Bettina ist verunsichert. Zuerst die roten Stöckelschuhe, die scheinbar in der halben Stadt verteilt und in die Paketfächer von gut zwanzig Männern gelegt worden sind. Wer tut so was? Mit welchem Grund? Nimmt jemand einen solchen Aufwand auf sich, nur um sich einen Scherz zu erlauben? Oder steckt dahinter eine Botschaft, die sie nicht verstehen?
Dann Millas Nachricht.
K.L. kann C.E. nicht zur besagten Zeit umgebracht haben. Ich habe einen Zeugen, der C.E. zwischen zehn und elf Uhr an diesem Abend noch gesehen oder besser gesagt gehört hat.
Bettina war sofort klar, wer der Zeuge sein muss; Millas blinder Freund, was auf den ersten Blick nicht gerade dafürspricht, dass seine Aussage sehr verlässlich ist.
Doch vor wenigen Minuten hat Bettina eine weitere irritierende Nachricht erhalten: Die Spurensicherung konnte in Langenbergers Haus weder einen Taser noch Spritzen oder Morphin finden. Keine Beweise. Nichts, das auf seine Taten hindeutet.
»Kommst du?«, fragt Sandro.
Bettina blickt auf die Uhr. Langenberger wartet schon im Verhörraum auf sie.
»Einen Moment noch.«
Bettina fragt sich, wo Malou steckt, an ihrem Arbeitsplatz sitzt sie nicht, also ruft sie sie an.
»Malou, hast du schon was von der Asservatenkammer?«
»Ja, die Chefin hier behauptet, es fehle kein Morphin. Ich habe jedoch meine Zweifel, ob sie die Listen korrekt führen, scheint alles ein bisschen chaotisch zu sein hier.«
»Danke.«
Bettina steckt das Telefon weg und folgt Sandro die Treppe nach unten. Als sie die Tür zum Verhörraum öffnet, sieht sie, dass Langenberger wiederum alleine da sitzt. Nach wie vor scheint er auf einen Anwalt zu verzichten.
»Guten Morgen, Kai«, sagt Bettina, obwohl fast schon Mittag ist. Sie sieht ihm an, dass er nicht geschlafen hat. Er sieht schrecklich aus, ganz anders als gestern, als er sehr gefasst und bestimmt wirkte.
»Guten Morgen, Bettina, Sandro.«
In dem Moment tritt auch Staatsanwältin Charlotte Knecht in den Raum. Nach dem gleichen Prozedere wie am Vortag nimmt Bettina die nicht abgeschlossene Einvernahme wieder auf.
»Kai, ich möchte, dass du mir noch einmal näher beschreibst, wie du genau vorgegangen bist.«
»Beim Töten?«
»Ja, bei den Tötungsdelikten.«
»Ich bin immer gleich vorgegangen. Es ist viel einfacher, als man denken würde. Ich habe geklingelt, habe sofort mit dem Taser auf sie geschossen, und als sie zu Boden gingen, habe ich ihnen mit einer Spritze das Morphin verabreicht.«
»Hast du bei Bendicht Kerner auch geklingelt?«
»Nein, dort stand die Tür schon offen.«
»Wir haben in deiner Wohnung keinen Taser gefunden.«
»Ich habe ihn in die Aare geworfen.«
»Warum wirfst du den Taser in die Aare, wenn noch weitere Opfer auf deiner Liste stehen? Du sagtest, du warst noch nicht fertig.«
Kai Langenbergers kurzes Zögern entgeht Bettina nicht.
»Ich habe gemerkt, dass ihr mir näher kommt. Ich wollte kein Risiko eingehen.«
»Wie hättest du dein nächstes Opfer umgebracht?«
»Das weiß ich nicht, ich wollte eine Weile Pause machen, abwarten, bis sich die Aufregung gelegt hat. Ich hätte mir dann wohl einen neuen Taser beschafft.«
»Das gleiche Problem haben wir mit dem Morphin.«
»Welches Problem?«, fragt Langenberger.
»Wir haben in deiner Wohnung keines gefunden. Auch keine Spritzen. Und bei den Asservaten wurde kein fehlendes Morphin festgestellt.«
»In der Asservatenkammer herrscht ein Chaos, man kann dort die Listen selbst korrigieren. Sie merken nicht, wenn etwas fehlt. Das Material, das ich noch zu Hause hatte, habe ich ebenfalls in der Aare versenkt.«
Bettina blättert in ihrem Notizheft, blickt wieder auf, Kai direkt in die Augen.
»Ich möchte noch einmal mit dir über dein Motiv reden.«
»Das habe ich doch gestern schon alles erzählt.«
»Ich möchte trotzdem noch einmal darüber reden. Ich vermisse den persönlichen Bezug. Rachemorde geschehen aus persönlichen Gründen. Aber du warst nicht direkt von den angeblichen Delikten der Männer betroffen. Sie haben Frauen angegriffen.«
»Natürlich war ich persönlich betroffen.« Kais Stimme wird lauter. »Ich habe diese Fälle verloren. Nur weil ich nicht gewinnen konnte, kamen die Männer ohne Strafe davon. Das ist durchaus ein persönliches Motiv. Nennen wir es halt nicht Rache – sondern Wiedergutmachung, weil ich vor Gericht versagt habe.«
Bettina stellt fest, dass sich Kai Langenberger durch ihre Fragen nicht verunsichern lässt – was ihrer eigenen Verunsicherung jedoch keinen Abbruch tut.
»Was hast du gefühlt, als deine Opfer starben?«, fragt sie weiter.
»Befriedigung.«
»Hat dir das Töten Lust verschafft?«
»Nein, so weit würde ich nicht gehen. Es war einfach eine Notwendigkeit.«
»Hat es dir Lust verschafft, die toten Männer auszuziehen und zurechtzumachen?«
»Bettina, ich bitte dich.«
»Was? Du hast diesen Männern eine Socke über den Penis gestülpt und ihnen Frauenschuhe angezogen, das ist doch krank!«
»Ich wollte bloß ein Zeichen setzen – und sicherstellen, dass ihr die Taten als Serie erkennt.«
»Haben die Frauenschuhe an den Männerfüßen etwas mit deiner Vergangenheit zu tun?«
»Du meinst, weil ich ein Transmann bin? Nein. Ich bin ein Transmann, kein Transvestit, der sich verkleidet! Mir war schon mit vier Jahren klar, dass ich ein Junge im falschen Körper war. Ich habe mich nie als Mädchen oder Frau gefühlt, nie. Sobald ich alt genug war, habe ich die Transition durchgeführt. Erst dann fühlte ich mich als der Mensch, der ich bin. Als wäre ich von einer Schwarz-Weiß-Fotografie in der Farbfotografie angekommen. Das ist fünfundzwanzig Jahre her. Meine Geschlechtsumwandlung hat rein gar nichts mit meinen Taten zu tun.«
Bettina nickt, macht sich eine Notiz.
»Kommen wir zu Clemens Eisenschmid.«
»Auch er stand unter meiner Anklage. Auch er wurde freigesprochen. Es war ein Skandal. Und man hat ja gesehen, wozu das beinahe geführt hätte …«
»Du hast uns gestern gesagt, du seist um neun Uhr abends am Mittwoch, 25. Juni, bei ihm zu Hause gewesen und hättest ihn dann umgebracht.«
»Das ist korrekt.«
»Wir haben einen Zeugen, der behauptet, Clemens Eisenschmid nach zehn Uhr noch gesehen zu haben, in Olten.«
Bettina registriert, wie Sandro als auch Staatsanwältin Knecht sie überrascht anblicken. Sie hat ihnen nicht gesagt, dass Sandros Freundin tiefer in diesem Fall mit drinsteckt, als er ahnt. Wahrscheinlich denkt er, dass sie nur blufft.
»Nach zehn?«
»Ja.«
»Dann habe ich mich wohl in der Zeit geirrt. Ich habe draußen gewartet, bis er nach Hause gekommen ist, und bin ihm dann gefolgt. Wahrscheinlich habe ich um neun das letzte Mal auf die Uhr geschaut und danach nicht mehr darauf geachtet.«
»Das klang gestern aber anders. Du hast überzeugt ausgesagt, dass es um neun gewesen sei.«
»Himmelherrgott, Bettina, man kann sich doch auch mal irren!«
Kai Langenberger wirkt zum ersten Mal fahrig, nervös. Bettina blickt zu Sandro, er schaut zu ihr. Ohne dass sie etwas sagen oder auch nur ihre Mimik ändern, wissen sie, dass sie in dieser Sekunde exakt dasselbe denken: Kai Langenberger lügt. Die Frage ist nur, inwieweit – und vor allem: warum?
Die Sekunde der Erkenntnis ist noch nicht vergangen, als es klopft. Wieder werfen sich Bettina und Sandro einen Blick zu. Sandro erhebt sich, geht zur Tür, tritt hinaus und schließt sie wieder hinter sich. Nur, um sie wenig später erneut zu öffnen.
»Bettina, Charlotte, kommt ihr mal?«
Bettina lehnt sich vor und sagt laut: »Protokoll-Notiz: Unterbruch der Einvernahme um vierzehn Uhr dreiundzwanzig.«
Die beiden Frauen erheben sich, Bettina nickt Langenberger zu, fast so, als müsse sie sich entschuldigen, weil sie sich aus einer Besprechung entfernt, und verlässt gemeinsam mit der außerordentlichen Staatsanwältin den Raum.
»Ihr werdet es nicht glauben«, sagt Sandro, als sie die Tür geschlossen hat.
»Was ist passiert?«
»Wir haben eine neue Leiche.«
Bettina schaut Sandro fassungslos an. »In roten Stöckelschuhen?«
»In roten Stöckelschuhen.«