren beginnt, und zwar buchstäblich. Es ist teilweise so laut, dass das Bauchgrummeln manchmal auf der Aufnahme mit drauf ist. Darum ist es besser, wenn Ivan vor einem Dreh etwas zwischen die Zähne bekommt.

Heute sind es, wie so oft, Pommes und ein paniertes Schnitzel. Während Ivan isst, sitzt Milla bereits wieder hinter ihrem Laptop und studiert erneut die Chronologie, die sie zu den Ereignissen erstellt hat. Plötzlich schlägt sie mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass Ivan erschrocken zusammenfährt und beinahe die Gabel fallen lässt.

»Geht’s noch?«, fragt er aufgebracht.

»Ich wusste, dass es nicht aufgeht!«, ruft Milla aus. »Ich muss rasch etwas abklären.«

Sie greift zum Telefon und öffnet den Chat, den sie mit Bettina geführt hat, als sie in Sachen Langenberger für sie recherchierte.

Liebe Bettina, ich weiß, dass du keine Interna rausgeben darfst, schreibt Milla, aber meine Frage ist ausgesprochen wichtig. Ich bitte dich einzig um diese eine Antwort. Milla überlegt, ob sie anfügen soll, dass Bettina ihr die Antwort schuldig sei, nachdem sie der Polizei so sehr geholfen hat. Aber sie lässt es bleiben, den Joker wird sie erst ziehen, wenn Bettina nicht von selbst darauf kommt. Bei der PK wurde mitgeteilt, K.L. habe C.E. am Mittwochabend, dem 25. Juni, getötet. Ich muss wissen: Um wie viel Uhr?

Milla sieht, dass Bettina die Nachricht sofort liest. Doch auf die Antwort muss sie etwa fünf Minuten warten, die sie sich mit der Lektüre der aktuellen Meldungen in den Online-Medien vertreibt. Die Antwort kündigt sich mit einem Piepton an.

K. L behauptet, er habe C.E. um einundzwanzig Uhr getötet.

Milla liest die Nachricht, trägt die Uhrzeit in die Chronologie ein, prüft noch einmal die anderen Einträge. Dann ruft sie Nathaniel an.

»Nathaniel, wie geht es dir?«

»Danke, gut. Wir gewöhnen uns langsam an die neue Situation. Ich hoffe, das bleibt auch so, und dein Anruf bringt nicht wieder neue Schwierigkeiten.« Nathaniel sagt es mit einem Lachen, doch Milla merkt, dass er es durchaus ernst meint. Sie kann es ihm nicht verübeln.

»Nein, nein, keine Angst, ich habe keinen neuen Undercover-Auftrag für dich, nur eine Frage.«

»So fängst du immer an …«

»Es ist wirklich nur eine Frage, aber sie ist wichtig: Der Vortrag von Mister Sinister in Olten, wann begann der am Mittwochabend?«

»Um sieben.«

»Und wie lange hat er gedauert?«

»Etwa nach einer Dreiviertelstunde war Pause, da haben sie mich dann gefangen genommen.«

»Ist Mister Sinister danach gleich nach Hause gefahren?«

»Nein, die haben noch lange diskutiert.«

»Erinnerst du dich, wann du Mister Sinisters Stimme zum letzten Mal gehört hast?«

»Als er und seine Kumpel gegangen sind. Sie waren die Letzten, die das Areal verließen.«

»Wie spät war es da etwa?«

»Ich kann dir das nicht mit Sicherheit sagen, ich war gefesselt und geknebelt.«

»Aber ungefähr – eher neun oder eher zehn Uhr?«

»Es ist auf jeden Fall nach zehn Uhr gewesen, eher elf. Es sind sicher drei Stunden vergangen, bis sie mich allein zurückließen. Warum ist das so wichtig?«

»Danke. Ich werde es dir ein andermal erklären. Bis bald!«

Milla klickt den Anruf weg. Wenn sich Mister Sinister an seinem angeblichen Todestag bis nach zweiundzwanzig Uhr, eher bis dreiundzwanzig Uhr in Olten aufhielt, dann kann er unmöglich um einundzwanzig Uhr von Kai Langenberger in Langenthal getötet worden sein.